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Schwerpunktbeitrag: Thomas von Aquin über Freiheit und Abhängigkeit

Veröffentlicht am 5. August 2013

Günther Mensching

Die Epoche vom Ende des weströmischen Reiches bis zur Reformation gilt gemeinhin als das Zeitalter der persönlichen Abhängigkeit, der wohlabgestuften Hierarchien und Gefolgschaften. Das Verhältnis von Theologie und Philosophie des Mittelalters scheint diese Ordnung zu spiegeln, wurde doch die Philosophie als Magd der Theologie bezeichnet. Von der Etablierung der Grundherrschaft unter den Karolingern bis zu den Zünften in den Städten des Hoch- und Spätmittelalters ist der Begriff der Freiheit in der Tat nicht im modernen Sinne gebräuchlich gewesen. Vielmehr bezeichnet er, im Plural verwendet, eher Privilegien, die in der mittelalterlichen Gesellschaft konstitutive Bedeutung für die Verhältnisse der Menschen untereinander hatten. Rechte und Freiheiten wurden hoheitlich verliehen und waren nicht allgemeines und gleiches Gesetz. Eben darin besteht, anders betrachtet, geradezu die traditionelle Unfreiheit, gegen die spätere Epochen aufbegehrten. In der Welt der leibeigenen Bauern, der an enge Standesregeln gebundenen Bürger und der zu striktem Gehorsam verpflichteten Kleriker war die Freiheit des Einzelnen, so scheint es, kein praktisch relevantes Thema und folglich auch kein Gegenstand der theoretischen Reflexion. Dies war, so könnte man meinen, erst im Zeitalter der bürgerlichen Freiheitsbewegung das zentrale Interesse des politischen Denkens.
In vielem findet diese Auffassung des Mittelalters immer wieder ihre Bestätigung, so in zahlreichen Urkunden dieser Zeit, die von höheren und minderen Rechten, fraglos geschuldetem Gehorsam und von der Weisungsbefugnis der Oberen gegenüber den Untergebenen reden und die dem entsprechende Gesellschaftsordnung voraussetzen. Auch die servitus, die zuweilen kaum verhüllte Sklaverei, gehört trotz der christlichen Überzeugung von der wesenhaften Gleichheit der menschlichen Seelen zu dieser Ordnung und wird, wenn auch eher versteckt, theoretisch gerechtfertigt. Diese Ordnung abgestufter Unfreiheit scheint geradezu so selbstverständlich gewesen zu sein, daß sie kaum einer Rechtfertigung bedurfte. Allzu deutlich war doch das Gebot der Unterordnung unter den göttlichen Willen, von dem alle christliche Moralphilosophie ausging. Zu Einspruch und Widerstand gegen Unrecht und Ungerechtigkeit bot sie keine Ermutigung.

Neue Freiheiten im Mittelalter
Dieses Mittelalterverständnis macht jedoch die unzutreffende Voraussetzung, daß die große Epoche von etwa tausend Jahren keine wesentlichen Veränderungen im Verhältnis der Menschen untereinander und auch kaum einen dem entsprechenden Wandel des Bewußtseins aufzuweisen habe. Das Bewußtsein der individuellen und kollektiven Freiheit ist jedoch keineswegs mit einem Paukenschlag auf die welthistorische Bühne der plötzlich angebrochenen Neuzeit getreten. Vielmehr gab es eine lange Vorgeschichte, die ins Hochmittelalter zurückreicht. Der wirtschaftliche Aufschwung der Städte und die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert bezeugen bereits ein gestiegenes Maß an Freiheit von herkömmlicher Lebens- und Denkweise, das auch in einem zunehmend weltlichen politischen Selbstverständnis von Theologie und Philosophie sich niedergeschlagen hat.
Die Rechtfertigung der traditionellen Herrschaftsordnung und der ihr immanenten Unfreiheit fordert indessen erst eigene intellektuelle Anstrengung heraus, als dieser Ordo sich in Frage gestellt sah. Die traditionelle Autorität im handfest politischen wie im geistigen Sinne wurde erst zum theoretischen Problem, als das Gefüge der mittelalterlichen Gesellschaft in Bewegung geriet und zudem die geistigen Mittel bereitstanden, politische Probleme mit einem eigenen begrifflichen Instrumentarium zu behandeln. Alte Unfreiheit wurde erst verteidigt, als neue Freiheit vorstellbar oder bereits teilweise wirklich war. Diese Zeit war gekommen, als Ethik und Politik des Aristoteles im lateinischen Westen übersetzt und rezipiert worden waren. Die Legitimation von Unfreiheit war jedoch bei den bedeutendsten Autoren nur die eher implizite Folge ihrer Theorien, die selbst vielmehr neue Freiheit, ja eine neue gesellschaftliche Ordnung in Gedanken antizipierten. Die politischen und rechtstheoretischen Partien des Werkes des Thomas von Aquin liefern hierfür die herausragenden Belegstücke.
Wesentliche geistige Grundlagen für diese über das Mittelalter weit hinausweisende Bewegung waren freilich mehr als hundert Jahre früher geschaffen worden. Die Einführung der dialektischen Methode des logischen Argumentierens in die Theologie, die in der Zeit des Investiturstreites anfänglich gegen heftigen Widerstand der Kirche geschah, hat nicht nur dazu gedient, die Artikel des christlichen Glaubens rational zu begründen, sondern auch die politische Ordnung zu legitimieren. Ohne dies zu wollen, haben die hieran beteiligten Autoren, wie Berengar von Tours und Anselm von Canterbury, freilich mit der dialektischen Methode auch den Geist der Kritik in die Theologie und mittelbar in die politische Theorie eingeführt. Wohl will Anselm allein durch die Vernunft, also ohne Stütze durch die Autoritäten der Tradition, beweisen, daß das menschliche Denken aufgrund der ihm immanenten Logik unausweichlich genötigt ist, das Dasein Gottes, des Prinzips aller Autorität, anzuerkennen, aber der berühmte Beweisgang des „Proslogion“ hebt in einem bis dahin unbekannten Maße die Autonomie der menschlichen Vernunft hervor, die sich des Absoluten aus sich selbst heraus vergewissern kann. Die hierin beanspruchte Freiheit kommt erst sieben Jahrhunderte später ganz zum Bewußtsein.
In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts vollzieht sich in der philosophisch-theologischen Literatur eine regelrechte Wendung zur politischen Theorie, die vorwiegend an Aristoteles orientiert ist. Die Frage nach Freiheit und Abhängigkeit wird in den Texten der Hochscholastik wesentlich konkreter als noch bei Anselm. Die juristische Argumentation, die sich der Schulung im römischen Recht verdankt, läßt die weltlichen Lebensverhältnisse auch in den theologischen Reflexionen plastisch werden. Der klassische Ort, an dem die Frage nach der Legitimität von Herrschaft und Gehorsam abgehandelt und in charakteristischen Nuancen beantwortet wurde, war Distinctio 44 des zweiten Buches der Sentenzenkommentare, die von den Magistern der Theologie an den Universitäten vorgelegt wurden. Darüber hinaus bot die Literaturgattung der Fürstenspiegel, zu der u.a. Vinzenz von Beauvais, Thomas von Aquin und Aegidius Romanus beigetragen haben, Gelegenheit, die Legitimität der Herrschaft darzutun.
Die Argumente, die in diesen Schriften vorgebracht werden, sind zunächst an der theologischen Lehre vom Sündenfall orientiert. Die Herrschaft von Menschen über Menschen, die Notwendigkeit ihrer Über- und Unterordnung entsprang dem Sündenfall, für den sie eine Strafe darstellt. Die ursprüngliche Gleichheit der Menschen im paradiesischen Zustand löste sich nach dem Sündenfall auf. Herrschaft und ihr Gegenstück, die servitus genannte Abhängigkeit, sind jedoch nicht natürliche Bestimmungen der gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, sondern entweder Strafe für den Sündenfall schlechthin, oder Einrichtungen, die dessen Folgen im Stadium des unerlösten irdischen Daseins abmildern sollen. So ist die servitus ein Merkmal nicht der Natur überhaupt, sondern der natura post lapsum.
Daraus ergibt sich eine zwiespältige Stellung zur Frage der persönlichen Abhängigkeit. Aristoteles, dessen Theorien auch hier gewollt oder unwillkürlich Vorbilder sind, hatte die Sklaverei als eine Natureigenschaft von Menschen erklärt und sich damit in einen unaufgelösten Gegensatz zu seiner eigenen Lehre vom Menschen als einem animal rationale gebracht. Die hierin liegende essentielle Gleichheit der Menschen kontrastierte der These, die Sklaven seien von Natur aus sprachbegabte Instrumente für die Herren[1]. Die mittelalterlichen Aristoteliker des 13. Jahrhunderts haben diese Lehre nicht übernehmen können, denn sie stand der christlichen Überzeugung von der wesenhaften Gleichheit der Menschen entgegen. Dennoch wird deshalb nicht die servitus schlechthin verworfen, aber sie wandelt ihre Bedeutung. Die Ungleichheit der Menschen in ihrer rechtlichen Stellung wird nun als eine Besonderheit der weltlichen Ordnung gesehen, die in der civitas terrena notgedrungen bis zur erhofften Erlösung gelten muß.

Bonaventura: Unfreiheit als Folge des Sündenfalls
Bonaventura, Zeitgenosse und franziskanischer Gegenspieler des Dominikaners Thomas von Aquin, hat die Einrichtung von Herrschaft und die ihr entsprechende Unfreiheit in gerechte und ungerechte eingeteilt. Die erstere ist insofern legitim, als sie nach göttlichem Gebot die Ordnung der weltlichen Gesellschaft aufrechterhält. Die zweite, die durch Gewalt oder List errungen und erhalten wird, ist zwar dem göttlichen Gebot zuwider, aber der äußeren Ungerechtigkeit wohnt Bonaventura zufolge doch womöglich eine „pulchra ordinatio interius secundum divinum judicium“ inne, welche „frequenter est occultum, nunquam tamen injustum.“[2]
Bonaventura folgt im übrigen der traditionellen Auffassung, daß dominium und servitus auch in ihren unerträglichen Formen zum Status der Menschheit nach dem Sündenfall gehören, wenn auch nicht zur Natur schlechthin im Sinne des Aristoteles. Sie wird im status gloriae, also nach der Erlösung, auch nicht erhalten bleiben. Als potestas coercendi subditos entspricht „Herrschaft nur dem Status der gefallenen Natur: sie ist [dem Menschen] inne gemäß der Strafe für die Schuld, nicht aufgrund der Einrichtung der Natur, und zwar deshalb, weil die ihr entsprechende Knechtschaft (servitus), nach dem was die Heiligen sagen, die Strafe für die Sünde ist. Und weil wir hier auf diese Weise von der Herrschaftsgewalt reden, deshalb sind die Gründe anzunehmen, welche beweisen, daß diese Gewalt dem Menschen nicht im Status seines ursprünglichen Geschaffenseins inne ist oder im Zustand der von Gott geschaffenen Natur.“[3]

Thomas von Aquin: naturrechtlich begründete Unfreiheit …
Thomas von Aquin hat die Unfreiheit nicht aus der Lehre vom Sündenfall hergeleitet. Seine Argumentation ist vielmehr im Gegensatz zu Bonaventura und den traditionellen Theologen durchweg juristisch. Sie läßt sowohl die Rezeption des römischen Rechts wie die der praktischen Philosophie des Aristoteles erkennen. Zwar ist auch für Thomas die Herrschaft ein Merkmal der menschlichen Gesellschaft nach dem Sündenfall, aber dies dient ihm nicht dazu, die politische und ökonomische Unfreiheit der Menschen als heilsnotwendige Strafe zu deuten. Vielmehr erklärt er die Faktizität von Herrschaft aus dem Naturrecht, dessen ausgeführte Systematik er als erster entwickelt hat. Danach sind dominium und servitus nicht unmittelbar göttlichen Ursprungs, sondern genügen allenfalls dem ius positivum, das von Menschen eingerichtet ist. Dessen Norm ist zwar letztlich die göttliche lex aeterna, deren Ausdruck das ius naturale ist, aber die Menschen haben in der Gestaltung ihrer konkreten Rechtsverhältnisse einen freien Spielraum, den sie nach Gesichtspunkten profaner Zweckmäßigkeit gestalten können. Insofern ist Thomas keineswegs der Apologet eines kirchlich reglementierten Gottesstaates, vielmehr weist seine Rechtslehre in vielem geradezu moderne rechtsstaatliche Momente auf. So muß Thomas zufolge ein Gesetz mit allgemeiner Geltung auch hinreichend veröffentlicht sein, und nur nach dem kodifizierten Gesetzestext darf ein gerichtliches Urteil ergehen. Die Partien über Recht und Gerechtigkeit in der Secunda secundae der Summa theologiae ließen sich hier zitieren.
Die Frage der Freiheit beschränkt sich bei Thomas also nicht auf die der Determiniertheit oder Indeterminiertheit des menschlichen Willens in einzelnen Akten, vielmehr bezieht sie den objektiven politischen und rechtlichen Rahmen ein, innerhalb dessen die moralisch relevanten Handlungen stattfinden. Freiheit ist durch einen rechtlich geregelten politischen Zustand zu sichern, dessen Grundlagen Thomas in seinen Reflexionen zum Naturrecht dartut.
Aber die Erkenntnis des Naturrechts ist dennoch nicht eine bewußt vollzogene Unterwerfung unter ein heteronomes Diktat, vielmehr schließt sich der menschliche Verstand mit einem ihm wesensgleichen Gegenstand zusammen. In der Unterwerfung unter das Gesetz, das Thomas dictamen rationis nennt, bindet sich der menschliche Wille vermöge des Verstandes an Regeln, die für ihn wesenskonstitutiv sind. Hierin liegt ein Element der Kantischen Lehre von der Autonomie, wenn auch Thomas nicht davon redet, daß der Gehorsam gegenüber dem aus Freiheit selbst gegebenen Gesetz besteht. Sind somit die Prinzipien des Rechts und der Moral mit denen der Vernunft gegeben, über die jeder Mensch verfügt, so bedürfte es im Grunde nicht der Sanktionsgewalt des Staates, denn die Vernunft kann sich nicht selbst negieren. Dies ist eine Implikation der Thomasischen Naturrechtslehre, die bald nach seinem Tode aufgegeben wurde zugunsten einer voluntaristischen Rechtskonzeption, die den Willen Gottes als die norma honestatis verstand, deren Instrument die Vernunft allenfalls sein konnte.
Die Regeln des Naturrechts, die mit dem Dekalog offenbart wurden, laufen auf die oberste Definition des Rechtes hinaus: „Das Gesetz ist nichts anderes als eine Anordnung der Vernunft im Hinblick auf das Gemeingut, erlassen und öffentlich bekanntgegeben von dem, der die Sorge für die Gemeinschaft innehat.“[4] An diesem Kriterium bemißt sich auch, ob ein empirisches Gesetz, das als solches der lex humana zugehört, seiner naturrechtlichen Norm und damit letztlich der lex aeterna entspricht. Dies ist dann nicht der Fall, wenn ein tyrannischer Herrscher nur sein eigenes Wohl oder das seiner partikularen Hausmacht verfolgt. Einer solchen Herrschaft gegenüber steht den Beherrschten auch das Recht auf Widerstand zu, denn der Fürst verstößt in diesem Falle gegen das Kriterium des Rechts, auf das bonum commune gerichtet zu sein.

… ist nur legitim im Hinblick auf das Gemeinwohl
Das bonum commune ist das inhaltliche Ziel allen Rechts und der Gesellschaft. Hierin unterscheidet sich die Thomasische Rechtskonzeption von dem neuzeitlichen Formalrecht: „Es ist nämlich klar, daß alle, die einer Gemeinschaft angehören, zu dieser Gemeinschaft sich verhalten wie die Teile zum Ganzen. Der Teil aber ist nach allem was er ist, des Ganzen; deshalb kann auch jegliches Gut des Teiles auf das Ganze hingeordnet werden. Demnach kann also das Gut jeglicher Tugend, sei es jener, die den Menschen zu sich selbst ordnet, sei es jener, die seine Beziehung ordnet zu irgendwelchen anderen Einzelpersonen, in Beziehung gesetzt werden zum Gemeinwohl, worauf die Gerechtigkeit sich ausrichtet.”[5] Das bonum commune läßt in der Thomasischen Theorie kein Privileg zu. Daher ist diese Konzeption ihrer Zeit bereits voraus. Sie läßt sich unter Rückgriff auf die zeitgenössischen Standesvorrechte nicht begründen, steht zu ihnen gar in Gegensatz. Vielmehr verweist die Theorie schon auf eine historische Entwicklungsphase, in der demokratische Rechte erkämpft waren. Die Herrschenden werden von Thomas als Geschäftsführer der dem Gesetz Unterworfenen verstanden, zu denen sie auch selbst gehören. „Das Gesetz betrifft zuerst und grundsätzlich die Hinordnung auf das Allgemeinwohl. Etwas zum Allgemeinwohl anordnen ist deshalb entweder Sache der gesamten Bevölkerung (totius multitudinis) oder die Sache desjenigen, der die Geschäfte der gesamten Bevölkerung führt. Gesetze zu geben ist so Aufgabe der gesamten Bevölkerung oder der öffentlichen Person (persona publica), die für die gesamte Bevölkerung sorgt, denn auch in allen übrigen Dingen ist die Hinordnung auf ein Ziel hin Angelegenheit desjenigen, dessen eigenes Ziel es ist.“[6]
Nach der Orientierung der bis ins 13. Jahrhundert ganz vorwiegend augustinisch geprägten Theologie war die civitas terrena die Folge der Erbsünde und verdiente deshalb, jedenfalls den Theorien zufolge, keine besondere Zuwendung und sollte bis zur Erlösung der Menschheit nur so eingerichtet sein, daß sie der Entwicklung der civitas dei nicht im Wege stand. Demgegenüber ist die Thomasische Theorie eine große und über ihre Zeit hinausweisende Neuerung. Sie eröffnet die Perspektive einer weltlichen politischen Theorie, die dennoch auf die Metaphysik gestützt ist. Da die Menschen als Vernunftwesen gleich sind, bedürfte es der Herrschaft nicht, wenn alle dieser Natur folgten. Die servitus leitet sich also nicht aus der Natur schlechthin ab. Sie ist als gesellschaftliche Unterordnung allenfalls von Nutzen, um das bonum commune zu befördern, in dem auch das Wohl der servi eingeschlossen ist. Sie werden so nicht als Sklaven im Sinne des Aristoteles betrachtet, sondern eher als Schutzbefohlene der Stärkeren und Klügeren, die für sie Verantwortung tragen. Diese persönliche Abhängigkeit ist wohl mit der Natur gegeben, nach der die Individuen einander in kontingenter Weise ungleich sind. Aus dem metaphysischen Wesen kann sie aber nicht abgeleitet werden. „Daß dieser Mensch eher Sklave (servus) ist als ein anderer, hat, in sich betrachtet, keinen natürlichen Grund, sondern besteht nur aufgrund einer sich ergebenden Nützlichkeit, insoweit es diesem zukommt, von einem weiseren gelenkt zu werden, und jenem, daß ihm von einem solchen geholfen werde.“[7] Ist diese Voraussetzung gegeben, dann gilt freilich für den Abhängigen eine strikte Verpflichtung zum Gehorsam, der sich aber wiederum nur auf die äußeren Akte, nicht auf die innere Gesinnung erstreckt. „Die Abhängigkeit (servitus), durch die ein Mensch einem anderen unterworfen ist, bezieht sich nur auf den Körper, nicht auf die Seele, die frei bleibt.“[8] Thomas hat also wohl die zu seiner Zeit allgemein wirkliche persönliche Abhängigkeit der Unfreien in seine Reflexionen aufgenommen, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen, aber die seelische Versklavung hat er strikt verneint.
Die Subsidiarität um des bonum commune willen begründet nach Thomas erst die eigentliche Freiheit, die mit der Herrschaft der Vernunft identisch ist. Daraus folgt für Thomas schon in seinem frühen Sentenzenkommentar, daß die persönliche Abhängigkeit der servitus nicht als Mittel zum Vorteil des Herren benutzt werden darf. Nur zum wechselseitigen Nutzen darf es servitus und praelatio oder dominium geben. „Wie der Philosoph (Aristoteles) sagt, richtet ein König seine Herrschaft am Wohl des Volkes aus, dem er vorsteht, indem er zu dessen Nutzen Ordnungen und Gesetze macht; ein Tyrann aber richtet seine Herrschaft auf seinen eigenen Nutzen hin; daher unterscheiden sich die beiden Arten von Herrschaft darin, daß in der ersteren das Wohl der Untergebenen angestrebt wird, in der zweiten aber das Wohl des Herrschenden.“[9]

Conclusio
In diesem Zusammenhang übt Thomas Kritik an Aristoteles, dessen Theorie er doch auch hier aufgenommen hat. Danach ist der Sklave ein beseeltes Werkzeug und als solches ein Besitzstück seines Herrn[10]. Dem widerspricht Thomas, indem er ein Motiv prägt, das in der Kantischen Moralphilosophie zentral wurde und bis heute der Diskussion um die menschliche Würde und die Bestimmung der Person vorgeordnet ist. Von Natur aus, d.h. von der von Gott geschaffenen Ordnung her ist kein Mensch das Mittel eines anderen und folglich auch nicht dessen Besitzstück, denn er ist ein vernünftiges Lebewesen und kann sich deshalb selbst bestimmen. „Aber das vernünftige Geschöpf ist in seinem Wesen nicht auf ein anderes als seinen Zweck hingeordnet, als Mensch auf einen anderen Menschen.“[11] Wie später bei Kant darf ein Mensch von einem anderen niemals nur als Mittel, sondern muß als Zweck an sich selbst behandelt werden. Das Verhältnis der Über- und Unterordnung bestimmt Thomas letztlich seiner Lehre vom Primat des Intellekts gemäß nach dem kontingenten Maß der Intelligenz und Einsicht[12]. Daraus aber leitet sich kein Naturrecht auf Herrschaft her.
Thomas nimmt gegenüber der gesellschaftlichen Unfreiheit eine Stellung ein, die in vielem der modernen Überzeugung entspricht, nach der persönliche Abhängigkeit als Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte gelten muß. Die ideologische Rechtfertigung von Unmündigkeit und Gewalt, die man zuweilen bis heute dem mittelalterlichen Denken zur Last legt, hat es jedenfalls bei ihm und anderen bedeutenden Repräsentanten der Hochscholastik nicht gegeben. Es läßt sich vielmehr zeigen, daß die Theologie, spätestens von dem Stadium an, in dem die Autorität nicht mehr das entscheidende Argument für die Dogmatik darstellt, das europäische Denken auf den langen und in der Neuzeit auch rückläufigen Weg zum Bewußtsein der Freiheit bringt.

Anmerkungen:
1 Cf. Aristoteles, Politik, I, 2-6 (1252a- 1255b)
2 Bonaventura, In II. Sent, d. 44, a. 2, qu. 1.
3 Bonaventura, l.c., qu. 2. Tertio vero modo potestas dominandi in homine est solum secuindum naturae lapsae stratum: inest enim ei secundum culpae punitionem, non secundum naturae institutionem: et hoc, quia servitus sibi correspondens, secundum quod dicunt sancti, est poena peccati. Et quia isto modo loquimur hic de potestate dominandi, ideo concedendae sunt rationes ostendentes quod talis potestas non inest homini secundum primariam conditionem suam, sive secundum statum naturae institutae.
4 Thomas von Aquin, S. th., I-II, qu. 90, a. 4 c.
5 Thomas von Aquin, S. th., II-II, qu. 58, a. 5 c.
6 Thomas von Aquin, S. th. I-II, qu. 90, a. 3, c. Lex proprie primo et principaliter respicit ordinem ad bonum commune. Ordinare autem aliquid in bonum commune est vel totius multitudinis vel alicuius gerentis vicem totius multitudinis. Et ideo condere legem vel pertinet ad totam multitudinem, vel pertinet ad personam publicam quae totius multitudinis curam habet; quia et in omnibus aliis ordinare in finem est eius cuius est proprius ille finis.
7 Thomas von Aquin, S. Th., II-II, qu. 57, a. 3, ad 2. Quod hunc hominem esse servum, absolute considerando, magis quam alium, non habet rationem naturalem, sed solum solum secundum aliquam utilitatem consequentem, in quantum utile est huic quod regatur a sapientiori, et illi quod ab hoc iuvetur.
8 Cf. S. th., II-II, qu. 104, a. 6, ad 1.:Servitus qua homo homini subjicitur, ad corpus pertinet, non ad animam, quae libera manet.
9 Thomas von Aquin, In IV. Sent, d. 44, qu. 1, a. 3c. Ut Philosophus dicit, quia rex ordinat praelationem suam ad bonum gentis cui praeest, propter eius utilitatem statuta et legem faciens : tyrannus autem praelationem suam ordinat ad utilitatem proprium; et ideo duplex modus praelationis supradictus in hoc differt, qia in primo intenditur bonum subditorum, in secundo bonum praesidentis.
10 Aristoteles, Politik, 1. Buch, 4. u. 5. Kap. (1254 a-b)
11 Thomas von Aquin, In IV Sent. D. 44, qu.1, a. 3.c. Sed creatura rationalis, quantum est de se, non ordinatur ut ad finem ad aliam, ut homo ad hominem.
12 L.c.

Günther Mensching ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Hannover.

Erstveröffentlichung in FIPH-Journal Nr. 4 (Herbst 2004), S. 1 und 3-5.

(c) Günther Mensching

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1 Kommentar

  1. Man sollte vielleicht hinzufügen, dass in der heutigen Rechtswissenschaft diese interessante Herleitung ihren gegenwartsbezogenen, differenzierten Ausdruck hat.
    Die Lehren des Aristoteles sind weitestgehend unverändert als Verwaltungswissenschaften in das öffentliche Recht aufgegangen ( Verwaltungs- und Verfassungsrecht). Öffentliches Recht regelt die Rechtsverhältnisse zwischen Bürger und Staat.
    Inwieweit menschliche Freiheiten gewährleistet und auch beschränkt werden können, findet sich in den sog. Grundrechten, das sind die Artikel des Grundgesetzes 1 bis 19. In den Gesetzessammlungen wird man allerdings aus Gründen der Übersichtlichkeit lediglich schlaglichtartige Kodifizierungen vorfinden, die an anderer Stelle ausführlich kommentiert sind.
    Vielleicht soviel: Die Grundrechte, (z.B. die Freiheit) können immer auch beschränkt werden, selbst wenn sie im Wortlaut der Norm unbeschränkt Geltung beanspruchen. Dies gilt dann, wenn sie gegenseitig kollidieren. Verkürzt gesagt, kann das oben erwähnte „bonum commune“ bei der Lösung einer Kollision als Kriterium herangezogen werden.
    Das römische Recht ist zu großen Teilen erhalten und in das heutige Privatrecht.eingeflossen. Privatrechtlich bedeutet in diesem Zusammenhang, Rechtsverhältnisse zwischen gleichberechtigten Bürgern ( z.B. Miete, Kauf, Schenkung usw.). Grüße

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