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InDebate: Das Volk als Zuschauer, Politik als Ereignis – Ocular Democracy und die „Seh-Stärke“ des demokratischen Souveräns

Veröffentlicht am 7. Oktober 2013

Solongo Wandan

Die politische Laufbahn des Ex-Premierministers Silvio Berlusconi scheint in diesen Tagen vor dem endgültigen Ende zu stehen. Italiens skandalträchtiger „Cavaliere“ droht der Senatsausschluss, Politikverbot sowie eine Haftstrafe. Ungefähr zur gleichen Zeit zwingt die chinesische Regierung den regimekritischen und gegenwärtig inhaftierten Blogger Charles Xue zu einer öffentlichen Abbitte vor laufender Kamera. Das im chinesischen Staatsfernsehen gesendete Video zeigt Xue selbstkritisch; seiner „Aussage“ zufolge mache das Internet süchtig und er habe seine kritischen Kommentare über Umweltverschmutzung, Lebensmittelsicherheit und Kinderarmut in China nicht vorab überprüft.

In diesen zwei so unterschiedlichen Episoden verdeutlicht sich ein Zustand moderner Politik, in dem das Bild des autonom Handelnden durch das des passiv-zuschauenden Bürgers ersetzt wird. Die Mehrheit der Bevölkerung eines Staates ist weder politisch aktiv noch völlig apathisch, sondern fällt in die Kategorie des sogenannten „nicht-partizipativen politischen Engagements“. Italiens Bevölkerung verfolgt, mit Ausnahme des Wahltags, die Eskapaden Berlusconis bis in das intimste Detail über Presse- und mediale Berichterstattung. Die inszenierte Videoausstrahlung im chinesischen Fernsehen versucht den Durchschnittsbürger ideologisch zu vereinnahmen und auf Linie zu bringen. Diese nicht-partizipativ engagierten Bürger, 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung, nehmen an der alltäglichen Politik größtenteils als Zuschauer teil, sie verfolgen Politik in den Medien, und verfügen durchaus über Wissen und Interesse an der Politik.

Laut dem Politikwissenschaftler Jeffrey Green wurde diese passive Mehrheit normaler Bürger (ordinary citizens), die vorwiegend mittels ihrer Augen, also beobachtend, mit ihrer Regierung in Verbindung tritt, von der Demokratietheorie bisher ignoriert. In seinem 2010 erschienenen Buch The Eyes of the People: Politics in the Age of Spectatorship versucht Green die alltägliche politische Erfahrung dieser normalen Bevölkerungsmehrheit demokratietheoretisch zu erfassen und eine eigene ethisch-kritische Dimension zu verleihen. Klassische Theorien wie der Pluralismus, deliberative und repräsentative Demokratietheorien basieren Green zufolge auf einem stimmlichen Modell der (vocal model) Volkssouveränität. Die Macht des Volkes (popular power) äußert sich in dem Ideal der Autonomie, d.h. Demokratie bedeutet Selbstregierung durch Selbstgesetzgebung: Gesetze haben nur dann Gültigkeit, wenn der Volkssouverän an deren Gebung beteiligt war.

Dass aufgrund der empirischen Realitäten moderner Massendemokratien dieses Ideal der Autonomie nicht realisiert werden kann, ist das zentrale Dilemma der Demokratietheorie. Während bestehende Theorien die Lösung in einer steten Annäherung an das utopische Ideal sehen, entwickelt Green einen nüchternen und realistischen Gegenentwurf, mit dem Ziel, die politische Erfahrung der Mehrheit – nämlich passiv regiert zu werden anstatt aktiv selbst zu regieren, Politik zu verfolgen anstatt selbst zu gestalten – ernst zu nehmen. Kernelemente dieser Theorie sind ein plebiszitäres Demokratiekonzept und ein auf das Sehen konzentriertes Modell (ocular model) der Volkssouveränität. Angelehnt an Michel Foucaults und Sartres Ideen erarbeitet Green das Konzept des Blicks (gaze), der dem Betrachtenden eine Machtposition gegenüber dem Betrachteten verleiht. Der Blick ist also mehr als reines Sehen; es handelt sich vielmehr um eine emanzipierende, machtgefüllte Form des Schauens und Beobachtens.

Übertragen auf das Volk, kann dieser Blick (popular gaze) als kritische Überwachung von Regierungshäuptern laut Green eine Form von Machtausübung sein. Traditionelle Volkssouveränität, verstanden als die Macht, durch Wahlen und Meinungsäußerungen über Gesetze zu entscheiden, wird durch Überwachungsmacht in der Form des Volksblickes auf Entscheidungsträger abgelöst. Kritisches Ideal der Demokratie ist damit nicht mehr die Autonomie, sondern die Aufrichtigkeit (candor). Institutionell verstanden, entsteht Aufrichtigkeit überall dort, wo Machthaber nicht in der Lage sind, die Herstellung ihrer öffentlichen Wahrnehmung zu kontrollieren oder zu manipulieren. Sie entsteht, wenn Machthaber in der Öffentlichkeit auftreten (public appearances) und sich dem Risiko und der Unsicherheit spontaner öffentlicher Ereignisse (event oder spectacle) aussetzen, z.B. in TV-Duellen zwischen Kandidaten oder Interviews mit kritischen Journalisten. Mit diesem Ideal des candor kann das Verhältnis zwischen Machthabern (leaders) und Zuschauern (spectators) einer moralisch-kritischen Bewertung unterzogen werden: Es wird möglich, zwischen besseren und schlechteren, manipulierten und wahrhaftig spontanen Auftritten zu unterscheiden.

Greens post-repräsentative Demokratietheorie ist ein konzeptionell anspruchsvoller Versuch, der alltäglichen politischen Erfahrung normaler Bürger, die eben öfter reine politische Zuschauer denn politisch Handelnde sind, eine ethische Dimension und theoretische Anerkennung zu verleihen. Green richtet unser Augenmerk auf einen wichtigen Unterschied, der von bestehenden Demokratietheorien bisher ignoriert wurde: der zwischen direkter Partizipation einerseits und politischem Engagement in dem Sinne von Interesse und Wissen über Politik andererseits. Greens Ocular Model ist damit besser als andere Entwürfe in der Lage, die für heutige Zeiten so häufige Verbindung von niedriger aktiver politischer Teilhabe und starkem politischen Interesse zu erfassen.

Ein zentrale Frage bleibt in seinem Entwurf jedoch unbeantwortet. In welchem Verhältnis steht ocular democracy zu dem auf das Sprechen und Handeln der Bürger ausgerichteten Demokratiemodell? Löst der stille, aber kritische Volksblick das Volk als Gesetzgeber und Wähler ab? Oder ist diese visuelle Dimension demokratischer Politik eine zusätzliche Dimension, die jedoch immer auf die vorhergehende Herstellung verbindlicher Repräsentationsbeziehungen zwischen Volk und den durch Wahlen legitimierten Entscheidungsträgern angewiesen bleibt? Die eingangs vorgestellten Beispiele illustrieren dieses Problem. Im Falle Italiens zeigt sich, dass ein kritischer Volksblick im Greenschen Sinne durchaus kontrollierend wirken kann, gerade weil Machthaber eine Abwahl fürchten müssen. Im chinesischen Einparteienstaat, in dem die demokratische Rückbindung und damit die Kontrollfunktion zwischen Volk und Entscheidungsträgern (reguläre freie Wahlen) ausgehebelt ist, kann man sich nur schwer vorstellen, wie die Konditionen (nicht-manipulierte öffentliche Auftritte) für einen wirkmächtigen popular gaze entstehen können. Zwar erhöhen die neuen Medien in der Form von Blogs, Twitter usw. die Chancen für eine unverstellte Beobachtung der Politik durch das Volk. Ohne die Verbindung des kritischen Blicks mit aktivem politischen Handeln wird das Volk jedoch nur Zuschauer bleiben.

Solongo Wandan war von Oktober 2013 bis Juli 2014 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Nähere Informationen zu ihrer derzeitigen Tätigkeit finden Sie hier.

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3 Kommentare

  1. Vielen Dank für den sehr interessanten Beitrag. Das Thema „ocular democracy“ wird hierzulande bislang so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen. Wie verhält sich aber das Konzept einer ocular democracy zum Befund einer video-politics (Sartori)? Übt der Bürger/die Bürgerin die Macht des Zuschauens aus oder wird diese nicht längst schon von einer Medien-Elite ausgeübt? Ist der Bürger bloßer Voyeur oder in der Tat jemand, der sich seiner Zuschauer-Macht bewusst ist?

    • Vielen Dank für Ihren Kommentar und den Hinweis auf Giovanni Sartori’s „video power“-Idee. Ich habe soeben seinen 1989 erschienen Artikel „Video-Power“ (erschienen in der Zeitschrift „Government and Opposition“) gelesen und sehe interessante Parallelen aber auch Unterschiede zu Greens Konzept. Erstaunlicherweise taucht Satoris Artikel nicht in Greens Buch auf; man findet keinen Verweis auf den Artikel im Text oder in der Bibliographie. Demnach würde ich davon ausgehen, dass Green Sartoris Konzeptionalisierung ihm bei seinem eigenen Entwurf unbekannt war.

      In seinem Artikel spricht Sartori tatsächlich vom „ocular man“, dessen politische Meinungen gänzlich von Fernsehinhalten und bewegten Bildern beeinflusst ist, und deshalb sehr stark von Eliten beeinflussbar und manipular ist. Sartori steht diesem „ocular man“ und der video-power die durch ihn ausgeübt werden kann, sehr skeptisch gegenüber und sieht in ihnen keine Möglichkeiten für die Entwicklung einer Kritik- oder Überwachungsfähigkeit durch die Bürger. Im Unterschied zu Green, hält Sartori an der „stimmlichen Ausübung“ (vocal model) von Volkssouveränität fest, also dem klassischen Ideal der demokratischen Autonomie, demzufolge Bürger an Gesetzgebung und politischen Entscheidungen beteiligt sein müssen, damit diese (demokratisch) legitim sind. Deshalb beklagt er in seinem Artikel auch den Verfall der Qualität der öffentlichen Meinung und die Reduzierung komplexer Zusammenhänge auf kurze Videobeiträge und Bilder. „Public opinion“ und Wahlen sowie deren Auswertung (falls nicht manipuliert durch video-power) geben – im Sinne des klassichen Demokratiemodells – Auskunft über was „das Volk“ will und wie dessen gewählte Vertreter entscheiden sollen.

      Green hingegen bricht mit dieser Annahme, da es für sein Konzept überhaupt keine Rolle spielt was das Volk will, da die relevante Mehrheit sowieso nie an Entscheidungen beteiligt ist. Die regierten-Bürger „wollen nichts“ und entscheiden über nichts konkretes, sondern überwachen kritisch. An diesem Punkt treffen sich Sartoris und Greens Ideen wieder: beide Autoren sind besorgt über manipulierte und verzerrte öffentliche Auftritte/Darstellungen von Eliten. Für Sartori ist jedoch das Fernsehen grundsätzlich mangelhaft für (gute) öffentliche Meinungsbildung und verzerrt die Auswertung des Volkswillens. Für Green hingegen sind Medien keine Mittel um den Volkswillen zu erfragen, sondern um das Volk zu befähigen dessen Blickmacht auszuüben. Fernsehen kann dies leisten wenn die Auftritte von Eliten authentisch und nicht manipuliert sind (candid).

      Interessant ist auch, dass Sartori zwischen Fernsehen und Printmedien unterscheidet. Zeitungen und das regelmäßige Zeitungslesen sind für ihn immer noch Wege der Manipuliertbarkeit durch bewegte Bilder zu entkommen. Für Green scheint der Unterschied zwischen sehen und lesen nicht wichtig zu sein. Jegliche Form der Informationsverbreitung bzw. „Überwachungsmöglichkeit“ – TV, Radio, Internet – scheinen in der Lage zu sein Blick-Macht zu erzeugen.

  2. Kommentar von S. Schäller (TU Dresden):
    „Schöner Artikel. Welchen Status hat bei Green die vielbeschworene Vernünftigkeit, die durch Kommunikation in die politischen Entscheidungsprozesse einsickern soll? Gibt es dazu analog auch etwas für den ‚Blick‘?“

    Vielen Dank für Deine Frage, Steven. Diese Art von Vernünftigkeit die Du ansprichst spielt für den kritischen Volksblickes keine Rolle und es gibt, meiner Meinung nach, kein ähnliches regulierendes Prinzip für dessen Ausübung. Ocular democracy konzentriert sich auf den regierten-Bürger (citizen-being-ruled) oder Bürger-Zuschauer (citizen-spectator), der für ihn eine Mittelposition zwischen dem regierenden-Bürger (cititzen-governor), also der, der tatsächlich politische Entscheidungen trifft und sich aktiv beteiligt, und dem komplett apolitischen Bürger, einnimmt.
    Diese regierte Bürgerschaft stellt nicht nur empirisch die Mehrheit sondern deren politische Erfahrung ist als einziges in der Lage „das Volk“ in seiner Kollektivität konzeptionell zu erfassen. Bestehende Demokratietheorien haben sich von dieser Möglichkeit – the people als Ganzes zu verstehen – entweder gänzlich verabschiedet oder extrapolieren, fälschlicherweise, die politische Erfahrung einer Minderheit auf die des gesamten Volkes. Teil ersterer Gruppe sind für ihn insbesondere pluralistische Ansätze die von vornherein von der Herrschaft unterschiedlicher und miteinander in Konflikt stehender Minderheiten ausgehen. Teil letzterer Gruppe sind für ihn deliberative Demokratietheorien, welche die Prinzipien rationaler Entscheidungsfindung als universell politische Prinzipien für alle Bürger deuten und dabei über den Fakt hinwegtäuschen, dass Gesetze und Regeln eben nur von einigen wenigen entschieden wird. Entscheidungsrationalität kann daher nur relevant für diejenigen wenigen sein, die citizen-governors und tatsächlich an Entscheidungen beteiligt sind.
    Politische Entscheidungen und Gesetzgebung (und die dafür nötige Vernünftigkeit) sind für ihn keine Kategorien von Volkssouveränität. Das Volk im Kollektiv entscheidet nicht über Gesetze sondern überwacht und beobachtet Entscheidungsträger. Dieser kritische Volksblick kann jedoch nur dann eine Form der Machtausübung sein, wenn Machthaber ihre öffentliche Wahrnehmung nicht kontrollieren oder manipulieren können. Wenn ihre Auftritte spontan und aufrichtig sind, dann hat das Volk die Möglichkeit Machthaber zu kontrollieren und ihr Verhalten und ihre Entscheidungen zu disziplinieren. Die stetige Beobachtung und Disziplinierung die mit kritischer Beobachtung (im Foucaultschen Sinne) einhergeht, so die implizite Erwartung, kann zu einer Verbesserung des politischen Verhaltens von Machthabern führen.
    Es wird in seiner Arbeit jedoch nicht klar ob sich ein negativer Volksblick von einem unterstützenden unterscheidet und wie, und ob, wir den Einfluss dieses Blickes messen können. Es scheint, dass Eliten durch das reine Wissen darüber, dass das Volk in Fernsehen, Zeitung und Radio (neuere Medien oder social media werden bis auf wenige Erwähnung des Internets, nicht diskutiert) zuschaut, in ihrem Handeln kontrolliert werden.

Beitragsthemen: Demokratie | Macht | Politik

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