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Pro und Contra: Lässt sich heute noch sinnvoll vom Subjekt reden?

Veröffentlicht am 4. November 2013

Pro: Peter Zima

Die Etymologie des Wortes hypokeimenon / subiectum, das sowohl „Zugrundeliegendes“ als auch „Unterworfenes“ bedeuten kann, lässt die Vermutung aufkommen, dass auch dem Begriff diese Ambivalenz anhaftet. Diese Ambivalenz macht sich im interdisziplinären Kontext bemerkbar, wenn das Subjekt-Problem aus philosophischer, soziologischer, semiotischer und psychologischer Sicht betrachtet wird, wobei es es als zugleich determiniert und autonom, heterogen und homogen in den Blick kommt.

In der idealistischen Philosophie – von Descartes bis Kant und Fichte – erscheint das Subjekt vorwiegend als ahistorische, individuelle, denkende Instanz (cogito, „ich denke“), von deren gesellschaftlichen, psychischen und sprachlichen Determinanten abstrahiert wird. Erst Hegel führt systematisch historisierte Kollektivsubjekte ein (Volksgeister, Weltgeist, als Erbe des aristotelischen nous), die später Marx im historisch-materialistischen Kontext als „Klassen“ konkretisiert. An ihn knüpfen direkt oder indirekt verschiedene soziologische Theorien an, die das Subjekt als „Klasse“, „Bewegung“, „Organisation“ oder „Gruppe“ konzipieren und die Interaktion von kollektiven und individuellen Subjekten untersuchen: etwa Alain Touraine in seiner sociologie de l’action, in der es um die Beziehungen zwischen individueller und kollektiver Subjektivität der Bewegung geht.

Vor allem die Erfahrungen der Soziologie (Touraine, Giddens, Beck, Homans) zeigen, dass individuelle Subjektivität nicht unabhängig von kollektiver Subjektivität als „Gruppe“, „Organisation“, „Institution“ oder „Bewegung“ zu verstehen ist. Kollektive Subjektivität kann zwar individuelle Subjekte vereinnahmen und sie in ihrer Autonomie bedrohen, sie bietet ihnen aber auch Rückhalt (etwa als „Bewegung“: Touraine). Wie dies geschieht, zeigt die Semiotik von Algirdas Julien Greimas, indem sie Begriffe wie Subjekt-Aktant und Objekt-Aktant einführt und die Interaktion zwischen individuellen, kollektiven und mythischen Subjekt-Aktanten untersucht. Dabei zeigt sich, dass z.B. das Handeln individueller und kollektiver Aktanten oft von mythischen Aktanten (Gott, Geschichte, Schicksal, Revolution) gesteuert oder gestützt wird. In der Psychoanalyse kann es auch von infra-individuellen Aktanten wie dem „Unbewussten“ oder dem „Es“ gesteuert, beeinträchtigt oder gestützt werden.

Hier wird deutlich, dass es nicht sinnvoll ist, den Subjektbegriff abzulehnen oder Subjektivität zu leugnen, weil Subjektivität stets überdeterminiert ist (im Sinne von Foucault): Ihre Determinanten sind zugleich ihre Stützen, und das subiectum erscheint als zugleich aktive und passive, autonome und fremdbestimmte Instanz. Dies gilt auch für kollektive Subjekte wie Gewerkschaften oder Regierungen.

Es zeigt sich auch, dass der Subjektbegriff nicht die vom Idealismus vorausgesetzte geistig-begriffliche Homogenität zur Voraussetzung hat. Sowohl individuelle als auch kollektive Subjekte können relativ heterogen sein, ohne in ihrer Existenz gefährdet zu werden: Das individuelle Subjekt kann verschiedene Lebensentwürfe als „narrative Programme“ (Greimas) verwirklichen, ohne zu zerfallen: ebenso wie die Koalitionsregierung, die mehrere Zerreißproben übersteht. Der Zerfall individueller und kollektiver Subjekte ist stets möglich, aber keineswegs vorprogrammiert oder notwendig.

Für das individuelle Subjekt ist Heterogenität konstitutiv, sofern Subjektivität als dialogischer Prozess aufgefasst wird. Das Subjekt kommt durch permanente Interaktion und auf sprachlicher Ebene durch einen permanenten Dialog mit individuellen (Eltern) und kollektiven (Institutionen, Organisationen) Instanzen zustande und kann sich nur entwickeln, indem es sich dem „fremden Wort“ (Bachtin) öffnet. Subjektivität ist daher ohne relative Überdeterminiertheit als Sozialisation, ohne Heterogenität als Mehrsprachigkeit (im mehrfachen Sinne des Ausdrucks: Fremdsprachen, Soziolekte, Register)  nicht möglich. Dies schließt die Autonomie des Subjekts keineswegs aus.

Peter V. Zima war bis zu seiner Emeritierung 2012 Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Klagenfurt.

Contra: Burkhard Liebsch

 

Der viel zitierte „Tod des Subjekts“ ist bislang nicht eingetreten, und er wird auch nicht ein­treten. Und zwar einfach deshalb, weil es sich um einen diskursiven Begriff, nicht um eine Art Lebewesen handelt, das sterben könnte. Dennoch ist der Eindruck entstanden, dass das Subjekt nicht mehr „lebt“, bzw. dass es in seinem Überleben bedroht ist, seit sich einige Autoren dazu verstiegen haben, es für ebenso tot zu erklären wie Gott, die Ge­schichte oder den Menschen. Abgesehen davon ist allerdings der Begriff des Subjekts (wie jeder andere Begriff auch) da­rauf hin zu befragen, ob er noch zeitgemäß ist, ob er grund­sätzlich zu ver­werfen oder gege­benenfalls in modifizierter Form weiter zu verwenden ist. So zu fragen unterstellt, dass sich der Sinn und die Angemessenheit des Gebrauchs von Begriffen nach etwas Anderem richten, was sich nicht immer schon in begrifflicher Form dar­stellt, sondern erst auf einen Begriff zu bringen ist. Und das kann in unterschiedlicher Art und Weise geschehen − schließlich auch so, dass ein überkommener Sinn und Gebrauch des Sub­jekt­begriffs nicht mehr überzeugt.

Genau diese Situation scheint seit Längerem eingetreten zu sein, insofern ein bestimmter Ge­brauch des Subjektbegriffs mit starken Ansprüchen ver­knüpft worden war − besonders dort, wo man eine denkende Subjektivität zum Prinzip der Philosophie erklärt hat, das nicht nur allein auf sich selbst gegründet und sich selbst trans­parent, sondern auch sich praktisch allein aus eigener Kraft selbst ins Werk setzen können sollte. In dieser dreifachen Art und Weise war der Subjekt­be­griff in der griechischen Antike, die vom hy­po­keimenon sprach, ebenso unbekannt wie in der römischen, wo das sub­jec­tum überwiegend das Unterworfene − und gerade nicht das allein auf sich gegründete, sich selbst durch­sichtige und sich selbst zu praktischer Wirklichkeit ermäch­tigen­de Prinzip − meinte. Das geben auch die Verteidiger des neuzeitlichen Subjekt­begriffs längst zu. Und sie beeilen sich, jene drei Ansprüche deutlich durch den Nachweis herabzuschrauben, dass sie kaum je in einer derart überspannten Art und Weise vertreten worden seien, wie man es vielfach unterstellt. Descartes kenne den Subjekt­begriff gar nicht; Rousseau habe ihm ein intransparentes sum vorgeordnet, zu dem sich auch das vernünftigste reflexive Denken nur nachträglich verhalten kann, ohne sich je zu einem sich selbst voll­kom­men durchsichtigen, insofern sich selbst genügenden und sich selbst beherrschenden Prinzip aufschwingen zu können. Das hätten auch die wichtig­sten Vertreter des deutschen Idealismus gewusst.

So kommen die Verteidiger des Subjekt­begriffs den Kritikern weit entgegen. Und zwar der­art weit, dass man sich fragen muss, ob sich ein tief greifender Dissens der an diesen Diskussionen Beteiligten überhaupt noch ausmachen lässt. Die Subjektphilosophie gibt es heute ebenso wenig wie ei­ne einheitliche Partei derer, die das Subjekt angeblich (ernsthaft und nicht nur mit ironischem Spott) für „tot“ erklärt haben (ohne doch zu meinen, den Tod des Subjekts nur festgestellt oder selbst, auf rhetorischem Wege, bewirkt zu haben, so als könne man das Subjekt eben dadurch töten, dass man es für tot erklärt). Gegenwärtig sind wir vielmehr mit einer unüber­sichtlichen Gemengelage einer Vielzahl strittiger Revisionen einzelner Im­pli­kationen eines Subjektivitätsdiskurses kon­fron­tiert, in dem kaum mehr die Frage verhandelt wird, ob das Subjekt lebt oder tot ist bzw. ob es für tot (oder für wieder lebendig) zu erklären ist. Statt dessen werden Fragen wie diese verhandelt: Was bedeutet es, sich und Andere als Subjekt zu verstehen, wenn man da­von ausgehen muss, dass wir nicht „immer schon“ oder „objektiv“ Subjekte sind, sondern allenfalls (und womöglich niemals ganz und gar) Subjekte werden im Prozess einer Onto­genese, die uns in mannigfaltige Vorgänge der Subjektivierung verstrickt? Vollzieht sich Subjektwerdung in einem radikalen Sinn allein durch uns selbst? Wenn nicht (wovon aus­zugehen ist), verdankt sich die Genese unserer Subjektivität dann Anderen? Werden wir durch Andere, im Verhältnis zu ihnen, durch und gegen sie zu menschlichen Subjekten? Und was macht die Menschlichkeit solcher Subjekte eigentlich aus?

Den life sciences heutigen Zuschnitts ist das gewiss nicht einfach zu entnehmen. Zwar scheint bspw. die moderne Biologie den logos des bios aufzuklären, doch hat sie von den menschlichen Lebensformen (bioi) keine zureichende Vorstellung. Allenfalls kann sie das, was uns (im irreduziblen Plural) als „menschlich“ erscheinen lässt, auf eine erweiterte Zoologie gründen. Aber ist der Mensch lediglich ein Lebewesen (zoon), das sich erhält, repro­duziert und schließlich umkommt − nicht viel anders als andere Lebe­­wesen auch (nur gewaltsamer)? Und kommt ihm auf dieser Grundlage auch Subjek­tivität zu? Jede empi­rische Wissenschaft, die sich Aufklärung darüber zutraut, sieht sich an dieser Stelle mit der Herausforderung der Frage konfrontiert, was es bedeutet, Menschen als Subjekte aufzu­fassen. Nur wo diese Frage eigens als solche aufge­worfen wird, kann deutlich werden, dass es im Streit um das Subjekt nicht darum geht, ob wir (noch) Subjekte sind oder längst schon zu etwas Anderem gewissermaßen mutieren mussten, wenn es denn stimmen sollte, dass das Subjekt seit seiner Für-tot-Erklärung nur noch „Ver­gan­gen­heit“ ist. Vielmehr dreht er sich darum, in­­wiefern wir uns als Subjekte verstehen − können, müssen, wollen. In der signifikativen Dif­ferenz dieses „als“ liegt eine irreduzible Kontingenz des So-oder-auch-anders-ver­ste­hen-Könnens. Fragen wir also die Verteidiger des Subjekts, die ihre Rede wohl kaum noch gegen die Rhetorik des Nekrologs auf diesen Begriff in Stellung bringen können, was es zum Verständnis unserer selbst, Anderer und der Welt beiträgt, uns als irredu­zibel plurale und nicht nur verschiedene, sondern einander fremde Subjekte zu ver­stehen, die das Prädikat „menschlich“ wenn über­haupt, dann gewiss nicht allein aus bio­logischen Gründen verdienen. Ich plädiere hier also nicht einfach auf contra, sondern gegen das simple pro und contra selbst.

Burkhard Liebsch lehrt Philosophie als apl. Professor an der Universität Bochum.

 

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1 Kommentar

  1. Hey, Freunde, das Subjekt lebt!
    Verstehen das die Philosophen nicht, dass alles, was zu kommentieren ist – LEBT?

    Hier und Jetzt.
    Hier und Jetzt beinhaltet immer eine Chance – nämlich Perspektiven für die Zukunft. Was sonst?
    Bekommt ihr echt Geld dafür, geschwollenen Kram für noch geschwollenere Eierköpfe zu verbreiten, um Leute in den Wahnsinn zu treiben, die sowieso am wahren Leben zerbrechen würden? Ich habe heute früh zwischen Dusche und Haarefönen Maxim Gorki gelesen. Kurzgeschichten. Ich bin ja keine Intellektuelle, wie ihr so, aber ich hab zu einem Freund gesagt: (Und ich hab viel gelesen) Hätte ich Literaturwissenschaften studiert und promoviert…..boah….da hätte ich über Maxim Gorki geschrieben. Der war ja Phiilosoph, Schriftsteller und Philosoph – unerkannt in seinem Werk Mensch eben. Nicht so feinsinnig wie Dostojewski, der sich seiner im Für und Wider immer sicher war. Gorki war einer von uns, wie ich, der hat „gedacht“. Der hat – wie ich- gern angemerkt, dass er weiß, wovon er schreibt. Man sagt ja, am Ende hätte Gorki großkotzig gelebt….Hat er verdient, er hat auch immer Künstler unsterstützt. Ich glaube, Gorki ist ein Vorbild, der ist in einer Momentaufnahme gestorben und womöglich ist Russland wie er.- wie jedes Land der Dichter und Denker.
    Ist ja auch egal, ich war heute früh nur fasziniert von den klaren Gedanken eines Mannes, den man eine ganze Zeit seines Lebens als nicht würdig einer Akademie hielt. Ja, ist mein Held.Maxim Gorki. Morgen früh ein Anderer – wie immer. Ich werde aber nie die guten Gedanken der guten Denker vergessen.

Beitragsthemen: Anthropologie | Identität

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