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Schwerpunktbeitrag: Das zweifelnde Selbst im Pragmatismus

Veröffentlicht am 17. Februar 2014

Foto Salaverria

Heidi Salaverría

Der Pragmatismus verabschiedet sich von der traditionellen philosophischen Suche nach Gewissheit. Um zu Gewissheiten zu gelangen, muss das Denken daran glauben, zu einem Abschluss gelangen zu können. Diese Annahme bedarf immer einer Art Gesetz, welches die Gewissheit des Abschlusses garantiert. Der Pragmatismus artikuliert jedoch Zweifel an der Haltbarkeit philosophischer Gesetze. Er schlägt daher eine andere Suchrichtung vor: Wie wäre es, von Neuanfängen und Verbesserungen statt von Abschlüssen auszugehen? Aus dieser Perspektive heraus fragt der Pragmatismus nach den Handlungsmöglichkeiten des Selbst innerhalb ungewisser, d.h. fragwürdiger Rahmenbedingungen. Die kompromisslose Zukunftsorientiertheit seines Denkens und die Rückbindung an alltägliche Lebensvollzüge, insbesondere bei John Dewey, sind dem Pragmatismus immer wieder als unkritischer Optimismus ausgelegt und vorgeworfen worden. Dabei wird jedoch übersehen, dass eines seiner Hauptmotive eine Absage an jede Form autoritären Denkens ist.

„Die Liebe zur Gewissheit ist eine Forderung nach Garantien im Voraus: vor jeder Handlung. Weil die Tatsache ignoriert wird, dass Wahrheit nur durch das Abenteuer des Experiments erworben werden kann, macht Dogmatismus aus Wahrheit eine Versicherungsanstalt. Unbewegliche Ziele auf der einen Seite und unbewegliche ,Prinzipien’ (also autoritäre Regeln) auf der anderen, sind dabei die Stützen eines Sicherheitsgefühls.” (John Dewey: Human Nature and Conduct, in: The Middle Works, 1899-1924, Vol 14, hg. von Jo Ann Boydston, Edwardsville 1988, S. 163; Übersetzung H. S.).

Ausgangspunkte kritischen und kreativen Denkens sind im Pragmatismus der Common Sense und alltägliche Gewohnheiten. Nicht, weil dieser das Bestehende naiv bejaht, sondern aus der ernüchternden Feststellung heraus, dass uns wohl nichts anderes zur Verfügung steht, von dem wir ausgehen können. Nun könnte man einwenden, dass es offensichtlich auch zu unseren im Alltag sedimentierten (philosophischen) Gewohnheiten gehört, nach garantierten Gewissheiten zu suchen. Ob wir wollen oder nicht, von irgendetwas sind wir immer überzeugt, an irgendetwas glauben wir immer (auch wenn es sich nicht um einen religiösen Glauben handeln muss). Wenn das zutrifft, bliebe nach wie vor die Frage unbeantwortet, wie das Selbst in der Lage sein soll, neue Wege einzuschlagen, selbstkritisch zu denken, sich zu verändern, kurz: handlungsfähig zu sein.

Genau an diesem Punkt setzt die Antwort des Pragmatismus an: Scheinbar selbstverständliche  alltägliche Überzeugungen sind nicht nur Ausgangspunkt, sondern auch Gegenstand seines Denkens. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft: Auch die Phänomenologie und die Hermeneutik, um nur zwei große philosophische Traditionen aufzurufen, haben die lebensweltliche Verankerung und das alltägliche Verstehen reflektiert. Die spezifische Pointe des Pragmatismus besteht indessen darin, das alltägliche Handeln auch als Ziel seiner philosophischen Bemühungen zu betrachten. Daher ist er auch und gerade auf politische Fragen anwendbar.

Dabei geht es dem Pragmatismus nicht nur darum, spezifische Überzeugungen zu untersuchen, sondern das Haben von Überzeugungen überhaupt. Charles S. Peirce zufolge steht uns kein Gottesstandpunkt zur Verfügung, um mit Gewissheit sagen zu können, ob unsere Überzeugungen absolut wahr sind oder nur einen kontingenten Common Sense widerspiegeln, denn die Kriterien, die wir im Zweifel zu der Entscheidung dieser Frage heranziehen könnten, sind nicht neutral. Unser kritisches Vermögen des Zweifelns ist darüber hinaus begrenzt, weil sich dem Selbst – solange es von etwas überzeugt ist – gar nicht die Frage nach der Zweifelswürdigkeit seiner Überzeugung stellt. Es ist gegenüber seinen Überzeugungen abstandslos, sie erscheinen als absolut wahr. Die Grenzen zwischen alltäglicher Selbstverständlichkeit und angemaßtem Gottesstandpunkt sind fließend.

Ein Grund dafür, dass die Überzeugungen so selbstverständlich sind, ist die Unschärfe zwischen Überzeugungen und dem scheinbar fraglosen Common Sense, der sich bis in die Gewohnheiten hinein verkörpert. Die Grenzen zwischen partikularer und allgemeiner Überzeugung bleiben vage. Das Selbst ist zu einem gewissen Ausmaß dem Common Sense ausgesetzt. In Abgrenzung zu Kant betont Peirce daher selbstkritisch die Grenzen kritischen Denkens, und zwar an dem Punkt, wo das eigene Denken sogar in seiner Zweifelsfähigkeit zu selbstverständlich wird, ohne zu sehen, dass auch diese noch innerhalb eines Common Sense situiert ist.

Das Selbst kann nicht willkürlich und weniger noch an allen seinen Überzeugungen gleichzeitig zweifeln, denn es hat nicht nur Überzeugungen, sondern es ist immer auch ein Stück weit seine Überzeugungen. Diese Abstandslosigkeit zeigt sich an den vielfältigen Bedeutungsschattierungen des Begriffs „beliefs“ im Pragmatismus: Beliefs kennzeichnen das Für-wahr-Halten, die Überzeugungen, aber auch den Glauben des Selbst. Auch ist im Pragmatismus der Übergang von den beliefs zu den Gewohnheiten als verkörperten Überzeugungen fließend, wodurch sie noch schwerer greifbar sind, weil sie uns zur zweiten Natur geworden sind. Dass der pragmatistische Zweifel nicht universell oder cartesianisch sein kann, liegt also zum einen an dem Charakter von Überzeugungen, wie sie im Pragmatismus verstanden werden, und zum anderen an der Unschärfe zwischen Überzeugungen und Common Sense.

Das Hauptproblem dabei ist, dass der Übergang von den Überzeugungsgewohnheiten zum Common Sense in etwa so vage bleibt wie der Übergang vom Wachzustand zum Schlafzustand. Das Auftreten des Zweifels ist dagegen etwas klarer, vergleichbar mit dem Zustand des Wachwerdens (und Zweifel können einem bekanntlich den Schlaf rauben). Solange indessen das Selbst nicht zweifelt oder durch andere eine zweifelnde Gegenposition erfährt, scheint dieses Cluster aus Common Sense, Überzeugungen und Gewohnheiten in Bezug auf sich, auf andere und auf die Welt unproblematisch und fraglos zu sein. Seine Fraglosigkeit wird dadurch aufrechterhalten, dass daran geglaubt wird oder jedenfalls daran, dass die anderen daran glauben, ohne zu bemerken, dass die beliefs bei näherem Hinsehen heterogen und widersprüchlich sind. Dieses Problem wird auch nicht dadurch entschärft, dass es unterschiedliche Common Senses gibt, dann verschiebt sich die Frage lediglich darauf, wer Recht hat. Der unkritische Common Sense lässt sich mit Richard Rorty auch als Ethnozentrismus charakterisieren, der im Gegensatz zum Relativismus immerhin ein Moment der Wahrheit enthalte. Relativismus ist für Rorty ebenso unrealistisch wie der Universalzweifel des Skeptizismus für Peirce – beide Haltungen geben vor, sich außerhalb des alltäglichen und gesellschaftlichen Handlungsraumes aufstellen zu können. Eine solche Außenperspektive steht uns jedoch nicht zur Verfügung. Auch der Ethnozentrismus ist in sich vage und führt immer wieder zu partikularen Reibungspunkten und Widerständen, die Zweifel hervorrufen. Peirce zufolge sind „Individualismus und Falschheit ein und dasselbe“, und er ist oft so interpretiert worden, dass das Individuum, etwa angesichts der Forschergemeinschaft, defizitär sei. Gleichwohl spielt sogar bei Peirce der individuelle Impuls des Zweifels eine zentrale Rolle für die Festlegung von Überzeugungen, so wie bei Rorty die Idiosynkrasie des Selbst für die Abstandsnahme von den „zufallsblinden Prägungen“ zentral ist. Ich schlage vor, von Partikularität anstelle von Individualismus und Idiosynkrasie zu sprechen, und damit ist hier zweierlei gemeint: Singularität und Situiertheit im Common Sense. Das Selbst ist Teil eines Common Sense, geht aber nicht darin auf. An der jeweiligen Partikularität des Selbst können die Bruchstellen des Common Sense erkennbar werden. Partikularität kann dann als produktive Fehlermeldung interpretiert werden. Das Selbst stellt fest, dass die vorgegebenen und vertrauten Formen des Verständnisses die problematische Situation nicht abdecken. Es kommt mit dem Bekannten nicht weiter. Die Grenzen des Bekannten werden zunächst dadurch spürbar, dass das Selbst sich wundert, dass überhaupt gerade irgendetwas kollidiert. Der Zweifel markiert das vorübergehende Unbehagen und Unvermögen, sagen zu können, was nicht stimmt, und dafür sorgen zu können, dass es wieder stimmt. Es kommt zu einer Suspension des Handelns, zu einer vorübergehenden Derealisierung des selbstverständlichen Common Sense. Auf der anderen Seite wird im Prozess des Zweifelns das Selbst in seiner Partikularität bekräftigt, dadurch dass sein eigener Ort – wie durch ein Kontrastmittel – an Gestalt gewinnt. Die partikulare Verortung nimmt durch das Zweifeln als Standpunkt erst Kontur an und tritt so ein Stück aus dem vormals Vagen heraus. Der Zweifel enthält ein kritisches und widerständiges Moment, gerade weil die zuvor angenommenen Kriterien nicht mehr tragen. So stellt der Zweifel ein wichtiges Korrektiv dar, um vor einer Verhärtung des Common Sense und seiner potenziellen Gewalt zu schützen. Es ind zunächst immer Einzelne, die zweifeln, und – so möchte ich den Pragmatismus deuten – es ist die Verantwortung des Einzelnen, auf seinen Zweifel und den Anderer zu hören und zu antworten, noch bevor entschieden ist, ob dieser sinnlos ist oder nicht.

Der kritische Common Sense von Peirce artikuliert einen beständigen Vorbehalt gegen die eigenen selbstverständlichen Überzeugungen, er fungiert als eine Art Warnsignal. Die dilemmatische Schwierigkeit, immer wieder absolut von etwas überzeugt zu sein, um mit Selbstverständlichkeit handeln zu können, und zugleich die potenzielle zukünftige Zweifelhaftigkeit dieser Überzeugung im Auge zu behalten, dieses Spannungsverhältnis lässt sich nicht theoretisch auflösen, sondern nur im Handeln transformieren. Die partikulare Selbstverortung im Zweifel stellt den aufklärerischen Prozess dar, aus dem vielstimmigen Chor des Common Sense, der den Ton angibt, immer wieder die eigene Stimme herauszuhören und sich zu fragen, ob man selbst gerade falsch singt, ob es Andere sind oder ob nicht besser ein ganz anderes Stück gesungen werden sollte.

Heidi Salaverría ist promovierte Philosophin und lebt als freie Autorin, Dozentin und Künstlerin in Hamburg.

Erstveröffentlichung in FIPH-Journal Nr. 15 (Frühjahr 2010), S. 14-15.

Lesetipp: Heidi Salaverría: Spielräume des Selbst. Pragmatismus und kreatives Handeln, Berlin: Akademie Verlag 2007.

(c) Heidi Salverría

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