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Das konvivialistische Manifest – eine Kritik

Veröffentlicht am 8. Oktober 2014

Ein neues Manifest macht die Runde, verfasst wurde es von etwa 40 Wissenschaftlern und Intellektuellen. Mehr als 1 ½ Jahre habe man miteinander diskutiert und gestritten – so wird dem Leser/der Leserin eingangs berichtet. „Das „konvivialistische Manifest“[1] liegt nun auch in deutscher Übersetzung vor, herausgegeben von Franz Adloff und Claus Leggewie. Worum geht es? Die Konvivialisten wenden sich gegen „den Primat des utilitaristischen, also eigennutzorientierten Denkens und Handelns und die Verabsolutierung des Glaubens an die selig machende Wirkung wirtschaftlichen Wachstums“. Demgegenüber plädieren sie für eine neue Vision des Zusammenlebens, für eine neue positive Vision des guten Lebens.

Das Manifest beginnt mit der Skizzierung der gegenwärtigen Krisensituation: Bedrohungsszenarien auf der einen, Verheißungen auf der anderen Seite. Die Diagnose ist klar: Das Ende stehe keineswegs fest; noch hielten sich Bedrohungen und Verheißungen die Waage. Und so wird an den Leser appelliert, den Kairos zur Alternative nicht zu verpassen. Es gebe bereits viele Alternativbewegungen; deren gemeinsamer Nenner sei der Konvivialismus, eine „Kunst des Zusammenlebens, die die Beziehung und die Zusammenarbeit würdigt und es ermöglicht, einander zu widersprechen, ohne einander niederzumetzeln, und gleichzeitig für einander und für die Natur Sorge zu tragen“. An der Zeit sei „eine dauerhafte, sowohl ethische, ökonomische, ökologische wie politische Grundlage des gemeinsamen Lebens. Eine Grundlage, die noch nie wirklich gefunden oder aber allzu oft vergessen wurde“. Ausgangspunkt des Konvivialismus „ist die Annahme, dass das Wohl aller über den Aufbau einer Gesellschaft der ‚Fürsorge‘ (care) und die Entwicklung einer öffentlichen Politik führt, die die Arbeit für andere wertschätzt und diejenigen fördert, die sich Aufgaben der Fürsorge widmen“. Gefordert wird ein neuer Humanismus, „die Entwicklung neuer Formen der Menschlichkeit“. Politik müsse sich „auf das Prinzip einer gemeinsamen Menschheit, einer gemeinsamen Solidarität, der Individuation und der Konfliktbeherrschung“ berufen. Aus dem Gesagten werden folgende Überlegungen abgeleitet: „Jeder Einzelne darf hoffen, dass ihm eine ebenso große Würde zuerkannt wird wie allen anderen Menschen und dass ihm hinreichende materielle Bedingungen zugänglich sind, um seine Auffassung vom guten Leben, unter Berücksichtigung der Auffassungen anderer, zu verwirklichen, und sich um die Anerkennung der anderen zu bemühen, indem er, wenn er es wünscht, am politischen Leben und an allen Entscheidungen teilnimmt, die seine Zukunft und die seiner Gemeinschaft betreffen.“ Daraus ergäben sich diverse Pflichten: Jeder Einzelne müsse bspw. aktiv Korruption bekämpfen. Auf absehbare Zeit würden wir zwar immer noch nicht in einem Weltstaat leben. Die existierenden Staaten seien jedoch angehalten, die vier genannten Prinzipien anzuerkennen und Politik als Politik der Würde zu praktizieren. Ferner bedürfe es eines Mindest- und eines Höchsteinkommens. Überdies sei ein neues Verhältnis zur Natur geboten, das auf Gabe und Gegengabe basiert. Monetäre Rentabilität sei legitim, so sie den o.g. Prinzipien nicht widerspreche. Es gelte spekulative Auswüchse zu bekämpfen. Zudem sei ein Verständnis von Reichtum zugrundezulegen, das diesen nicht auf wirtschaftlichen, materiellen oder monetären Reichtum reduziere, sondern ebenso Pflicht, Solidarität und Spiel etc. umfasse.

Um sich gegen bedrohliche Tendenzen zu behaupten, bedürfe es der Entrüstung, der Scham sowie des Gefühls, Teil einer gemeinsamen Weltgemeinschaft zu sein; neben rationalen Entscheidungen sei eine Mobilisierung der Affekte und Leidenschaften vonnöten. Darüber hinaus könnte der Entwurf zu einer Weltversammlung die Einheit des Konvivialismus symbolisieren. Schließlich müsse eine konkrete konvivialistische Politik Gerechtigkeit und Solidarität, eine Balance zwischen Öffnung und Zusammengehörigkeit, den Schutz der Umwelt und die Beseitigung der Arbeitslosigkeit berücksichtigen. Ziel sei es, „monetäre Souveränität, politische Souveränität und soziale Souveränität miteinander zu verbinden.“ Soweit das Manifest.

Nun gibt es in der Tat in vielen Alternativbewegungen so etwas wie eine Idee der Konvivialität. Man fragt sich allerdings, warum aus der Idee der Konvivialität nun ein Konvivialismus werden soll. „Ismen“ sind Großtheorien. Und als eine solche Großtheorie wird auch der Konvivialismus von Frank Adloff präsentiert. Konvivialismus, so schreibt er, sei „eine Synthese von Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus und Anarchismus“. Hier lauert jedoch die Gefahr, die Pluralität der Konvivialität zu unterlaufen und nolens volens aufzuheben. Kritisch wäre zu fragen, ob es sich bei dem Manifest nicht um einen Versuch Intellektueller handelt, den diversen, auch gegenstrebigen Bewegungen einen Begriff überzustülpen, um so letztlich die gesellschaftspolitische Deutungshoheit gegenüber den vielen Bewegungen zurückzuerlangen? Fraglich ist darüber hinaus, wie ein so sperriger Begriff wie der des Konvivialismus in Deutschland politische Wirkkraft entfalten soll. Nun stammt der Begriff zwar von Ivan Illich, auf den man sich beruft, aber dennoch wäre zu fragen, ob man den Begriff in der deutschen Übersetzung des Manifestes nicht besser durch den des Gemeinwohls ersetzt hätte. Der Begriff des Gemeinwohls ist zumindest Bestandteil der politischen Alltagssemantik in Deutschland. Und nicht nur das: Das Gemeinwohl ist durchaus mit der Idee der Konvivialität, wie sie im Manifest angedacht wird, kompatibel, wenn man es als einen dynamischen Zustand interpretiert, der einem Handeln entspringt, das bloße Partikularinteressen transzendiert und dabei auf ein gerechtes und gutes Leben sowohl der gegenwärtig als auch der zukünftig Lebenden zielt, dessen Verständnis immer wieder neu aus einem individuellen Gerechtwerden erwächst, das Ungerechtigkeiten Ausdruck verleiht.

Die Ausgangsdiagnose, dass wir in einer Situation zwischen Bedrohungen und Verheißungen leben, klingt angesichts des Klimawandels euphemistisch. An dieser Stelle drängt sich deshalb die Frage auf: Wer spricht, in welcher Situation und mit welcher Absicht von der neuen Kunst des Zusammenlebens? Das Gros der Unterzeichnenden scheint wohl älteren Generationen anzugehören. Aber müssten wir, die älteren Generationen, nicht anders reden? Müssten wir nicht zunächst ein Bewusstsein davon entwickeln, dass wir die Möglichkeit gehabt hätten, das Blatt zu wenden, dass wir jedoch versagt haben? Losgelöst von dieser selbstkritischen Perspektive stellt sich das Gefühl ein, ein solches Manifest könnte womöglich ungewollt der Selbstexkulpation älterer Generationen dienen. Alles, was im Manifest steht, kann auch ich unterschreiben. Aber brauchen wir nicht etwas anderes? Sollten wir nicht unsere Fähigkeiten und Kräfte in den Dienst der Jugend stellen, um ihr nicht nur eine Stimme zu geben, sondern sie in ihren Ängsten und Sorgen zu begleiten, damit ihre Visionen politische Wirkkraft entfalten können? Junge Aktivistinnen und Aktivisten auf der ganzen Welt kämpfen in unterschiedlichen Projekten für eine andere Welt. Sie stehen für eine zivile Gesellschaft, die „ein Projekt von Projekten“ (Michael Walzer) ist. Ihre Widerstandspraktiken gleichen nicht selten der des Sisyphos. Und dennoch lassen sie sich nicht entmutigen.

Ich hätte mir ein Manifest gewünscht, das vom Mut der Älteren zeugte, eine Selbstverpflichtung auf die Zukunft der jungen Menschen einzugehen. Das hieße, sich intellektuell und aktivistisch in ihren Dienst zu stellen. Vielleicht sollten wir Älteren statt mit einem Manifest mit einem Schuldbekenntnis beginnen, das der Beginn einer demütigen Öffnung für die Hoffnungen und Ängste junger Menschen sein könnte?

© Jürgen Manemann


[1] Les Convivialistes, Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kultur des Zusammenlebens, hg. v. F. Adloff/C. Leggewie, Bielefeld 2014.

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