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InDebate: Soziale Ungleichheit

Veröffentlicht am 9. Februar 2015

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Wilhelm Vossenkuhl

Nach Marx hat es keinen ernst zu nehmenden Versuch mehr gegeben, um der Gleichheit willen die soziale Ungleichheit wenigstens in der Theorie abzuschaffen. Selbst der an der Idee der gleichen Gerechtigkeit orientierte John Rawls geht nicht nur vom Faktum der Ungleichheit aus, sondern will sie mit seiner Theorie der Gerechtigkeit als Fairness nur lindern, aber nicht abschaffen. Er hat sich wie die meisten Theoretiker damit abgefunden, dass es die soziale Ungleichheit gibt. Es kommt aber gewiss darauf an, wie groß sie ist, und ob sie wächst. Kürzlich ließ Oxfam verlauten, dass 99% des Reichtums weltweit lediglich einem Prozent der Menschheit gehörten. Dagegen argumentierten dann rasch einige Ökonomen – beschwichtigend –, diese Zahlen seien der Geldschwemme zu verdanken, die von einigen Notenbanken verursacht wurde, sie seien künstlich und nicht ernst zu nehmen.

So einfach können wir es uns aber nicht machen. Es gibt einige Stimmen, die vor der wachsenden sozialen Ungleichheit warnen und dafür handfeste Nachweise präsentieren. Der bekannteste ist derzeit Thomas Piketty, dessen Buch „Kapital im einundzwanzigsten Jahrhundert“ (2014) die Entwicklung der sozialen Ungleichheit seit dem 18. Jahrhundert analysiert. Eine seiner gut begründeten Thesen ist, dass die Schere zwischen den Löhnen und dem Einkommen von Gesellschaften auf der einen und dem privaten Kapital auf der anderen Seite immer größer wird. Er sieht zwar die These von Marx, dass das private Kapital unendlich akkumuliert und die Massen zum Lumpenproletariat verarmen, widerlegt, eine analoge Tendenz sieht er selbst aber auch. Eine seiner Grundformeln ist, dass das jährliche Wachstum der Kapital-Renditen, Dividenden und anderen Einkommen, die auf privatem Kapital beruhen, stärker ist als das einer Volkswirtschaft insgesamt. Die Löhne stagnieren, das private Kapital wächst ungebremst und mit steigendem Tempo. Piketty will weder das Kapital noch die soziale Ungleichheit denunzieren oder gar abschaffen, er will nur die Struktur der wachsenden Ungleichheit analysieren.

Eine der Folgen der wachsenden sozialen Ungleichheit ist der stagnierende oder sinkende Wert der Arbeit und des lohnabhängigen Einkommens der großen Mehrheit einer Gesellschaft. Die weiteren Folgen dieser Entwicklung vom sinkenden Konsum über die geringere Eigentumsbildung bis zu den abnehmenden Bildungschancen und den zunehmenden Schwierigkeiten der Integration behinderter Menschen in den Arbeitsmarkt sind offensichtlich. Dies ist aber nicht Pikettys Thema. Ein anderer Autor, Ferdinand Mount – er war eine zeit lang Leiter des Planungsstabs von Margret Thatcher –, analysiert die Folgen der sozialen Ungleichheit sehr viel politischer („The New Few or a very British Oligarchy“, 2012). Er sieht die größte Gefahr der wachsenden sozialen Ungleichheit in Großbritannien in der Erosion der Demokratie und dem sinkenden politischen Gewicht des britischen Unterhauses. Die reiche Elite der Shareholder und Bankenchefs bleibt nicht nur unter sich, sondern entscheidet auch ohne demokratisches Mandat für die ganze Gesellschaft.

Was Mount beschreibt – und er hat dafür viele zuverlässige Quellen benutzt –, ist sicher so zu deuten, dass die soziale Ungleichheit das für die britische Gesellschaft zuträgliche Maß längst überschritten hat. Die Schere zwischen Arm und Reich ist nicht mehr nur ein soziales, sondern ein eminent politisches Phänomen, eine Gefahr für die britische Demokratie. Wir meinen vielleicht, dass wir uns in unserem eigenen Land – dem Land mit der schwarzen Null im Staats-Budget – noch etwas zurücklehnen können. Ob wir bereits von einem ähnlichen Oligarchie-Problem wie die Briten – oder die US-Amerikaner – betroffen sind, mag man bezweifeln. Wir sollten aber auch das Gegenteil bezweifeln, weil die Volkswirtschaften – nicht nur im Euroraum – von den Staatsgrenzen unabhängig sind. Deswegen sind wir zumindest infiziert vom Oligarchie-Problem. Die schwarze Null ist im Übrigen als Nachweis für oder gegen dieses Problem völlig unbrauchbar, weil sie indifferent gegenüber der sozialen Ungleichheit ist.

Wir starren derzeit zu intensiv auf die monetären Entwicklungen, auf das Problem der Staatsdefizite im Euroraum und die damit verbundenen Gefährdungen. Die gibt es ohne Zweifel. Es gibt aber auch die nicht so spektakulär erscheinenden, aber sehr viel wirksameren Gefährdungen durch die wachsende soziale Ungleichheit und die zunehmende Verarmung in unserem eigenen Land. Dies ist ein eminentes Gerechtigkeits-Problem, dessen politische und soziale Folgen wir noch nicht erkennen oder erkennen wollen.

© Wilhelm Vossenkuhl

Lit.: W. Vossenkuhl: Die Möglichkeit des Guten, München 2006.

Wilhelm Vossenkuhl ist Prof. em. für Philosophie an der Ludwig Maximilians-Universität München.

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2 Kommentare

  1. Test

  2. Prof. Vossenkuhl konstatiert die Ungleichheit bezüglich des Reichtums
    und leidet und warnt vor den Folgen, deutet jedoch nicht an, wie das
    Problem zu lösen sei. Die Machthaber (die Gesetzgeber) könnten es lösen,
    indem sie die die Reichen stärker besteuern, Korruption verbieten und
    bestrafen sowie die Arbeitszeit senken, aber nicht die Löhne, so dass alle,
    die arbeiten wollen, die Möglichkeit dazu erhalten. Warum tun de Mächtigen
    es nicht?: Sie wollen es nicht, weils ihnen gut geht.
    Das Volk wählt sie ja immer wieder.

Beitragsthemen: Gerechtigkeit | Ökonomie

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