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Schwerpunktbeitrag: Politische Repräsentation und radikale Demokratie

Veröffentlicht am 16. Februar 2015

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Andreas Hetzel

Das im antiken Latein alltagssprachlich für „sich etwas vorstellen“ verwendete Verb repraesentare taucht seit dem Mittelalter verstärkt in juristischen, wirtschaftlichen und politischen Zusammenhängen auf. Die Substantivform repraesentatio markiert den Anspruch eines herausgehobenen Teiles zunächst der Kirche, dann aber auch der Gesellschaft, das Ganze in privilegierter Weise verkörpern zu können. Einen Höhepunkt findet diese Entwicklung in Thomas Hobbes’ Formel „rex est populus“. Die in dieser Wendung ausgesagte Identität der repräsentierenden und der repräsentierten Instanz manifestiert sich in einer absoluten Souveränität, welche sich wiederum im Körper des einen Königs inkarniert. Nur durch den Willen des Königs, der sie beherrscht, wird die Menge für Hobbes zu einem politischen Körper: „For it is the Unity of the Representer, not the Unity of the Represented, that maketh the Person One.“ (Thomas Hobbes, Leviathan I, 16.)

Diese von Ernst Kantorowicz und Louis Marin ausgiebig untersuchte Repräsentation des Volkes durch den König wird mit der Geburt der Volkssouveränität im England des 17. Jahrhunderts nicht einfach ad acta gelegt, sondern in das Konzept einer repräsentativen Demokratie überführt. Als wesentliches Unterscheidungskriterium antiker und neuzeitlicher Demokratie gilt allgemein, dass sich die Demokratie der Polis direkter Verfahren bedient habe, wohingegen sich die Demokratie in den bevölkerungsreichen neuzeitlichen Nationalstaaten auf die Wahl von Vertretern in ein Parlament gründe. Spätestens seit John Locke, James Madison und Thomas Paine gelten die Mitglieder des Parlaments als die representatives eines Volkes, dessen Souveränität über Verfahren der Delegation mediatisiert, symbolisch gebrochen und pluralisiert wird; im ideengeschichtlichen Kontext der Amerikanischen und der Französischen Revolution zeichnen sich die Konturen jener repräsentativen Demokratie ab, in der wir noch heute leben.

Wollte man das Programm einer radikalen Demokratie unter Rekurs auf das Konzept politischer Repräsentation definieren, müsste zunächst zurückgewiesen werden, dass ein Teil der Gesellschaft das Ganze adäquat repräsentieren kann. Das Stichwort ‚radikale Demokratie’ geht auf die Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Hegemonie und radikale Demokratie, Wien 1991) zurück, wird heute aber in der Regel nicht als Schulbezeichnung, sondern eher im Sinne einer Familienähnlichkeit diverser Ansätze verwendet, sodass auch die politischen Philosophien von Cornelius Castoriadis, Claude Lefort, Jacques Derrida, Etienne Balibar und Jacques Rancière als ‚radikaldemokratisch’ gelten können. Gemeinsam ist diesen Positionen, dass sie sich als ‚postmarxistisch’ verstehen, d.h. am emanzipatorischen Anspruch des Marxismus festhalten, zugleich aber mit seinen objektivistisch-geschichtsphilosophischen Implikationen brechen. Sie setzen nicht länger auf eine sich aus den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise automatisch ergebende Revolution, sondern auf ein Beim-Wort-Nehmen der sich in den neuzeitlichen demokratischen Ideen und Institutionen abzeichnenden Ansprüche auf Freiheit und Gleichheit, die nach einer größtmöglichen Demokratisierung von Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, nach einer Erweiterung von Partizipationschancen sowie nach einer Politik größtmöglicher Inklusivität verlangen.

Bereits für Castoriadis und Lefort, die Radikaldemokraten der ersten Generation, ist der Gedanke entscheidend, dass in demokratischen Gesellschaften ein „Unvorhersehbares und Unbestimmtes“ im Zentrum steht (Cornelius Castoriadis, Welche Demokratie?, in: ders.: Autonomie oder Barbarei? Schriften Bd. 1, Lich 2006, S. 69-112, hier S. 79), dass „der Ort der Macht zu einer Leerstelle wird“ (Claude Lefort, Die Frage der Demokratie, in: Ulrich Rödel (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-299, hier S. 293), die auch leer bleiben sollte. Die westlichen Gesellschaften verfügen nach der französischen und amerikanischen Revolution, so Lefort, „nicht mehr über eine Repräsentation ihrer Ursprün­ge, Ziele und Grenzen“, sondern gehen aus dem Konflikt partikularer Perspektiven hervor. Die Rolle einer möglichen Zentralinstanz der Gesellschaft bleibt dabei unbesetzt. Die Leere im Zentrum der Gesellschaft markiert die einzige Universalie im radi­kal­demokratischen Denken, allerdings nur unter negativem Vorzeichen. Die „leere Mitte“ dient Lefort als Inbegriff dessen, was in einer Gesellschaft im Werden bleibt. Sie ist ein anderer Name für die Perspektivität und Partikularität sämtlicher Positionen im politischen Prozess und steht für die Unmöglichkeit jeder im substanzia­listischen Sinne verstandenen universalen Instanz, in deren Namen die politische Auseinandersetzung mit je konkreten Gegnern umgangen werden könnte.

Von Castoriadis über Lefort bis zu Laclau, Mouffe und Derrida finden sich immer wieder Plädoyers für die Ausweitungen von Formen direkter Demokratie – auch unter den Bedingungen moderner Territorialstaaten und der zunehmenden Globalisierung von Entscheidungsstrukturen. Diese Plädoyers knüpfen an repräsentationskritische Argumente Martin Heideggers, des amerikanischen Pragmatismus, Ludwig Wittgensteins und Michel Foucaults an. So behauptet etwa Castoriadis: „Keiner von denen, die derzeit über Politik schreiben, liefert irgendeine ‚Philosophie der Repräsentation’. Ich habe nirgendwo eine Begründung oder Erklärung dafür gefunden, was eine ‚politische Repräsentation’ wohl sein mag“ (Welche Demokratie?, S. 81): Mit der Reduktion von politischer Partizipation auf eine alle vier Jahre stattfindende Wahl geben wir bestimmten Delegierten oder Repräsentanten ein „langfristiges und unwiderrufliches Mandat, so dass diese durch ihr Handeln unumkehrbare Situationen schaffen können – mithin die Parameter und die Thematik ihrer ‚Wiederwahl’ selbst bestimmen“ (a.a.O, S. 82). Über politische Repräsentation bilde und immunisiere sich ein elitärer Apparat, der dem Gesetz der Selbsterhaltung und eigenen Interessen folge.

Weiterentwickelt und systematisiert wird dieses für den radikaldemokratischen Diskurs zentrale Argument von Pierre Bourdieu. Gemäß der herkömmlichen Theorie politischer Repräsentation „scheint die Gruppe den zu erschaffen, der an ihrer Statt und in ihrem Namen […] handelt“. In Wirklichkeit aber sei es „kaum minder richtig zu sagen, daß es der Sprecher, der Wortführer ist, der die Gruppe erschafft“ (Pierre Bourdieu: Delegation und politischer Fetischismus, in: ders.: Rede und Antwort, Frankfurt a.M. 1992, S. 174-192, hier S. 174/175). Bourdieu geht davon aus, dass sich politische Gruppen über die Benennung eines Vertreters bilden. Durch den Akt der Repräsentation wird die vertretene Gruppe in einer Art „Urzirkel“ ebenso geschaffen wie der Repräsentant, der einzig deshalb existiert, weil er die Gruppe repräsentiert. Die unverbundenen und politisch anteilslosen Individuen können sich nur dadurch zu einer politisch signifikanten Gruppe verbinden und mit einer Stimme sprechen, dass sie das Recht auf das Erheben der Stimme delegieren. Dieser Prozess hat aber den hohen Preis einer politischen Entfremdung. Diese dem Politischen innewohnende Aporie werde in der repräsentativen Demokratie durch einen Fetischismus kompensiert, durch ein „Mysterium des ministeriums“: Dem Mandatsträger werde ein Wert zugesprochen, der als dessen persönliche Eigenschaft erscheint, wobei nicht gesehen wird, dass ihm dieser Wert erst von der Gruppe geschenkt wurde. Repräsentation führt daher auch für Bourdieu notwendig in eine sich selbst immunisierende Bürokratie sowie zur Erzeugung charismatischer Herrschaft.

Trotz dieses gegenüber repräsentativen Verfahren skeptischen Tenors wäre es vorschnell, die Forderung nach einer Radikalisierung von Demokratisierungsprozessen mit einem ausschließlichen Plädoyer für Formen direkter Demokratie gleichzusetzen. Vielleicht lässt sich, so meine Vermutung, aus Bourdieus Argumenten eine repräsentationsaffine Ergänzung oder gar Korrektur des radikaldemokratischen Diskurses gewinnen. Diese Korrektur könnte die von Lefort, Laclau und Mouffe favorisierte „agonistische“ Erklärung der Formierung politischer Gruppen betreffen: Erst die Kämpfe unterschiedlicher Akteure gegen einen gemeinsamen Gegner „artikulieren“ aus der Sicht von Laclau und Mouffe deren Forderungen und formen somit ein politisches Wir. Erst der Gegner stiftet, als ausgeschlossener Dritter, eine Äquivalenz partikularer Forderungen. Mit dem Hinweis, dass die Auseinandersetzung mit dem Gegner in einem symbolischen Universum stattfinde und dass der Gegner insofern vom physisch zu vernichtenden Feind zu unterscheiden sei, versuchen Laclau und Mouffe ihren Agonismus vom Antagonismus Carl Schmitts abzuheben, vermögen aber den Übergang ins Symbolische nicht wirklich zu erklären.

Zu fragen wäre an dieser Stelle, ob der von Bourdieu freigelegte „Urzirkel der Repräsentation“ nicht ein differenzierteres Modell der Entstehung kollektiver politischer Akteure darstellt. Für Bourdieu formieren sich Gruppen nicht primär gegen einen ausgeschlossenen Dritten, sondern über einen Akt der Delegation an einen eingeschlossenen Dritten. Solche Verfahren der Repräsentation, mittels derer sich eine Gruppe noch vor der Konfrontation mit dem gemeinsamen Gegner konstituiert, scheinen genau den Übergang ins Symbolische, d.h. den Übergang vom Antagonismus zum Agonismus, gewährleisten zu können, den Laclau und Mouffe nur postulieren.

Der radikaldemokratische Diskurs fordert die Ausweitung von direktdemokratischen Entscheidungsprozessen auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine radikale Demokratie auf Elemente politischer Repräsentation verzichten müsste. Nur um den Preis einer Überforderung der Individuen ließen sich alle Bereiche einer ausdifferenzierten und überkomplexen Gesellschaft direktdemokratisch steuern. Repräsentation schafft neben Entfremdung auch Entlastung und pluralisiert, wie schon Locke, Madison und Paine wussten, die Souveränität des Volkes.

Vielleicht sollte das Verhältnis von direktdemokratischen und repräsentativen Elementen in der Form einer Aporie konstruiert werden, die es nicht aufzulösen, sondern auszuhalten gilt. Aus der Sicht radikaldemokratischer Positionen ist das politische Feld mehrfach aporetisch gebrochen. Idee und Wirklichkeit moderner Politik sind gefangen zwischen den konfligierenden Ansprüchen von Institution und offener Gestaltung (Instituierung), Utopie und Realismus, liberaler und demokratischer Tradition, Vernunft und Leidenschaft, Universalismus und Partikularismus und, so ließe sich ergänzen, direkten und repräsentativen Formen der Demokratie. Als radikal erwiese sich der Anspruch des Diskurses der radikalen Demokratie nur dann, wenn es ihm gelänge, diese Aporien nicht in einem wie auch immer gearteten Versöhnungshorizont aufzulösen, sondern als unendliche Aufgabe zu begreifen und zu gestalten.

(c) Andreas Hetzel

Andreas Hetzel ist Privatdozent für Philosophie an der Technischen Universität Darmstadt und vertritt zur Zeit eine Professur für Kulturphilosophie an der Universität Magdeburg.

Erstveröffentlichung des Beitrags in: fiph-Journal 17 (April 2011), S. 24-25.

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Beitragsthemen: Demokratie | Politik

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