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Schwerpunktbeitrag: Die Konkretheit des Metaphysischen. Sein und Gutes als unentbehrliche Fragen

Veröffentlicht am 15. Juli 2015

Foto Brague

Rémi Brague

Die Metaphysik hat lange Zeit als eine abstrakte und „lebensferne“ Wissenschaft gegolten. In dem bekannten Bild von Carl Spitzweg hat sich der ‚Bücherwurm‘ zur höchsten Stufe auf der Bibliotheksleiter hinaufgewagt. Vor ihm steht das Schild, das den Namen der ganzen Abteilung zeigt: „Metaphysik“. Diese Spitzfindigkeiten waren sowieso nutzlos, ja vielleicht sinnlos, wie der logische Positivismus eines Rudolf Carnap es behauptete.

Die Fortschritte der Naturwissenschaften und der durch sie ermöglichten und mit ihr eng zusammenhängenden Technologien zwingen uns jedoch zu einer Fragestellung, die letztendlich metaphysischer Natur ist, ja sie verleihen dem altehrwürdigen Wissenszweig eine unerhörte Brisanz, Konkretheit und Aktualität. Weit entfernt davon, dass wir in einem „nachmetaphysischen“ Zeitalter (Jürgen Habermas) leben, ist es vielmehr so, dass es ohne eine gewisse Form von Metaphysik keine Zukunft, ja überhaupt kein nach– geben kann.

Die Errungenschaften der Wissenschaft und der Technik liefern uns nämlich die Mittel, unser Dasein so radikal zu gestalten, dass seine Fortdauer nicht mehr automatisch, durch natürliche Wege verbürgt ist. Die Kernwaffen seit 1945, um nicht von raffinierteren Zerstörungsmitteln (Chemie, Biologie, Nanotechnologie, usw.) zu reden, die Umweltverschmutzung, die uns seit etwa den 1960er Jahren bewusst geworden ist, und die zu dieser Zeit entwickelten chemischen Verhütungsmittel haben uns Werkzeuge in die Hand gegeben, die ein endgültiges Auslöschen der gesamten Menschheit denkbar, ja durchaus machbar werden lassen. Ob der Untergang plötzlich eintritt oder die Folge eines langen Prozesses darstellt, ob er ausdrücklich geplant und gewollt ist, etwa in einem Krieg, oder ob er das Ergebnis eines misslungenen Experiments oder eines Unfalls bildet, spielt hier nur eine Nebenrolle.

Für das Überleben der menschlichen Gattung konnte man sich in den traditionellen Gesellschaften auf den biologischen Instinkt verlassen. In dieselbe Richtung wie der Trieb wirkte auch der soziale Druck. Beide arbeiteten zugunsten einer stabilen Ehe und einer Familie, in der die jüngere Generation für das Wohl ihrer der Arbeit nicht mehr fähigen Eltern sorgen sollte. Jetzt ist das kaum mehr möglich. In den industriellen, freiheitlichen Ländern und überall in den gebildeten Schichten der Welt besteht die Möglichkeit, frei über das Überleben der Menschheit zu entscheiden.

So setzt die Fortsetzung der menschlichen Abenteuer heute einen mehr oder weniger bewussten und ausdrücklichen Willen voraus. Das, was nach dem zum Volksdogma erhobenen vereinfachten Darwinismus das Ergebnis des Zusammenspiels blinder Mächte darstellt, die das Überleben des Lebensfähigsten durch natürliche Auslese hervorbringen soll, ist jetzt dazu verpflichtet, bewusst und willentlich weiter ins Dasein zu rufen.

Nun lohnt es sich, zu fragen, ob dieser Wille zum Überleben überhaupt gerechtfertigt werden kann. Dass das Dasein der Spezies „Mensch“ einen wünschenswerten Zweck darstellt, war bis jetzt ein Selbstverständliches, das man nicht zu hinterfragen, ja nicht einmal zur Sprache bringen brauchte. Heutzutage ist dagegen die Legitimität des Menschlichen ins Fadenkreuz geraten. Früher erschien der Mensch als von den übrigen Lebewesen radikal verschieden, als ihnen überlegen, als Krone der Schöpfung, als Gipfel, wenn nicht Endzweck der Leiter der Geschöpfe (Bibel, Renaissance), später endlich als dasjenige Wesen, dem es obliegt, die Natur zu erobern und zu beherrschen (Francis Bacon, Descartes).

Heute gilt er auch und eher als das Lebewesen, das das Dasein der übrigen Spezies, ja vielleicht das Leben auf der ganzen Erdoberfläche am meisten gefährdet. Der Mensch sei ein „Allesfresser“ (pamphagos) (so schon bei Plutarch), ja „das Untier“ (R. P. Horstmann). Er verdiene, zu verschwinden, damit die Erde ihre schöpferischen Kräfte wieder frei entfalten kann (der junge Flaubert, D. H. Lawrence, manche Strömungen der sogenannten deep ecology).

Alte Fragen gnostischer Färbung, die schon Schopenhauer wiederaufgenommen hatte, drängen sich dabei erneut ins Zentrum. Im Sog dieser Fragen kommen auch uralte, primitive, vorabrahamitische Formen der Religiosität, in denen Gaia, die Göttin Erde als „großer Fetisch“ (Auguste Comte) nach menschlichem Opferblut lechzt, wieder zum Vorschein. Manche Autoren bezweifeln sogar die Rechtmäßigkeit der Fortpflanzung, auch im Interesse der Nachkommenschaft: Sind wir befugt, Wesen ohne ihre Einwilligung ins Leben zu rufen, wenn wir nicht dafür bürgen können, dass sie glücklich sein werden (obwohl wir alles dafür tun sollen, damit sie ein gelungenes Leben führen), wohingegen wir denjenigen nichts böses antun, die ungeboren bleiben? (D. Benatar)

So müssen wir fragen: Inwiefern und in welchem Sinn ist das Dasein des Menschen gut? Welchen Begriff des Guten brauchen wir, um eine mögliche Bejahung des Menschen zu begründen? Dafür greifen die verwässerten Versionen des Guten unter denen wir im Alltag leben, wie der fun, das cool, das O.K. usw. offenkundig viel zu kurz.

Aber auch moralische Begriffe, selbst die erhabensten, sind hier unzureichend: Zwar erlauben sie uns, unsere Handlungen zu bewerten und ihnen die Richtschnur zu geben. Sie verlieren aber dort ihre Überzeugungskraft, wo von der Rechtfertigung nicht des Tuns und Lassens, sondern des Seins die Rede ist. Kant hatte eine Ethik entworfen, in der das Gesetz, und nicht mehr das Gute als Prinzip der Moral gelten durfte. Es diente nur zur Vervollkommnung des pflichtgemäßen moralischen Handelns, indem es Verdienst und Glück in Anschlag bringt. So hatte Kant die Ethik von ihrer jahrhundertlangen Bindung an das Gute losgelöst. Symmetrisch heißt es jetzt, das Gute von seiner Verengung in die Ethik zu befreien, um ihm seine metaphysische Breite wiederzugeben.

Das Gute, das hier auf dem Spiel steht, kann unmöglich ein „schwaches“ Gutes im Sinne des pensiero debole (Gianni Vattimo) sein. Vielmehr muss es sich in seiner stärkstmöglichen Fassung präsentieren und auswirken.

Der Mensch kann unmöglich ein ausgewogenes Urteil über seinen eigenen Wert fällen, da er notwendig voreingenommen ist (Sartre). Wir sind sowieso Menschen, wir sind sowieso schon am Leben, „nous sommes embarqués“ (Pascal) und können nicht so tun, als stünden wir außerhalb unserer eigenen Menschlichkeit und unseres jetzigen Daseins.

Der moderne Atheismus ist darauf aus, den Menschen auf sich selbst zu stellen, ihn „autonom“ zu machen. Ohne einen außermenschlichen Stützpunkt, ohne ein Archimedisches pou stan können wir aber die Legitimität des Menschlichen nicht begründen. Der Atheismus, der darauf pocht, auf so einen nicht-menschlichen Bezugspunkt Verzicht zu leisten, erweist sich als nicht imstande, überzeugende Gründe zugunsten der Existenz des Menschen anzugeben. In zwei Fällen kann man dies noch in Kauf nehmen, nämlich erstens solange man versucht, lediglich die Sachverhalte innerhalb der Welt zu beschreiben und deren Gesetze durch mathematische Gleichungen zu formulieren, ohne auf die „Hypothese Gott“ (Laplace), erst recht nicht auf den „Lückenbüßergott“ (Bonhoeffer) zu rekurrieren. Der Verzicht auf einen nicht-menschlichen Bezugspunkt kann auch dann noch durchgehen, wenn man plant, das friedliche Zusammensein der Menschen zu organisieren, ohne auf Transzendentes zu schielen, wie in unseren neuzeitlichen, nach den Religionskriegen entstandenen „säkularisierten“ Gesellschaften. In beiden Fällen ist ein methodologischer, nicht militanter Atheismus annehmbar, ja vielleicht sogar wünschenswert.

Wenn dagegen der Atheismus zum ersten Prinzip der Weltdeutung und zur obersten Regel des menschlichen Benehmens erhoben wird, bringt er unerwünschte Folgen mit sich. Seine immanente Logik mündet, wenn nicht in den gewaltsamen Tod der Gattung, doch in deren friedliches Aussterben (Rousseau).

Vor diesem Hintergrund gewinnen die Gedanken des Zusammenfallens des Seienden und des Guten, ja der Abhängigkeit des Seienden von dem Guten eine neue Relevanz. Beide sind in der Antike verwurzelt und kommen bei Platon und Aristoteles, dann in Augustinus mit voller Klarheit zum Ausdruck. In der mittelalterlichen Lehre der Konvertibilität der transzendentalen Eigenschaften des Seins (ens et bonum convertuntur) wurde diese Koinzidenz thematisiert. Früher noch liefert der erste Schöpfungsbericht am Anfang des Buchs Genesis mit der göttlichen Bejahung des Geschaffenen als „sehr gut“ (tov me’od) ein plastisches Modell der Überlegenheit des Guten. Ebenfalls, aber diesmal begrifflich, bringt dies der Platonische Gedanke des Überragens (epekeina) des Guten gegenüber dem Seienden zur Sprache.

Man könnte sich leicht einbilden, und manche soziologische Umfragen versuchen, uns das weiszumachen, dass der Atheismus derzeit einen Triumphzug durch ganz Europa feiere, ferner, dass er sich mit einer gewissen Verspätung vom „Kopf“ der Welt bis auf den ganzen Planeten erstrecken solle. Gedanklich ist er aber gescheitert, weil es ihm nicht gelingt, das Dasein des Menschen, „wie er geht und steht“ (Marx) zu begründen. Deswegen träumt er unter anderem von einer Ablösung des Menschen durch ein ihm überlegenes Wesen, das fähig wäre, eine völlig gottreine Welt zu ertragen (Nietzsche). Es ist an der Zeit, die Bilanz dieses Scheiterns zu ziehen.

© Rémi Brague

Rémi Brague ist Professor emeritus für Philosophie an der Universität Paris I (Panthéon-Sorbonne) und an der Universität München.

Erstveröffentlichung des Beitrags in fiph-Journal Nr. 21 (April 2013), S. 1, 3-4.

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1 Kommentar

  1. sehr gut

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