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Pro und Contra: Option Grexit?

Veröffentlicht am 5. August 2015

Andreas Mix

Pro: Andreas Mix

Die Hellenische Republik befindet sich in einer existentiellen Krise: Die Wirtschaft schrumpft im sechsten Jahr, die vielen Arbeitslosen bekommen keine Unterstützung, Kranke und Flüchtlinge keine angemessene Versorgung, Kinder bleiben hungrig, Depressionen und Suizide häufen sich. Die maßgeblich in Brüssel, Frankfurt und Berlin entworfene Austeritätspolitik fordert ganz wörtlich Leben. Es ist dies die Situation, in der ich die möglichen Vorzüge eines Ausscheidens Griechenlands aus der Eurozone (,Grexit‘) beleuchten möchte. Ich muss hierbei die Einschränkung vornehmen, dass ein Grexit die wirtschaftliche Krise in Griechenland aller Wahrscheinlichkeit nach zunächst weiter verschärfte. Er gäbe jedoch den griechischen Wählerinnen und Wählern und ihrem Parlament die souveräne Entscheidungsgewalt über die Verteilung von Lasten und Pflichten zurück.

In einem Interview mit dem New Statesman¹ gibt der gerade zurückgetretene ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis einige Einblicke in die Verhandlungssituation und -taktik der griechischen Regierung, die aufhorchen lassen. Insbesondere beschreibt er die quasi souveräne Macht der Europäischen Zentralbank (EZB), die im gegenwärtigen institutionellen Rahmen der Eurozone über die Mittel verfügt, die Regierungen von Gläubigerstaaten innerhalb der Eurozone zur Annahme von nahezu beliebigen Bedingungen der Gläubigerinstitutionen zu nötigen. Ich sage bewusst nötigen, denn zwingen kann die EZB gewählte Regierungen nicht. Aber in den Abgrund enteigneter Kleinsparer und einer in die Tauschwirtschaft abstürzenden Realwirtschaft blicken lassen, das kann die EZB sehr wohl.

Yanis Varoufakis sagt hierzu: “My view was – and I put this to the government – that if they [the ECB] dared [to] shut our banks down [as happened after the announcement of a Greek referendum on austerity], which I considered to be an aggressive move of incredible potency, we should respond aggressively but without crossing the point of no return” (New Statesman 13.07.2015). Der damalige Minister Varoufakis konnte sich jedoch mit seinem Vorschlag, insbesondere einer Re-Nationalisierung der Bank of Greece, im Kabinett nicht durchsetzen.
Dies impliziert, dass die Regierung Tsipras seit der Ablehnung von Minister Varoufakis‘ Vorschlag der faktischen Macht der EZB kein (theoretisches) Äquivalent mehr entgegensetzen kann und die Bedingungen für einen Verbleib in der Eurozone und der Zugänglichkeit griechischer Bankkonten nunmehr von den Gläubigern diktiert bekommt.

Diese Situation ist demokratietheoretisch überaus problematisch, da sie mit der Souveränität des Parlamentes (oder eines Referendums) den Kern der Legitimation liberaler Demokratie entwertet. Aktuell ist die Situation der Eurozone doch die, dass die Institutionen und die Exekutiven der Eurozone in Brüssel, hinter verschlossenen Türen und mit festem Blick auf ihre nationalen Machtinteressen, Verhandlungen führen, denen die faktische Macht der EZB die Verbindlichkeit von Gesetzgebungsprozessen verleiht. Die Ergebnisse Brüsseler Gipfel werden dann nur noch ex post facto und ohne die legitimatorische Kraft einer wirklich offenen Aussprache und geheimer Abstimmung den nationalen Parlamenten zur Billigung vorgelegt. Ein Weg aus diesem postdemokratischen Institutionengefüge, welches sich ja so auch erst in der aktuellen Krise eingespielt hat, scheint in der souveränen Anmaßung äquivalenter geldpolitischer Befugnisse durch die nationalen Parlamente zu bestehen.

Dies bedeutet nicht, dass ich den Grexit für eine attraktive Option der griechischen Regierung halte. Die existentielle Dimension der sozialen Krise in Griechenland verpflichtet jedoch dazu, dass auch eine breitere europäische Öffentlichkeit in eine Diskussion über die legitimatorischen Grundlagen der aktuellen Austeritätspolitik eintritt. Vor diesem Hintergrund halte ich die Möglichkeit eines Grexit mindestens für ein potentielles Recht Griechenlands und lehne die Verantwortung ab, die sich ergibt, wenn etwa Vertreter Deutschlands argumentieren, ein Grexit sei in den europäischen Verträgen nicht vorgesehen und somit unmöglich. Dies kann nicht sein, denn wenn es so wäre, verlöre die Eurozone endgültig ihre prozedurale demokratische Legitimation, die sich ja heute (wenn überhaupt) noch auf das Argument stützen kann, dass alle Euroländer freiwillig Mitglieder geworden sind und bleiben.

1 New Statesman (03.07.2015): Yanis Varoufakis full transcript: our battle to save Greece. In: https://www.newstatesman.com/world-affairs/2015/07/yanis-varoufakis-full-transcript-our-battle-save-greece; Aufgerufen am: 22.07.2015

Dipl.-Kfm Andreas Mix M.A. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen und war zuvor am Finanzplatz Frankfurt tätig.

Regina Kreide

Contra: Regina Kreide

Nächste Ausfahrt: Grexit?

Eines haben der linke Flügel von Syriza und der deutsche Finanzminister gemeinsam: Sie würden lieber früher als später Griechenlands Austritt aus der Eurozone sehen. Wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. Während sich erstere einen garantierten Schuldenschnitt, eine langfristige Erholung der griechischen Wirtschaft und vor allem eine realistische Alternative zur neoliberalen Austeritätspolitik erhoffen, ist Dr. Schäuble, wie die Griechen ihn mit hasserfülltem Respekt nennen, davon überzeugt, durch einen vorübergehenden oder auch permanenten „Grexit“ die finanzielle Stabilität des Euro zu erhalten. Beide liegen falsch.

Ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone würde mit Sicherheit zu einer verheerenden Kettenreaktion auf dem Finanzmarkt führen – mit unabsehbaren Folgen für alle Beteiligten. Einige Geldgeber spielen diese Risiken herunter. Sie gehen davon aus, dass nur ein Austritt Griechenlands das Vertrauen in die europäische Währung sichern könne, während sie die damit verbundenen Risiken wie das Wetten an den Börsen, welches Euroland als nächstes fällt, die wahrscheinliche Entwertung des Euro oder gar einen Euro-Crash für beherrschbar halten. Inzwischen ist nämlich ein regelrechter Wettbewerb zwischen den europäischen Nationalstaaten entbrannt, sich international als besonders vertrauenswürdiges Kreditland zu profilieren. Schon jetzt ist Europa tief gespalten in nordosteuropäische Länder einer Schuldenpolitik der „harten Hand“ und südeuropäische Länder, die eine flexiblere Handhabung von Schulden- und stimulierender Wirtschaftspolitik anstreben. Doch weder die Kreditwürdigkeit noch eine strikte Austeritätspolitik, die bislang, wie wir längst wissen, weltweit fast immer versagt hat, kann die europäischen Länder vor dem zu erwartenden Flächenbrand eines Euro-Kollapses schützen. Es besteht keine Brandmauer, so Joseph Stiglitz, langjähriger Chefökonom der Weltbank, die einige europäische Länder vor dem Niedergang des Euro schützen könnte.

Es gibt aber noch ganz andere, durchaus vorhersehbare Probleme eines „Grexits“. Würde Griechenland nach Austritt und Einführung einer neuen Währung ökonomisch in eine noch schwerere Rezession fallen, dann entstünde am Rande Europas ein „failed state“, der nicht nur katastrophale Lebensbedingungen für seine Bürger bringen, sondern ökonomische und geopolitische Begehrlichkeiten Chinas und Russlands wecken würde. Es entstünde ein internationales Gefahrenpotential, das Europa allein schon aus Eigeninteresse nicht aufkommen lassen sollte.

Innenpolitisch würde ein „Grexit“ zudem einen weiteren Zerfall des ohnehin stark angeschlagenen griechischen Staates vorantreiben, da der Aufbau funktionierender Strukturen Geld und Know-how bedarf, das nicht sofort vorhanden wäre. Ganz zu schweigen von einer noch massiveren Verelendung der Bevölkerung, deren Situation Jeffrey Sachs, Ökonomieprofessor an der Columbia University in New York, mit der Lage Deutschlands während der Krise zwischen 1930 und 1932 unter Reichskanzler Brüning vergleicht: Die Arbeitslosigkeit in Griechenland liegt bei 27%, unter den jungen Griechen bei fast 50%, und die Wirtschaftsleistung ist unter dem Spardiktat der letzten fünf Jahre um 30% eingebrochen. Für die Betroffenen eine unerträgliche Situation. Und eine brandgefährliche überdies. Denn es ist anzunehmen, dass von einer solchen Entwicklung weniger linke oder liberale politische Kräfte als vielmehr die extremen Rechten profitieren, die nicht nur in Griechenland auf dem Vormarsch sind.

Ein Griechenland jenseits der Eurozone könnte sich natürlich auch nach einer entbehrungsreichen Durststrecke wirtschaftlich erholen und dann zum Vorbild für andere Euroländer werden, die mit einem Austritt liebäugeln. Für die jetzigen Gläubiger ein Schreckgespenst, für einige Linke eine wünschenswerte Alternative. Aber niemand, außer den Griechen selbst, ist wirklich legitimiert, paternalistisch aus der weich gepolsterten Comfortzone heraus zu darüber urteilen, ob sie wirklich diesen glitschigen Weg durch die Sümpfe des Elends gehen sollten. Armchair-Politik kann noch verheerendere Auswirkungen haben als Armchair-Philosophie.

Ein „Grexit“ ließe noch etwas offenkundig werden: Damit würde eine endgültige und politisch gewollte Verabschiedung von einem Europa besiegelt, das innerhalb und jenseits seiner Grenzen für Solidarität, gleichen Wohlstand und Demokratie steht. Allerdings sieht es für diese Ideen auch ohne einen Austritt Griechenlands düster aus. Solidarität ist geschrumpft zur Kreditvergabe, die Ungleichheit innerhalb Europas ist stark angewachsen, die Zäune um Europa werden immer höher und die europäische Union ist auf dem Weg zu einem autokratischen, kapitalistischen Supranationalismus, dessen Eliten sich nebenbei gerade noch des Restpostens „Demokratie“ entledigen.
Der verlorene Kampf David gegen Goliath hat indes eines gezeigt: Finanz- und Wirtschaftspolitik ist nicht gegeben, sondern wird gemacht. Es gilt, sie zu verändern. Die europäische Wirtschafts- und Finanzfestung muss auch im Nordosten Europas zurückerobert werden, um Europa am Leben zu erhalten.

Prof. Dr. Regina Kreide ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte am Institut für Politikwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen

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2 Kommentare

  1. Varoufakis lässt in seinen aktuellen Äusserungen insbesondere aber in seinen Kommentierungen des Texts des Memorandums 3 (siehe: http://yanisvaroufakis.eu/2015/08/17/greeces-third-mou-memorandum-of-understading-annotated-by-yanis-varoufakis/ ) erkennen, dass die Frage pro oder kontra Grexit lediglich eine rhetorische sei, zumal sich aus den erpresserischen Bestimmungen dieses Vertrags zwingend ergäbe, dass Griechenland in eine Situation getrieben würde, die den Grexit als unvermeidbare Folge mit sich bringen würde. Diese Argumentation lässt auch Schäubles Einsatz zugunsten der Annahme dieses Vertragstexts in einem anderen Licht sehen, da der selbsternannte Zuchtmeister der Eurozone daher ja darauf bauen kann, dass seine Absicht, Griechenland aus dem Euro zu drängen, sich mittelfristig jedenfalls realisieren wird.

  2. Ein sehr informativer Artikel. Viele kennen zwar den Begriff Grexit, aber was es tatsächlich für Vor- oder Nachteile mit sich bringt, dass wissen nur die wenigen. Da ist dieser Artikel hier eine richtig große Hilfe, um sich ausführlicher über dieses Thema zu informieren.

Beitragsthemen: Demokratie | Europa

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