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Die Unparteiischen in der Parteiendemokratie. Das Verfassungsgericht als Hüter der Legitimität?

Veröffentlicht am 3. September 2015

Ein richtiger Dauerbrenner in Diskussionen um politische Kultur, Kirche und Staat, Demokratie und ihr Wesen sowie vordemokratische Grundlagen ist das sogenannte Böckenförde-Paradoxon, manchmal auch Böckenförde-Diktum genannt. Dieses besagt: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ (Böckenförde 2006, S. 112) Selten wird auch der zweite, zu diesem Diktum gehörende Satz hinzugefügt, nämlich: „Das ist das Wagnis, das er um der Freiheit Willen eingegangen ist“ (ebenda). Eine Ausnahme bildet ein kürzlich in der FAZ erschienener Artikel. Meist jedoch konzentriert man sich auf den ersten Teil des Paradoxons und die damit im Hinblick auf das Wesen der Demokratie getätigten Grundannahmen.

Denn, wenn Demokratien ihre Voraussetzungen nicht selbst produzieren können, bedarf ihr Fortbestehen vor- oder apolitischer, zumindest vor-staatlicher und vielleicht sogar vor-demokratischer Faktoren. Und hierüber lässt sich lange und sehr klug streiten. Während es Böckenförde in dem Text, dem das Zitat entstammt, um Religion und Staat geht, lassen sich auch andere Erfolgsfaktoren für eine demokratische Staatlichkeit finden, die nicht direkt zur Disposition des besagten Staates stehen. Hierzu zählen ließen sich etwa die wirtschaftliche Lage und der gesellschaftliche Wohlstand. Auf diese Faktoren kann ein Staat zwar einwirken, sie aber nicht komplett kontrollieren. Sie sind ihm zu einem gewissen Maße entzogen. Aber auch andere Legitimationsquellen des demokratischen Staates, wie etwa die vorherrschende politische Mentalität in einer Gesellschaft, lassen sich nur bedingt staatlicherseits beeinflussen. Hier setzt eben die Diskussion um Demokratieverträglichkeit oder Demokratieförderlichkeit religiöser Einstellungen an. Noch paradoxer wird das Böckenförde-Paradoxon, wenn man weiß, dass Ernst-Wolfgang Böckenförde, sein Urheber, Teil jener Institution in der Bundesrepublik Deutschland war, deren Geschichte und Beliebtheit dem Paradoxon einerseits widersprechen, es zugleich aber zu bestätigen scheinen: des Bundesverfassungsgerichtes.

Dieses liegt in Umfragen zum Institutionenvertrauen regelmäßig weit vor Regierung, Parlament und vor allem den Parteien. So etwa in dieser Umfrage. Gerade dasjenige oberste Bundesorgan, welches am wenigsten mit Politik und Mehrheitsmeinung in Verbindung gebracht wird, genießt am meisten Vertrauen und Unterstützung. Die anscheinend apolitische und rein juristische Arbeitsweise des Verfassungsgerichtes ist seine Legitimationsquelle.
Freilich ist das Gericht nicht so apolitisch, wie es vielen scheint, denn Richter sind Interpreten und keine Gesetzinterpretationsautomaten. Die Verfassung als Verschränkung von politischem und juristischem System hat zudem immer politische Gehalte. Und auch die sogenannte negative Gesetzgebung der Verfassungsgerichte durch Interpretation der Verfassung und das darauf basierende Verwerfen von Gesetzen ist Gesetzgebung. Und schließlich sind die Entscheidungen des Gerichtes auch innerhalb der Senate keinesfalls unstrittig und völlig klar.
Dennoch: Das Bundesverfassungsgericht befriedigt anscheinend durch sein apolitisches Image Bedürfnisse, die sonst nur schwer mit der Realität eines pluralistischen, demokratischen Regierungssystems in Einklang zu bringen wären. Auch aktuell nehmen die Verfassungsrichter an, dass ihnen das „apolitische Image“ (Kranenpohl 2010, 409) ihrer Institution Legitimationsvorsprünge gegenüber den anderen Bundesorganen beschert. In einem durch den Politikwissenschaftler Uwe Kranenpohl anonym durchgeführten Interview problematisierte ein Verfassungsrichter das Vertrauen, das dem Gericht aus diesem Grund entgegengebracht wird, etwa als „die Suche nach einem Ersatzkaiser! […] Das ist tendenziell ein Rückfall in Autoritätsgläubigkeit“ (Kranenpohl 2010, 409). Neben der Bedeutung dieser „vordemokratischen Legitimationsquelle“ (ebenda) sind sich die Richter auch über die positive Auswirkung der Anti-Parteien-Mentalität auf ihre Institution bewusst und reflektieren diese durchaus kritisch.

Trotz dieser Problematik wäre zu fragen, ob die vordemokratische Legitimation des Verfassungsgerichtes der Legitimation des demokratischen Staates nicht sogar nützt. Vielleicht ist es gerade das autoritative, unpolitische Verfassungsgericht, das viele Menschen, die falsche Erwartungen an die Arbeitsweise pluralistischer Demokratien haben, mit der Realität der Parteiendemokratie versöhnt. Zu fragen wäre konkret: Ist das Bundesverfassungsgericht Hüter der politischen Legitimität?
Zudem wäre zu fragen, ob das Verfassungsgericht den anderen Institutionen das Vertrauen schlicht abspenstig macht, oder auch, ob seine Inszenierung politischen Mentalitäten in die Hände spielt, die Vertrauen beispielsweise in Parteien systematisch ausschließen. Ob das Verfassungsgericht also die Anti-Parteien-Mentalität, die zu seiner Beliebtheit beiträgt, reproduziert.
Da Vertrauen in Institutionen keine materielle Ressource ist, die zwischen den Institutionen eines Gesamtsystems verteilt wird, ist nicht zu vermuten, dass das Verfassungsgericht anderen Verfassungsorganen das Vertrauen entwenden oder abgraben würde. Wohl aber kann konstatiert werden, dass die Popularität des Gerichts sich aus derselben Quelle speist wie die Unbeliebtheit von Parlament, Regierung und Parteien, nämlich dem Anti-Parteien-Affekt und der Ablehnung legitimen politischen Streits zwischen den Vertretern partikularer Interessen. Dieser weit verbreiteten negativen Grundeinstellung gegenüber Parteien und politischem Streit müsste zuvorderst entgegengetreten werden, um dauerhafte breitere Zustimmung auch für die dezidiert parteipolitischen Bundesorgane zu gewinnen.
Ob dieses Ziel erreicht werden kann, etwa durch politische Bildung, darf im Hinblick auf die lange, kaum gebrochene Tradition der „Parteienprüderie“ in Deutschland bezweifelt werden. Solange dieses grundlegende Problem der politischen Kultur in Deutschland jedoch nicht behoben ist, wäre auch durch ein anderes Verständnis des Verfassungsgerichts nichts gewonnen. Bis sich bezogen auf das Verhältnis zu den Parteien ein Wandel in der politischen Kultur eingestellt hat, bleibt es bei der paradoxen Situation, dass das Bundesverfassungsgericht, eine sich auch aus der Ablehnung der Parteien speisende Legitimation für das gesamte politische System, und damit auch für die parteipolitisch geprägten Verfassungsorgane, generiert.

Dominik Hammer (c)

Verwendete und weiterführende Literatur

Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, S. 92-114. In: Ders. (Hrsg.): Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, erweiterte Auflage, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006

Fraenkel, Ernst: Historische Vorbelastungen des Deutschen Parlamentarismus. In: von Brünneck, Alexander (Hrsg.): Ernst Fraenkel. Deutschland und die Westlichen Demokratien. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, Erweiterte Ausgabe, 2. Auflage 1991, S. 23-47

Frankenberg, Günter: Hüter der Verfassung einer Zivilgesellschaft. In: Kritische Justiz, Jg. 29, Heft 1, 1996, S. 1-14

Kelsen, Hans: Vom Wesen und Wert der Demokratie. Scientia Verlag Aalen, 2. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1929, 1981

Kelsen, Hans: Wer soll der Hüter der Verfassung sein. Abhandlungen zur Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit in der pluralistischen, parlamentarischen Demokratie. Hrsg. v. Robert Chr. van Ooyen. Neuausgabe. Mohr Siebeck. Tübingen 2007

Kranenpohl, Uwe: Hinter dem Schleier des Beratungsgeheimnisses. Der Willensbildungs- und Entscheidungsprozess des Bundesverfassungsgerichts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 1. Auflage 2010

Patzelt, Werner J.: Warum verachten die Deutschen ihr Parlament und lieben ihr Verfassungsgericht? Ergebnisse einer vergleichenden demoskopischen Studie. In: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 36. Jg., Heft 3, 2005, S. 517-538

Piazolo, Michael: Ein politisch Lied! Pfui! Ein Garstig Lied? Das Bundesverfassungsgericht und die Behandlung von politischen Fragen. In: van Ooyen, Robert Chr./Möllers, Martin H.W. (Hrsg.): Das Bundesverfassungsgericht im politischen System. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2006, S. 293-303

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