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Schwerpunktbeitrag: Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt – Hinführung zu einem Projekt

Veröffentlicht am 9. November 2015

Foto Gleixner

Wolfgang Gleixner

Die Philosophie des 20. Jahrhunderts hat sich ausführlich mit der Großstadt, dem ‚großstädtischen Leben‘ und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Folgen auseinandergesetzt. Auch für die Psychologie, vor allem für die Psychoanalyse, und besonders eindringlich und phänomenologisch bemerkenswert für die Kunst und die Literatur war die Großstadt Thema. Ein ganzer Fächer sehr unterschiedlicher Perspektiven, Interessen und Intentionen entstand – sehr oft kritisch, aber auch zustimmend, sogar fasziniert von der Gestalt und Gestaltung der Großstadt. Dem neuen Genre „Großstadtliteratur“ zwischen ästhetischer Gesellschaftskritik, Lebensphilosophie und Phänomenologie, zwischen Futurismus und Expressionismus, war die Großstadt ein Faszinosum und Tremendum, ersehntes Jerusalem oder befürchtetes Babel.

Die Intention der existenziellen Phänomenologie ist davon grundsätzlich verschieden. Sie bleibt ausgerichtet auf die Entfaltung einer philosophischen, ausdrücklich existenziellen Grundlagenforschung. Mögen die philosophischen Moden auch sein, wie immer sie wollen. Mein Interesse ist es, einen Beitrag zu leisten für den von Edmund Husserl in seinem bekannten Aufsatz „Philosophie als strenge Wissenschaft“ ausgerufenen, ‚Generationenvertrag der Phänomenologen‘. Mitzuarbeiten an einem sicheren Bau der Philosophie – um des konkreten Menschen willen. Das ist ein Gemeinschaftsprojekt, das auf wesentlichen und wirklichen Fundamenten aufruht.

Auch in einer Phänomenologie der Lebenswelt Großstadt wird der wirkliche Mensch, der leidet, sich ängstigt, hofft, liebt und glaubt, als Grund und Ziel des Philosophierens verhandelt. Phänomenologie wird also gesetzt als ‚philosophische Grundlagenforschung der Existenz‘. Sie bleibt ausgerichtet, hin-geordnet auf letztmögliche Gründe. Ausdrücklich ‚letztmöglich‘, nicht ‚letztgültig‘!

Das braucht einen philosophischen Anfang. Einen Anfang, der nicht mehr weiter sinnvoll hinter-denkbar ist. Dieser Anfang ist das Fundament, das die endlose, aber zielgerichtete Arbeit des Philosophierens zu tragen hat. Dieser Anfang ist nicht ein beliebiger Beginn. Also beispielsweise irgendein Rückgriff auf diese oder jene philosophische oder wissenschaftliche Tradition, auf diese oder jene durch die Geschichte bereitgestellte Vorlage. Dieser Anfang darf ebenso wenig von diesem oder jenem Philosophen (auch nicht von Husserl) auf Vertrauen hin übernommen werden. Denn: Phänomenologie ist systematisches, in allem selbstverantwortetes Philosophieren.

Die Forderung, die wir an uns stellen, ist wirklich schlicht, – einfach selbstschauen! In einem ersten methodischen Schritt ist dabei auch unser ‚Vorwissen‘ einzuklammern und außer Geltung zu setzen. Was bleibt angesichts einer solchen geradezu philosophischen Armut? Womit nun anfangen? Mit dem Anfangen selbst! Also mit unserem drängenden Gerichtet-sein auf, mit einem Fundament, das ‚uns‘ wirklich-wesentlich trägt. Folge ich ausdrücklich diesen meinen Akten der Reflexion, meinen existenziellen Intentionen, kann ich (gleich was sonst noch in meinen Blick tritt) mir selbst als diesem wirklichen Dasein mit diesen wirklichen Interessen nicht ausweichen. Ich selbst als ‚dieser Da‘, als leibhaft wirklich, komme hier von Anfang an unübersehbar wirklich mit ins philosophische Spiel.

Das von uns für uns gesuchte Fundament, diese philosophische Herausforderung, ist nicht irgendetwas Abstraktes, etwas fernes Unbedingtes, transzendent Absolutes, Unwirkliches, – sondern ich werde schlicht durch mich auf mich selbst verwiesen. Ich bin als dieses wirklich leibhafte Da, die wesentliche philosophische Herausforderung für mich selbst.

Wir haben den Blick fest auf die Entfaltung einer phänomenologischen Anthropologie gerichtet. Sie ist die gesuchte philosophische Grundlagenforschung. Für Husserl wäre das im Übrigen ein Verrat an der Phänomenologie. Aber, schauen wir selbst. Der Mensch in und mit seiner Wirklichkeit ist das wirklich wesentliche und wesentlich wirkliche Fundament, ist der gesuchte Anfang jeder philosophischen (auch jeder wissenschaftlichen) Arbeit. Selbst jede Intention eines Darüber-hinaus bleibt letztendlich an das leibhaft endliche Dasein gebunden.

Diesen wesentlich wirklichen Menschen setzt die existenzielle Phänomenologie als Dasein. Das Dasein ist wesentlich wirkliches In-der-Welt-sein. Wie immer wir im Einzelnen das weiter entfalten, eines ist sicher: Ich bin nie anders als leibhaft, sinnenhaft, zeitlich und räumlich konkret eingefaltet in eine, konkret eben in meine wirkliche Lebenswelt. Schon der simpelste Akt einer Dingwahrnehmung (also aufmerken, aus dem Hintergrund lösen, fokussieren, zur Kenntnis nehmen, einordnen, sich lösen usw.) ist ein komplexes ausdrücklich leibhaftes intentionales Gebilde – meine Gestaltung in und mit meiner wirklich wirklichen Welt. Und diese ‚leibhafte Intentionalität‘, mit der ich als Da-in-der-Welt bin, entfaltet eine konstitutive Potenz – nicht abstrakt, nicht allgemein, sondern lebensweltbezogen konkret.

Das ist noch eine sehr allgemeine Bestimmung des Daseins als Da-in-der-Welt-sein. Sie braucht eine phänomenologische Entfaltung. Phänomenologisches Entfalten heißt konkret verwirklichen. Das ‚Wirkliche ist wesentlich‘ und das Wesentliche ist nie anders als wirklich. Das heißt für den Phänomenologen Ausschau halten nach der wirklich wirklichen Lebens-Welt, in und mit der das Dasein hier und jetzt ist. Also wirklich, wesentlich und ganz und gar ein So-sein-in, ein so-und-nicht-anders-mehr-sein.

Vor unseren Augen entfaltet sich das gesuchte Fundament unseres Seins und Denkens, das (so haben wir es vorgezeichnet) auch der wesentlich wirkliche Anfang des Philosophierens ist: Unsere schlicht gegebene Lebenswelt.

Diese Lebenswelt ist immer schon eingeführt, gezeichnet, gestaltet als eine wesentlich wirkliche Wirklichkeit, ‚unsere‘ Lebenswelt hier und jetzt. Husserl und Heidegger haben hier die Richtung gewiesen. Aber es reicht nicht aus, ihnen einfach zu folgen. Schauen wir, dem phänomenologischen Ethos entsprechend, selbst genau hin. Wir leben, arbeiten, leiden, lieben, sterben nicht in einer Lebenswelt an und für sich. Wir sind nicht irgendein abstraktes Da-in-der-Welt-sein (als erkenntnistheoretisches Fundament, als ontologisches Prinzip). Sondern wir existieren, sind wirklich in unserer (die Interpersonalität wäre hier ein eignes zu entfalten) wirklichen Welt. Denken wir diesen Gedanken konsequent zu Ende. Nicht eine abstrakt eingeführte Lebenswelt ist Fundament unseres Daseins, unseres Wahrnehmens, Erkennens, Fühlens, ist Horizont unseres Krank-seins, unserer Kunst und Religion, sondern eine wirkliche, gestaltete, durchformte Lebenswelt als unser wirklich wirkliches Da-in-der-Welt-sein.

Hier gilt es phänomenologisch genau hinzuschauen und sich nicht durch die ‚großen Gedanken‘ idealistisch gerichteten Philosophierens die Wirklichkeit zu verstellen. Diese phänomenologische Setzung ist keineswegs ein ‚naiver Weltglaube‘. Sondern die wirkliche Lebenswelt reflektiert sich für uns als unser fundamentales, nicht weiter hinterdenkbares Da-in-der-Welt-sein. Das ist im Übrigen auch der Grund der phänomenologischen Aufhebung der neuzeitlichen Trennung von Subjekt und Objekt.

Diese wesentlich wirkliche Lebenswelt ist nicht diese oder jene ‚Umwelt‘ eines Menschen. (Heute bin ich in München; gestern war ich in Hannover). Also kein ‚Außen-Horizont‘, der ein in sich geschlossenes, durch eindeutige Grenzen bestimmtes Individuum umgibt. Sie ist nicht nach der Art aufzufassen, wie ein Handschuh eine Hand umschließt; nicht als eine Umgebung, die zurückgelassen, wiederaufgesucht, eingetauscht werden könnte. ‚Wesentlich wirkliche Lebenswelt‘ ist ein intentionales Geflecht. Ausdrücklich also nicht nur von einem ‚Subjekt‘ aus auf diese oder jene irgendwie vorliegende ‚Objekte‘ gerichtet und bezogen, wie es einer nach wie vor umlaufenden Deutung der Intentionalität entspricht. Sondern Intentionalität ist ein komplexes, systemisch rückgekoppeltes Gefüge. Sie ist als ein aktives und passives, willkürliches und unwillkürliches Aktgeflecht, in dem ich selbst wesentlich wirklich, ganz und gar leibhaft, als Da-in-der-Welt-sein, ein- und ausgefaltet bin; das also unsere Welt- und Daseinsgestaltung zugleich entwirft und vorführt. Intentionalität, existenziell phänomenologisch gefasst, ist also keineswegs ein bloßer einfacher Strahl hin zu diesen oder jenen ‚Weltstücken‘, nicht die ‚Fassung‘ ihrer ‚theoretischen‘ Bedeutungen. Sondern dieses So-wahrnehmen, fühlen (was auch immer) wirklich wirklicher Weltgestalten und Weltgestaltungen reflektiert repulsiv das Dasein, das eben selbstverständlich in und mit seiner Welt mitschwingt und von dort her wesentliche Form und Geltung erhält.

‚Lebenswelt‘ und ‚Da-in-der-Welt-sein‘ können wir phänomenologisch gleichsetzen. Somit ist Daseins-Analyse Lebenswelt-Analyse – und umgekehrt. Das hat – vorausgesetzt es wird zur Kenntnis genommen – Folgen für Psychologie, Medizin, Psychiatrie und nicht zuletzt für die Theologie.

Eines liegt nun auf der Hand. Lebenswelt als diese unsere wesentlich wirkliche Wirklichkeit, als Gestalt und Gestaltung unseres Da-in-der-Welt-seins, ist nicht nur erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch bedeutsam. Sondern darüber hinaus und existenziell fundamentaler: erfasst und verdichtet sie unser Dasein als endliches, endgültiges So-in-dieser-Welt-sein, als so-in-dieser-Zeit-sein – so und nicht mehr anders. Selbst noch die Gestaltungen, die ich ausschließlich mir selbst zuschreibe, als etwas bloß für mich und sonst niemanden Wirkliches, – denken wir beispielsweise an den Traum oder den Wahn – fallen als Handeln oder Erleiden, als willkürlich oder unwillkürlich, als ein von mir als Da-Sein, als Da-in-der-Welt-sein, so bestimmter Fächer, nicht aus ‚unserer‘, uns gemeinsamen wirklichen Lebenswelt heraus.

Das also ist wirklich und wahrhaftig unser zuerst und zumeist als selbstverständlich und fraglos vorausgesetztes und hingenommenes Fundament, das jeder Praxis vorausliegt, sowohl (darauf weist Husserl immer wieder hin) der Praxis des Lebens als auch der theoretischen Praxis des Erkennens und der Wissenschaft.

Nur mit aller Vorsicht kann hier überhaupt noch phänomenologisch unterschieden werden zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Unsere wirkliche Lebenswelt ist für uns nun das wesentlich-wirklich Nicht-Hinterdenkbare, ist unsere Gestalt und Gestaltung unseres Daseins als Da-in-der-Welt-seins. Also immer mit ‚im Spiel‘, wenn wir denken, handeln, forschen – oder philosophieren. Sage ich ‚Ich‘ – sage ich ‚Ich-in-dieser-wirklichen-Welt‘, in dieser Welt und in keiner anderen.

Noch ein kleiner Ausblick. Der Begriff ‚Lichtung‘ ist durch Heidegger in das Philosophieren eingeführt worden. Übernehmen wir den Begriff (oder das Bild), aber nicht eine der umlaufenden Deutungen. ‚Lichtung‘ sei hier der phänomenologisch fassbare ‚Bezirk‘ des Da-in-der-Welt-seins. Der einzig wirkliche Ort, die ‚innere‘ und ‚äußere‘ Ortschaft des für mich wirklichen und möglichen Da.

Und das ist für uns hier und jetzt die Lebenswelt Großstadt. Denken wir ‚Großstadt‘ eben nicht wie üblich historisch, soziologisch, ökonomisch, archetektonisch. Die Lebenswelt Großstadt ist phänomenologisch hier nicht mehr ein ‚Außen-Raum‘, den wir verlassen, eine ‚Umgebung‘, die wir zurücklassen könnten. Sie ist die internalisierte, selbstverständliche Gestalt und Gestaltung unseres Existierens. Hier verwirklichen und zeigen sich nun alle Möglichkeiten und Wirklichkeiten eines Existierens. So ist (beispielsweise) die Kunst der Moderne die Kunst der Lebenswelt Großstadt, oder das religiöse Leben hier und jetzt ‚sammelt‘ sich als Religiosität der Lebenswelt Großstadt. Kurz, knapp, konsequent: Beschäftigen wir uns mit der Lebenswelt Großstadt, – dann reflektieren wir unser Da-in-der-Welt-sein.

© Wolfgang Gleixner

Dr. Wolfgang Gleixner ist Coach und Organisationsberater.

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Beitragsthemen: Anthropologie | Öffentlichkeit

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