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Schwerpunktbeitrag: Die politische Repräsentation und ihre Krise

Veröffentlicht am 1. Februar 2016

Vester, Foto

Michael Vester

Der Schlüsselbegriff der „Repräsentation“ hat, je nach Perspektive, verschiedene Bedeutungen. Er bezeichnet, etwa im Französischen, insbesondere die Vorstellungen, die Menschen von einem Gegenstand haben, und diese können sehr verschieden sein. In der politischen Theorie ist die Vertretung bestimmter Personen oder Personengruppen durch andere gemeint. Vertretene und Stellvertreter, Vorstellungen und Vorgestelltes sind nicht dieselben und können voneinander abweichen oder gar in krisenhaften Spannungen zueinander stehen.

Wenn die Wählerinnen und Wähler sich von Parteien abwenden, so heißt dies, dass sie ihre Vorstellungen in diesen nicht mehr hinreichend vertreten sehen. Dies ist nicht ein Problem, das einfach durch Diskurs und Diskussion gelöst werden könnte – etwa in dem Sinne, dass man nur lange genug miteinander reden müsste, um zu einer gemeinsamen Auffassung zu kommen. In einer Gesellschaft, in der die Menschen verschiedene soziale Stellungen einnehmen, ist es notwendig und unvermeidbar, ja sogar sinnvoll, dass die Menschen auch verschiedene Interessen und Sichtweisen haben.

Die Gesellschaft gliedert sich in verschiedene soziale Gruppen und Milieus und in verschiedene politische Lager, die Kontrahenten sind, das heißt miteinander kämpfen und ebenso auch miteinander Kompromisse schließen. Sie tun dies über ein System der Repräsentation, und zwar gleich doppelt, auf zwei verschiedenen Ebenen. Die erste Ebene ist die gesellschaftliche: das Konflikt- und Aushandlungssystem der Interessengruppen und -verbände im sogenannten korporativen Vertretungssystem. Die zweite Ebene ist die politische: das Konflikt- und Aushandlungssystem der politischen Parteien im System der repräsentativen Demokratie.

Beide Vertretungssysteme sind ihrerseits in sich komplex, unter anderem durch die Stufung in kommunale, föderale, nationale und sogar übernationale Vertretungs- und Aushandlungsebenen. Durch diese Komplexität sind die Vertretungen zwar potenziell überall in Berührung mit der lebendigen Vielfalt der sozialen Bedürfnisse, Interessen und Tätigkeiten. Aber sie unterliegen auch einer Gegentendenz, nämlich der Schwerkraft einmal etablierter Verhältnisse der Macht und Eigenmächtigkeit, der Gewohnheiten und auch der gewollten und ungewollten Abschottungen gegen Einblicke von außen. Damit entsteht das Problem der Verselbstständigung der Repräsentanten gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern, der Intransparenz und der Bildung von „Oligarchien“, also von „Klüngeln“, die kaum noch kontrolliert werden. Diese Erstarrungen machen einen Teil der Krise in den Beziehungen zwischen dem Volk und seinen Vertretern aus.

Von unten oder von außen können diesen Erstarrungen zwar – potenziell – immer wieder Bewegungen mit dem Ziel von Erneuerungen entgegengesetzt werden. Diese Bewegungen müssten aber aus der Gesellschaft selber kommen. Die soziale Gliederung, die „oben“ – auf den beiden Ebenen der korporativen und der parlamentarischen Repräsentation – repräsentiert werden soll, ist jedoch seit einiger Zeit durch einen tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Wandel und entsprechende Konflikte in Bewegung gekommen. So verschieben sich die Gewichte zwischen den sozialen Gruppen und auch die Passungen zwischen ihnen und den sie vertretenden gesellschaftlichen Interessenverbänden und politischen Parteien.

Als Ausdruck der Krise zwischen Repräsentierenden und Repräsentierten gilt seit Beginn der 1990er Jahre die sogenannte politische Verdrossenheit, der Mangel an Vertrauen in „die Politiker“, die aus dieser Perspektive eher an sich selbst als an die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger denken. Diese Unzufriedenheit, um 1980 nur wenig über 10 Prozent, wird seit etwa 1990 auf etwa 60 Prozent gemessen und hat sich seitdem in dieser Höhe verfestigt. Bei den Zwischenwahlen für die Landtags- und Kommunalparlamente in den 1990er Jahren begannen die Verluste der damaligen Regierungspartei CDU zu steigen, aber dies nützte der oppositionellen SPD wenig; denn die bürgerlichen Wähler wechselten weniger zu ihr als zu den Nichtwählern und zu den ‚Grünen’. Dies reichte zwar, um 1998 eine rot-grüne Koalition an die Macht zu bringen. Aber unter dieser verlor die SPD ihrerseits noch mehr Vertrauen als vor ihr die CDU/CSU. Von dem großen rotgrünen Wählerpotenzial findet sich inzwischen mehr als die Hälfte bei den ‚Grünen’, bei der Linkspartei und nicht zuletzt bei den Nichtwählern wieder.

Umfragen weisen darauf hin, dass die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, den politischen Parteien ihr Vertrauen oder Engagement zu schenken, im Wesentlichen auf dem niedrigen Pegel von etwa 40 Prozent beim Vertrauen und etwa zwei Prozent beim aktiven Mitarbeiten ist. Ich möchte näher auf drei Punkte eingehen, in denen Erklärungen für die Krise der politischen Repräsentation gesucht werden.

In meinem ersten Punkt geht es um den Gegensatz von Argumenten und Interessen. Der politische Verdruss der Wählerinnen und Wähler wird darauf zurückgeführt, dass politische Entscheidungen vorab zwischen Machtinteressen „hinter den Kulissen“ ausgehandelt werden anstatt durch eine rationale öffentliche Argumentation. Hier stehen sich zwei Konzepte gegenüber: auf der einen Seite das Ideal eines Marktmodells rationaler Argumente, auf dem sich die besten Argumente durchsetzen; auf der anderen Seite die Praxis des Aushandelns zwischen Interessengruppen, in der der Erfolg vom Machtpoker abhängt. Dies entspricht dem klassischen Gegensatz von Geist und Macht. Dieser ist in gewisser Weise mit dem Gegensatz zwischen bestimmten sozialen Milieus verbunden. Die Angehörigen der intellektuellen Berufe, die auch mit Interessenverbänden nicht so direkt verbunden sind, setzen auf das Individuum und die Rationalität seiner Argumente. Die Angehörigen anderer Gruppen, die z.B. als Arbeitgeber oder Arbeitnehmer interessenbezogen denken, halten es hingegen für selbstverständlich, das Gewicht ihrer sozialen Gruppen auch wirksam zur Geltung zu bringen und mit den anderen Interessen auszubalancieren.

Die klassischen Begründer der politischen Sozialwissenschaft, Max Weber und Emile Durkheim, sehen hier nicht unbedingt einen Gegensatz zwischen „demokratisch“ und „undemokratisch“. Sie erinnern daran, dass die moderne Demokratie letztlich auf die politische Selbstvertretung der Berufsgruppen zurückgeht, wie sie im korporativen System der antiken und der mittelalterlichen Städte erkämpft worden ist. Die Interessenpolitik ist demnach kein zu vermeidendes Übel, sondern der notwendige Unterbau der Repräsentation durch politische Parteiungen. Es komme nur darauf an, das Aushandlungssystem, in dem vieles vorentschieden wird und sich Oligarchien herausbilden, durchsichtiger, offener und umfassender zu machen, also dem Einfluss und den Argumenten von nicht vertretenen Gruppen – wie einst den Gewerkschaften, den Frauen, den Bürgerbewegungen – mehr Geltung zu erkämpfen.

Ein zweiter Aspekt der Erklärung für die Krise der politischen Repräsentation bezieht sich auf die Schere zwischen parteipolitischem und bürgergesellschaftlichem Engagement. Auf der einen Seite steht die Zurückhaltung von (mindestens) 98 Prozent der Bevölkerung, in einer politischen Partei aktiv mitzuarbeiten. Auf der anderen Seite ist aber zu beobachten, dass etwa 30 Prozent der Bevölkerung sich sehr wohl über ehrenamtliche Aufgaben unterhalb der parteipolitischen Ebene sozial und gesellschaftspolitisch engagieren. Das Problem liegt demnach weniger im mangelnden Interesse an anderen Menschen (also der sogenannten Individualisierung) und auch nicht allein in Überlastungen oder politischem Nichtwissen. Es besteht, so betont der französische Soziologe Pierre Bourdieu (Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 1982, S. 620-726), in einer Art Bruch zwischen der Alltagswelt mit ihrer sozialen Nähe und der Welt der politischen Institutionen. Diese machen, mit ihren verwaltungstechnischen, finanziellen, juristischen und intellektuellen Fachdiskursen, die politische Sphäre zu einer Welt der hauptberuflichen Politik, die nur gelernten Experten, Berufspolitikern und Angehörigen der höheren Bildungsmilieus vertraut sein kann.

Aber das muss nicht zwingend zu einer „Entpolitisierung“ führen. Zwar können sich, infolge der Trennung in Berufspolitiker und politische Laien, nur wenige aktiv engagieren. Aber es könnten trotzdem mehr Menschen zur Wahl gehen oder auf andere Weise ihre Meinungen und Interessen kundtun, also sich repräsentieren lassen oder ihre Repräsentanten mit eigenen, staatsbürgerlichen Initiativen unter Druck setzen. Man muss nicht Schuster sein, um in Schuhen zu gehen, bemerkte einst Max Weber – so wie wir als Laien kompetent ein Auto fahren können, ohne genau zu wissen, wie es konstruiert wird.

Eine Verbindung der beiden Sphären der Alltagswelt und der politischen Institutionen ist dann möglich, wenn es einzelnen Politikern durch ihren Stil und persönlichen Einsatz, durch ihren Habitus und ihre Praxis gelingt, eine Identifikationsmöglichkeit zu schaffen. Das auf diese Weise gewonnene Vertrauen kann aber, besonders von den heutigen skeptischen Bürgerinnen und Bürgern, auch wieder entzogen werden, wie dies dem Bundeskanzler Schröder widerfahren ist. Vertrauen ist wie ein Scheck. Wenn er nicht durch das Einhalten der Versprechungen eingelöst wird, sehen sich die Menschen geprellt.

Dabei betrachte ich den Stil und Habitus nicht als etwas nur Äußerliches, das über Werbemittel beliebig vorgetäuscht werden kann. Der Habitus und das, wofür jemand politisch oder programmatisch eintritt, haben durchaus miteinander zu tun. Wenn Personen die Vorstellungen (Repräsentationen) sozialer Milieus auch in Stil und Handlungsweise „verkörpern“, dann können sie für diese Milieus auch stellvertretend handeln, ihre politische Repräsentation übernehmen. Der Habitus kann zwar von Hochstaplern nachgeahmt werden – aber nur einmal. Grundsätzlich bleibt er, wie wiederum Bourdieu aufgewiesen hat (Die feinen Unterschiede, S. 277-404), ein untrügliches Indiz dafür, „wes Geistes Kind“ jemand ist.

Mein dritter und letzter Punkt für die Erklärung der gegenwärtigen Krise politischer Repräsentation bezieht sich auf den Wechsel der Volksparteien von einer ausgleichenden zu einer ungleichheitsbetonten Gesellschaftspolitik. Die Volksparteien der Bundesrepublik sind historisch mit dem wohlfahrtsstaatlichen Sozialmodell entstanden. Die CDU/CSU repräsentierte es in einer mehr hierarchisch-patriarchalischen Variante mit Schwerpunkt in den bürgerlichen Milieus und den kleinbürgerlichen Volksmilieus. Die SPD verkörperte es in einer eher egalitär-solidarischen Variante mit Schwerpunkt in den moderneren Bildungs- und Arbeitnehmermilieus. Im Rahmen dieser Schwerpunkte mussten beide Volksparteien eine heterogene Mischung von oberen, mittleren und unteren Milieus mit einem Konzept sozialen Ausgleichs binden und integrieren. Zu diesen vertikalen Unterschieden kamen auf jeder Milieustufe seit spätestens den 1970er Jahren neue horizontale Differenzierungen. Die älteren Milieufraktionen mit ihren konventionellen und hierarchischen Lebens- und Politikformen gerieten zunehmend in Konflikt mit wachsenden jüngeren und besser gebildeten Milieufraktionen. Diese setzten auf einen Abbau der Autoritätshierarchien im Betrieb, in der Familie, zwischen den Geschlechtern, im Bildungswesen und im Alltag, auf mehr eigenverantwortliche Partizipation und auf eine neue Ökologie- und Friedenspolitik.

Von den 1970er Jahren an wurde die internationale Wirtschaftskonkurrenz zunehmend dereguliert. Entsprechend nahmen auch die innergesellschaftlichen Konkurrenzkämpfe zu, in denen es um die Verteilung materieller Lebenschancen und sozialer Machtchancen ging. Aus diesen Kämpfen sind – jedenfalls bis zur neuen Weltwirtschaftskrise – die wirtschaftsliberalen Flügel beider Volksparteien als Sieger hervorgegangen, jedoch um den Preis wachsender innergesellschaftlicher wie außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte. Für die unteren Milieus kehrten die Erfahrungen sozialer Ausschließung zurück, für die mittleren Milieus die Erfahrungen sozialer Unsicherheit.

Aus diesen Gründen stehen vier Fünftel der Bevölkerung dem Wechsel zum neoliberalen Entwicklungspfad sehr ablehnend gegenüber. Der moralische Schmerzpunkt (und damit der sozialpolitische Interventionspunkt) ist für die meisten Milieus nicht erst dann erreicht, wenn ein absolutes materielles Minimum unterschritten wird. Er ist erreicht, wenn die gewohnte respektable Lebensweise und die Vorstellungen einer gerechten sozialen Ordnung in Frage gestellt werden. Empörung entsteht, wenn Risiken asymmetrisch verteilt sind, wenn beispielsweise Entlassungen gerade von solchen Firmen vorgenommen werden, die höchste Gewinne einfahren. Absenkungen sozialer Sicherungen auf Minimalstandards, etwa auf das Sozialhilfeniveau des Arbeitslosengeldes II („Hartz IV“), werden als Verletzungen des zentralen Grundsatzes angesehen, dass die durch eigene Leistung ermöglichte Lebensweise auch in der Not fortgesetzt werden kann. Hartz IV wird als die Drohung erlebt, in die unsichere und chancenlose Lage der gering qualifizierten unterprivilegierten Milieus abgedrängt, also materiell und moralisch ausgegrenzt zu werden.

Seit der neuen Wirtschaftskrise ist das finanzmarktgetriebene neoliberale Wachstumsmodell an seine Grenzen gekommen. Zunehmende soziale und internationale Spannungen und ökologische Katastrophen motivieren eine – langsame und nach Ländern ungleichmäßige – Entstehung neuer Interessenkoalitionen und Konzepte. Dabei geht es vor allem um zweierlei, erstens um neue Konzepte eines Wirtschaftswachstums, gestützt auf ökologische Technologien und sozialstaatliche Dienstleistungen, und zweitens um eine erneuerte innergesellschaftliche und internationale Ordnung, gestützt auf mehr demokratische Partizipation. Sofern dieser Wandel gelingt, würde er auch die Krise der politischen Repräsentation deutlich entschärfen.

© Michael Vester

Michael Vester ist Professor emeritus für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover.

Erstveröffentlichung in fiph-Journal Nr. 17 (April 2011), S. 1, 3-4.

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Beitragsthemen: Demokratie | Öffentlichkeit | Politik

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