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Schwerpunktbeitrag: Globale Pilgerschaft: Religiöse Semantik mit weltpolitischem Potential

Veröffentlicht am 1. August 2016

Foto Mariano_Barbato

Mariano Barbato

Die Globalisierung setzt so große Migrationsströme in Gang, dass das „Global Age“ (Martin Albrow) mitunter als „Age of Migration“ (Stephen Castles / Mark J. Miller) erscheint. Andere sprechen ganz fundamental von „Liquid Times“ (Zygmunt Bauman), weil sich nicht nur ein neuer Übergang der Moderne von einem „Ancien Régime“ zu einem „Novus ordo seclorum“ abzeichnet, sondern Bewegung, Beschleunigung, Mobilität, Flexibilität und Prozess selbst zum Signum der Zeit werden. Die Zeiten verflüssigen nicht nur alles, sie halten auch alles flüssig. Die politische Metapher des staatlichen Leviathans, der sich auch weniger monströs als „Vater Staat“ vorstellen lässt, scheint nicht mehr in die Zeit von Turbokapitalismus, digitalen Datenautobahnen, Klima und Kriegs- und Armutswanderung zu passen. Die alte Weisheit Heraklits „Panta rhei – Alles fließt“ erfasst in einer für die Moderne und ihr stählernes Gehäuse von Nationalstaat und Volkswirtschaft ungewohnten Weise Politik und Ökonomie. Grundlegende Vorstellungen politischer Sesshaftigkeit stehen zur Disposition. Eine neue politische Anthropologie scheint heraufzuziehen, die nicht nur den sozialstaatlich abgefederten Staatsbürger auf die Notwendigkeit der Wanderschaft vorbreitet, sondern die Stabilität der Verfasstheit einer politischen Gemeinschaft selbst in den Prozess regionaler und globaler Governance-Metamorphosen einschmilzt. Den postmodernen Nomaden der Globalisierung steht die Welt offen. Sie wissen jedoch selten, ob der neue Weidegrund so ertragreich sein wird wie erhofft. In jedem Fall wird es zu einer ungleichen Verteilung bei seiner Ausbeutung kommen. Sie rechnen genauso mit Krisen, wie sie Raubzüge als probates Mittel der Ressourcensicherung und der Markterschließung einplanen. So prekär und krisenanfällig dieses Modell sein mag und obgleich, mit Augustinus gesprochen, die Frage aufkommen könnte, ob politische Formationen sich hier nur noch mit der Binnenmoral der Räuberbande betreiben lassen, so müssen doch auch die Erfolge der Nomaden eingeräumt werden. Der neoliberale Turbokapitalismus hat eine so große Wachstumsdynamik losgetreten, dass eine Rückkehr in statisch-staatlich eingehegte Wachstumsmodelle in keiner Ecke der Welt mehrheitsfähig ist. Bis auf wenige Ausnahmen schotten sich weder Autokratien noch Demokratien vom Weltmarkt ab. Eine restaurative Kritik im Sinne einer Rückkehr zu Vater Staat würde die Nostalgie des alten Sozialstaats einem Test unterwerfen müssen, den diese kaum bestehen könnte, und den neuen Mittelschichten des Globalen Südens die Grundlage ihres hart erworbenen Wohlstands entziehen. Schnell wären zumindest letztere wieder in ihren Bauernkaten, die noch nichts gemein haben mit idyllischem Wohnen im restaurierten Altbau, das die arrivierten globalisierungskritischen Mittelschichten der alten Sozialstaaten gelegentlich anstreben. Da sich der große Sprung nach vorn ins kommunistische Paradies als Salto mortale in den Abgrund erwiesen hat, empfehlen ihn nur noch die Ewiggestrigen. Wenn man sich dennoch eine kritische Distanz zu den Segnungen des liberalen Kapitalismus bewahren möchte, um seine Schwachstellen angehen zu können, bedarf es vielleicht auch hier einer „christlichen Verschärfung“ (Jürgen Manemann) des Unterwegsseins des Nomaden. Die Vorstellung der Pilgerschaft könnte dem Nomaden einen neuen Deutungshorizont seines Unterwegssein verschaffen, der mit dem neuen Verständnis von Selbst und Gemeinschaft neue Handlungsoptionen erschließt.

Pilgerschaft lässt sich als „Urgebärde“ (Joseph Ratzinger) einer ins irdische Dasein geworfenen Menschheit begreifen, die sich mit dem Status quo nicht zufrieden gibt. Pilgerschaft ist die Ahnung, dass es mehr geben müsste und sich deswegen ein Aufbruch lohnt. Fast alle Religionen haben in dieser Sehnsucht nach der Fülle des Himmels Varianten der Pilgerschaft entwickelt. Sie spannen ihrem Selbstverständnis ein weites, pluralistisches Spektrum auf. Die puritanische Konzeption der Pilgerväter auf der Mayflower hat nicht allzu viel mit einer Wallfahrt nach Altötting gemein. Der Haddsch folgt anderen Ritualen als eine Pilgerfahrt nach Shravanabelagola. Pilgerschaft lässt sich nicht auf einen definitorischen Nenner bringen. Eine Auseinandersetzung mit ihr lädt vielmehr ein, sich auf die Vielfalt ihrer – mit Wittgenstein gesprochen – familienähnlichen Varianten einzulassen, um menschliches Selbstverständnis, Handlungsoptionen und Gemeinschaftsfähigkeit auszuloten. Wenn hier das Potential der Pilgerschaft unter einem politikwissenschaftlichen, postsäkularen Blickwinkel für die Deutung der Umbrüche der Globalisierung herangezogen werden soll, dann kann es aus dieser Vielschichtigkeit der Pilgerschaft heraus keine eindeutigen Antworten für die Weltpolitik geben. Die familienähnlich verwobene Semantik der Pilgerschaft eröffnet stattdessen ein Feld neuer Narrative und Anschlussmöglichkeiten, die aus dem Leerlauf der Sprache überkommener politischer Modelle hinausführen könnten.

Während die Nomaden unter der Globalisierung die Reduktion des Globus auf einen neoliberal verfassten Weltmarkt verstehen, verdichten sich bei den anderen Hoffnungen auf den Aufstieg eines kosmopolitischen Weltstaats, der doch noch den utopischen Kampf für der Menschen Recht zu einem glücklichen Sieg führt. Hier liefert das Pilgermodell gleich den ersten grundlegend alternativen Zugang. Die Transformation der Globalisierung wird nicht als Durchgang vom alten volkswirtschaftlichen Status quo zum neuen Endzustand der global economy begriffen oder als Ablösung der nationalstaatlichen Demokratie durch einen kosmopolitischen, partizipativen Weltstaat. Mit der Konzeption der Pilgerschaft wird deutlich, dass es innerweltlich nur flüssige Zeitalter gibt. Diese Erkenntnis macht den Pilger nun aber nicht zum postmodernen Flaneur und Vaganten. Weder Beliebigkeit noch Dürftigkeit sind seine Leitsterne, sondern die himmlische Utopie der Fülle, die allen Menschen verheißen ist, die wirklich aufbrechen. Der Kirchenvater Augustinus hat diese Vorstellung der Pilgerschaft für seine Konzeption der Civitas Dei genutzt. Damit geht keine Flucht aus der Welt einher. Die Ausrichtung der Politik der Pilger auf die Fülle des Himmels erlaubt vielmehr auch nach dem Fall der civitas terrena eine Ausrichtung an der Gerechtigkeit und verhindert das Absinken zur Räuberbande, die Gemeinschaft nur über den gemeinsamen Vorteil stiften kann. Pilgerschaft als Konzept für politische Handlungsoption eröffnet ein Feld jenseits der Steuerungsfähigkeit des Staates und spitzt auch die fragmentierten Koordinationsmöglichkeiten der Governance-Vorstellung noch einmal zu. Handlung setzt nicht einen fixen Akteur voraus, wie er sich in der Metapher von Vater Staat präsentiert. Politische Handlungsfähigkeit kann auch unterwegs in kontingenten, vorübergehenden politischen Formationen erreicht werden, wenn punktuelle Übereinstimmungen für die Behebung konkreter Problemstellungen gegeben sind. Die politischen Pilger sinken dabei aber nicht in einen technokratischen Modus ab, der die Welt satt und sauber machen möchte. Sie entwickeln auch keine ideologischen Allmachtsfantasien, die die Welt zu einem rosaroten Paradies egalitärer Sinnesfreuden oder zu einem hierarchischen Fegefeuer spiritueller Läuterung machen möchten. Die Verlegung der Utopie in den Himmel befreit vom Wahn, jetzt und hier alles Wünschenswerte nach eigener Façon den anderen aufzwingen zu müssen. Im Licht der himmlischen Utopie können pragmatisch begrenzte Ziele angesteuert werden, die mit Leidenschaft, aber ohne Zwang erkämpft werden wollen. Die himmlische Utopie sichert in ihrer Orientierung an der Fülle einen hohen Mindeststandard, stellt aber auch klar, dass auf Erden die Mühsal immer nur punktuell unterbrochen werden kann, nämlich immer dann, wenn ein Wallfahrtsziel erreicht wurde. Irdische Wallfahrtsziele liefern das Angeld auf die Fülle, aber nicht die Fülle selbst. Das Erreichen begrenzter Ziele schafft kein Paradies auf Erden, auch nicht langfristig, aber doch Knotenpunkte einer Kulturlandschaft der Wallfahrt aus Kirchen und Herbergen, die das Netz der Pilger und Nomaden enger und sicherer knüpfen und Ausgangspunkte für neue Unternehmungen schaffen.

Aus dieser punktuellen, pragmatischen Handlungsfähigkeit im Horizont des Himmels wächst auch eine pragmatische Vorstellung von politischer Gemeinschaft, in der die Starken für die Schwachen einstehen, die aber keine Homogenisierungs- und Nivellierungsfantasien einer überhöhten Gemeinschaft von Klasse, Rasse oder Nation zelebrieren. Aus allen Nationen und Ständen sind die Pilger zum Aufbruch gerufen. Der Himmel formt die neue Gemeinschaft langsam. Für die Zeit der irdischen Pilgerschaft gehört der Pilger seinem Volk und seiner Kultur an, vielleicht auch mehreren und neuen Mischungen. Der Pilger schafft dabei im Blick auf die ewige Gemeinschaft des Himmels schon jetzt transnationale Pilgergemeinschaften, die sich pragmatisch zusammentun, um Wegstrecken gemeinsam zu gehen. Pilger können auch allein gehen, sie schließen aber niemanden aus, der sich ihnen und ihren Zielen anschließen möchte, selbst wenn er fußlahm ist und gelegentlich getragen werden muss. Pilger fragen nicht nach dem Woher, sondern nach dem Wohin. Sie schaffen Weg- und Zielgemeinschaften. Ihre Begegnungen auf dem Wallfahrtsweg oder am Wallfahrtsort, oft fern der heimatlichen Grenze, schaffen neue Identitäten der Zugehörigkeit. Wallfahrten sind wiederkehrende Initiationsriten (Victor Turner), die immer neue Gemeinschaften stiften und Gemeinschaftsfähigkeit stärken.

Wenn man sich auf die konkrete Wallfahrt begibt und deren Narrative auf sich wirken lässt, erschließt sich in einer vernetzten Erinnerungslandschaft der reiche Schatz eines „Speichergedächtnisses“, das zwar das politische „Funktionsgedächtnis“ (Aleida Assmann) gerade im christlichen Abendland kaum noch bestimmt, das aber für ein zukünftiges globales Funktionsgedächtnis konstitutive Elemente beisteuern kann.

Allein die katholische Tradition ist reich an unterschiedlichen Geschichten. In Manila zieht die wundertätige Figur des Schwarzen Nazareners bei ihrer jährlichen Prozession durch die Stadt die Freude und die Hoffnung, die Trauer und die Angst der Globalisierung an sich. Die philippinischen Wanderarbeiter und Wanderarbeiterinnen verbreiten diese Tradition als Zeichen der Zeit in den Metropolen der Welt. Wenn die Virgen de Guadelupe ihre Kinder auf dem Hochlandhügel von Mexiko-City versammelt, lässt sich erahnen, dass Entwicklung und Technologie nicht gegen das Wachstum der Weltbevölkerung eingesetzt werden können, sondern aus diesem Wachstum hervorgehen und ihm dienen müssen. Statt einer tickenden Bevölkerungsuhr, die Menschen zählt wie Sekunden vor der Explosion der Bombe, hat hier technischer und architektonischer Erfindungsreichtum eine Wallfahrtskirche geschaffen, die auch am größten Pilgerort der katholischen Welt all den Millionen Pilgern einen Zugang zum Heiligtum verschafft. In Lourdes lässt sich die Gemeinschaft von Kranken und Gesunden, Schwachen und Starken erfahren, die von Beziehungen zusammengehalten werden, die über den Tod hinausgehen. Die Traditionen des Jakobswegs erzählen von der bunten Vielfalt, aber auch den Kämpfen der Pilger. Diese Kämpfe nehmen zu, wenn man sich der großen Hauptstadt der Pilger nähert: Jerusalem. Am irdischen Jerusalem lässt sich nur bauen, wenn man den Blick auf die himmlische Stadt gerichtet hält, nicht wenn man die eigenen Projekte für Gottes letzten Ratschluss hält und die Herrschaft über die Heilige Stadt erzwingen will.

Dieses Speichergedächtnis der Pilgerschaft ist reich genug, dass es eine Ablösung der alten Metapher des Leviathans für den Staat erlauben könnte. An die Stelle des Leviathans, der für das Ungeheuer des Staates steht, das Sicherheit gegen Unterwerfung anbietet, tritt der Pilger. Der Pilger konstruiert politische Gemeinschaften nicht als statische Nationen, die einmal einen Vertrag geschlossen haben und dadurch zu einem politischen Körper verschmolzen wurden, sondern als Weggemeinschaften, die gemeinsam gehen, aufnehmen, aber auch gehen lassen. Vor allem aber sind Pilgergemeinschaften bereit, sich zu verwandeln und sich verwandeln zu lassen. Dieses mühsame Arbeiten an sich selbst, an der eigenen Gemeinschaftsfähigkeit, macht den ersten Schritt aus, den die Pilger auf dem Weg durch die flüssigen Zeiten der Globalisierung gehen müssen, wenn die nomadisierenden Räuberbanden zu Kultur schaffenden Pilgergemeinschaften werden sollen.

Der Text fußt auf Mariano Barbato: Pilgrimage, Politics, and International Relations. Religious Semantics for World Politics, New York 2013.

(c) Mariano Barbato

Dr. Mariano Barbato ist Privatodzent an der Universität Passau sowie DFG-Heisenberg-Stipendiat und Leiter des Projekts „Die Legionen des Papstes II: Eine Fallstudie zu sozialer und politischer Transformation“ am Centrum für Religion und Moderne der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Erstveröffentlichung des Beitrags in fiph-Journal Nr. 24 (Oktber 2014), S. 30-31.

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Beitragsthemen: Globalisierung | Religion

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