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Schwerpunktbeitrag: De-moralisierte Gesellschaften ‒ Zwischen Schuld und Schulden. Rückfragen nach einem ursprünglichen, wiederherzustellenden oder neu zu etablierenden Verhältnis von Moral und Gesellschaft

Veröffentlicht am 19. Dezember 2016

We have a chance to stop further vast debt enslavement […]
and the trumping of democratic control by economic fear.
David Malone[1]

  1. Gewaltsame Ökonomisierung?

Die ‒ noch lange nicht ausgestandene und möglicherweise gar nicht mehr lösbare ‒ Finanzkrise des Jahres 2008 hat jedermann vor Augen geführt, wie nationale und transnationale Schulden-Ökonomien aus den Fugen geraten sind. Massive Überschuldung von Staaten überschattet kommende Generationen und wirft neben Fragen finanzieller Haftung und ursächlicher Verantwortung auch moralische Probleme der Schuld auf, die man sich selbst oder anderen für exzessive Überschuldung zurechnet. Dabei steht nicht zuletzt auf dem Spiel, ob und wie ökonomische Schulden und moralische Schuld überhaupt zusammenhängen können. Ein gewichtiges Indiz dafür ist zweifellos, wie gegenwärtig nicht nur europäische Gesellschaften die kollektive Erfahrung einer gesellschaftlichen Demoralisierung durchmachen, die zu einem erheblichen Teil aus einer moralisch kritisierten, aber als überwältigend und lähmend erscheinenden Überschuldung resultiert. Diese Erfahrung zwingt dazu, den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft neu zu bedenken, der von vielen Theoretikern gesellschaftlichen Lebens ganz in Abrede gestellt wird, so dass es den Anschein hat, als sei das Moralische kaum mehr zugleich als Gesellschaft­liches und umgekehrt dieses kaum mehr zugleich als Moralisches zu begreifen.[2]

Man vergleiche dagegen Emile Durkheims pädagogische Sorbonne-Vorlesungen der Jahre 1902/3 zum Thema Erziehung, Moral und Gesellschaft, wo es heißt: „moralisch“ seien all jene Ziele, „die eine Gesellschaft zum Objekt haben“; und zwar „im Hinblick auf ein Kollektivinteresse“.[3] Ich verfolge kein ‚erzieherisches’ Programm mit der Absicht, eine der­­­­artige quasi-ding­liche moralische Objektivität des Gesellschaftlichen zu restituieren. Und genauso wenig hege ich die Absicht einer ‚moralistischen’ Kritik an Positionen, die an ein ontologisches „Wesen sui generis[4] des Gesellschaftlichen nicht länger glauben lassen, so dass sie ‒ aus einer Durkheimiani­schen Sicht ‒ das Phänomen des Moralischen unweiger­­lich verfehlen müssten, das in der Perspektive dieses Soziologen mit dem Gesellschaftlichen geradezu deckungsgleich ist. (Demnach gäbe es gar keine ‚Moral’, die nicht auch gesellschaftlicher Natur wäre; und umgekehrt gäbe es nichts Gesellschaftliches, das nicht auch ‚moralischer Natur’ wäre.)

Vielmehr verfolge ich das negativistische Projekt einer Rekonstruktion des Zusammen­hangs von Moral und Gesellschaft ausgehend von der Erfahrung des Verlusts, der Schwä­chung oder des Verschwindens dieses Zusammenhangs. Dabei muss ich in Rechnung stellen, dass das Moralische und das Gesellschaftliche eine erhebliche Differenzierung erfahren haben, die es unmöglich macht, beides gewissermaßen auf einen einheitlichen, generellen Nenner zu bringen.

So lässt sich Moral in gesellschaftlicher Hinsicht nicht mehr auf eine Deontologie reduzieren, der zufolge wir primär (wenn nicht gar allein) als durch Pflichten vergesellschaftet zu begreifen sind. Längst kennen wir auch ganz andere Formen gesell­schaft­licher Verbindlichkeit, darunter die Verantwortung, die Loyalität und „moralities of everyday life“ […] wie eine gewisse Zivilität und höfliche, respektvolle Umgangsformen.[5] Und Gesellschaft manifestiert sich nicht (allein) in der quasi-sakralen Suprematie eines Kollektivs[6], das souverän den Tod der Einzelnen überlebt (wie Durkheim es sich vorstellte), sondern zu­nächst in Formen der Resonanz, der Responsivität, der Anknüpfung an Andere, sei es ein­­­­­seitig, sei es gegenseitig und agonal oder antagonistisch, und der Vernetzung, wie sie von Luhmann bis Latour beschrieben wird.[7]

In dieser Lage werden wir schwerlich eine Identität von Moral und Gesellschaft re­sti­tuieren können, wie sie Durkheim offenbar im Sinn hatte. Aber wir können und müssen ver­suchen, ge­wissermaßen einer Interferenz des Moralischen und des Gesellschaftlichen nachzugehen, die sich überall dort abzeichnet, wo Phänomene gesellschaftlicher Moralisierungen zum Vor­­schein kommen, die sich gegen eine völlige Auftrennung von Moral und Gesellschaft richten.[8] Diese Phänomene bezeugen die Nichthinnehmbarkeit einer solchen Entwicklung, ohne aber auf eine Identität von Moral und Gesellschaft hinauszulaufen. Sie richten sich zunächst nur gegen ein völliges Unkenntlichwerden dieses Zusammenhangs; und zwar ausgehend von Erfahrungen gewaltsamer Ökonomisierung[9] eines Lebens mit und unter vielen Anderen, das nicht ‚immer schon’ ein ökonomisches ist, sondern unter bestimmten Bedingungen ‚ökonomisiert’ wird ‒ u. U. bis zu einem Punkt, wo das als unerträglich zurückzuweisen ist.

Ausgehend von diesem Befund müssen wir uns heute erst mühsam wieder einer womöglich unaufgebbaren internen Verknüpfung von Moral und Gesellschaft vergewissern. Am Anfang steht hier also die ‚Erinnerung’ an den Zusammenhang von Moral und Gesellschaft im Ausgang von dessen gegenwärtiger Unerkennbarkeit. Unerkennbar bzw. unsichtbar ist nicht ‚Moral’ als solche, die uns alltäglich in einer Vielzahl von Moralisierungen und Mo­ralismen begegnet, vor allem im Gebrauch moralisierender Sprache, sei es auch nur zu Zwecken politischer Rhetorik, des Erhebens von „Vorwürfen“, der selbstgerechten Anklage, der Entlarvung von Lügen, Intriganz und Verrat usw.[10] Unsichtbar ist vielmehr der ‒ vermutete ‒ innere Zusammenhang von Moral und Gesellschaft, auf den uns ironischerweise gerade de-moralisierte und de-sozia­lisierte Ge­sellschaften verweisen. Wie, das soll im Folgenden näher untersucht werden.

  1. Gesellschaftliche Entmoralisierung und Demoralisierung

Ich spreche von de-moralisierten Gesellschaften ungeachtet dessen, dass man Gesellschaften für gar nicht mehr identifizierbar bzw. für „unmögliche Objekte“ hält (Oliver Marchart), denen überhaupt keine ‚substanzielle’ Realität zuzuschreiben sei.[11] Letzteres folgt schon aus Hegels Theorie der Gesellschaft. Hegel interessierte am gesellschaftlichen „System der Bedürfnisse“ letztlich lediglich die „dialektische Bewegung“ des Wahren, durch die sich der Geist der Vernunft in der Aufhebung alles Widersprüchlichen angeblich als Subjekt selbst hervorbringen muss.[12] Heute sehen wir demgegenüber Gesellschaften, die sich in einer unübersehbaren Pluralität von Lebensformen manifestieren, von vielfachem Widerstreit durch­zogen, der sich als unaufhebbar erweist.[13] Eine de-substanzialisierte, aber gerade durch diesen Widerstreit real erfahrbare Gesellschaft lässt sich in Folge dessen nicht mehr als Subjekt ihrer eigenen dialektischen Entwicklung denken. Inzwischen hat der Weg gesellschaftstheoretischen Denkens von Begriffen der Substanz, des Subjekts und des Systems weiter zur Metapher des Netzes geführt, das sich aus immer neuen, unabsehbaren Vernetzungen ergibt, ohne je eine quasi-dingliche Form anzunehmen, die für Durkheim im Sinne einer soliden soziologischen Methodologie unbedingt erforderlich war. Wenn sich Gesellschaften bzw. Phänomene der Vergesellschaftung nicht „wie Dinge“ bzw. als Quasi-Dinge untersuchen lassen, kann es demnach keine sozial-wis­sen­schaftliche Forschung geben. Davon war Durkheim überzeugt. Seine methodologische Programmatik belegt das klar.[14]

Aus immer neuen und unabsehbaren kommunikativen Vernetzungen resultierende Prozesse der Vergesellschaftung nehmen jedoch kaum derart konsistente Formen an, wenn wir den entsprechenden Beobachtungen von Gesellschaftsdiagnostikern wie Luhmann oder Latour[15] Glauben schenken können. Und diese Vernetzungen funktionaler Abhängigkeiten lassen sich längst nicht mehr im Ganzen moralisch integrieren.[16] Insofern ist auch von ent-moralisierten Gesellschaften zu reden. Derartige Gesellschaften sollen sich von einer angeblich unsachgemäßen Moralisierung des Ökonomischen befreien. Im Gegensatz zu einer pejorativ gedachten Demoralisierung, die sich auf Phänomene einer mehr oder weni­ger ruinierten, aber im Spiel bleibenden Moral bezieht, meint Entmoralisierung hier eine Befreiung vom Moralischen selbst.

Aus solchen Gesellschaften verschwindet „Moral“ zweifellos nicht. Sofern sie nicht wie bei Bruno Latour als ephemeres und kontingentes Moment im unaufhörlichen Zirkulieren von Sinn quasi aufgelöst wird[17], wird sie in eine besondere Sphäre des Gesellschaftlichen oder in den Teilbereich eines gesellschaftlichen Systems (Luhmann) verwiesen. So soll deutlich werden, dass sich insbesondere ökonomische Fragen nicht mehr „moralisieren“ lassen. Der­glei­chen wäre unsachgemäß und unzeitgemäß, suggerieren Niklas Luhmann, Helmut Wilke[18] und andere. Demnach sollte man sollte Ökonomisches nicht moralisieren, weil allein zählt, dass vergesellschaftetes Leben inzwischen funktional differenziert so vorliegt, dass das, was sich als mehr oder weniger ökonomisch effektiv, erfolgreich, gewinnträchtig usw. erweist, nicht auch als moralisch falsch oder richtig, gut oder schlecht zu bewerten ist.

Eine entsprechende Ausdifferenzierung sprachlicher Kriterien, mit deren Hilfe man gesellschaftliches Leben bewerten kann, lässt sich kaum bestreiten. Aber zeigt sie eine völlige Trennung des Ökonomischen und des Moralischen an? Und funk­tioniert das Gesellschaftliche allemal und unabänderlich so, dass ‚Übergriffe’ einer Sprache der Moral auf das Ökonomische (und umgekehrt) als unsachgemäß und als unzeitgemäß zurückzuweisen sind?[19] Tatsächlich handelt es sich hierbei um eine kryptonormative Position, die unter der Hand die Rekonstruktion moderner und postmoderner Formen der Vergesellschaftung in Vorschriften übersetzt, nach denen wir uns angeblich zu richten haben. Ich schlage dagegen einen anderen Ansatz vor.

  1. Ein negativistischer Ansatz

Die von Luhmann u. a. reklamierte Ausdifferenzierung des Gesellschaftlichen wird vollzogen und nachvollzogen von Wesen, die ihrerseits vergesellschaftet existieren. Wie, das könn­en sie sich allerdings stets nur im Nachhinein und niemals gewissermaßen in einem Zug deutlich machen. Denn „das Soziale tritt niemals frontal auf, es ist bald Falle, bald Aufgabe, bald Drohung, bald Versprechen, bald hinter uns wie ein Gewissensbiss, bald vor uns wie ein Entwurf […]“, wie Maurice Merleau-Ponty in seinem Buch Die Abenteuer der Dialektik (1955) feststellte.[20] Bevor wir daran gehen können, uns Klarheit darüber zu verschaffen, wie (und wie tief greifend) wir vergesellschaftet sind, existieren wir bereits in man­nigfaltige soziale, sozietäre und politische Verhältnisse verstrickt. Und der Klärung dessen dient das Nachdenken über den ‒ sei es bloß ephemeren und kontingenten, sei es funk­tionalen, sei es inter­nen ‒ Zusammenhang von Moral und Gesellschaft. Als nolens vo­lens vergesellschaftete Wesen wollen wir wissen, ob dazu ‚existenziell’, d.h. in einer unser Leben intern bestimmen­den Art und Weise auch gehört, damit ggf. ein moralisches Problem zu haben bzw. haben zu müssen. An diesem Leben bemisst sich, ob eine Differenzierung bzw. Trennung von Moral und Gesellschaft ‚funktionieren’ und wie weit sie gehen kann.

Auf diese Weise will ich nicht die gesellschaftliche Komplexität ignorieren oder gering schätzen, wie sie uns in der Form heutiger megacities auf überwältigende Art und Weise anschaulich entgegentritt. Doch auch diese von niemandem mehr zur Gänze transparent zu machende Komplexität wird nach wie vor von Individuen hervorgebracht, die wir nicht nur als durch ‚den Anderen’, sondern als durch Dritte ansprechbare und Dritte ansprechende Wesen begreifen müssen. Ohne diese ein- und gegenseitige Ansprechbarkeit (auf Erwiderung hin) gibt es kein so­­ziales und politisches Leben. Nur einander ansprechende und in Anspruch neh­mende Wesen stiften letztlich auch eine kommunikative Komplexität, die sie in ihren massenhaften und globalen Dimensionen schließlich selbst nicht mehr durchschauen, die aber zurückwirkt auf sie und sie dabei u. U. mit der Frage konfrontiert, ob sie ihr individuelles Leben ‒ etwa als verschuldetes und überschuldetes ‒ überhaupt (noch) als lebbar erfahren.[21] Wenn das kaum oder gar nicht mehr der Fall ist, entzünden sich an der Negativität dieser Erfahrung gesellschaftliche Moralisierungen, die vielfach darauf hinauslaufen, empörende Ungerechtigkeit bzw. unerträgliches Unrecht zu brandmarken.[22] Ihren gemeinsamen Nenner haben sie darin, bestimmte Zustände oder Entwicklungen als mit mensch­­lichem Leben (nicht nur mit dem eigenen) im Grunde unvereinbar einzustufen und zu entsprechender Kritik Anlass zu geben.

Nicht in jedem Fall lässt sich der Grund solcher Kritik als Enttäuschung vorheriger (normativer) Erwartungen verstehen.[23] Vielfach führt genau umgekehrt erst die Negativität der Erfahrung des Unannehmbaren auf die Spur von Erwartungen, an denen man fortan ge­sellschaftliches Leben messen möchte. Solange dieses mehr oder weniger ungestört abläuft und solange man Störungen und Widrigkeiten ausweichen oder umgehen kann, besteht kein zwingender Grund, sich über solche Erwartungen klar zu werden. Anders verhält es sich, wenn Grenzen des Erträglichen überschritten werden, so dass die Betreffenden darauf mit einem mehr oder weniger kategorischen „Nein“ antworten müssen. Wir hätten tatsächlich kaum (moralischen) Anlass, uns darauf zu besinnen, was Vergesellschaftung bedeutet, wenn sie nicht auf diese Weise Kritik auf sich ziehen würde.

Früher nannte man das, was Grund zu solcher Kritik gibt, „bestimmte Negation“. Und manche Gesellschaftskritiker zogen aus diesem Begriff den Schluss, das jeweils Negierte müsse wie von allein auf die Spur des Besseren und des zu Bejahenden führen. In diesem Sinne sprach beispielsweise Herbert Marcuse in Der eindimensionale Mensch von einer „Rationalität der Negation“.[24] Aber der Prozess der Negation eröffnet nur Alternativen, die ihrerseits keineswegs eindeutig durch das Negierte bestimmt sind.[25] So sehen wir uns zur Wahl und zur Entscheidung in der Frage gezwungen, wie man sich denn gegen das Negierte wenden soll, um etwa unerträgliche Lebensbedingungen in Zukunft abzuwenden. Wir müssen demnach nicht nur Alternativen entwerfen, sondern auch zwischen diesen wählen. „Keine der gegebenen Alternativen ist von sich aus bestimmte Negation, wofern und solange sie nicht bewußt ergriffen wird, um die Macht unerträglicher Bedingungen zu brechen.“ So vollzieht sich die Negation „auf empirischem Boden; sie ist ein geschichtlicher Entwurf innerhalb eines bereits bestehenden Entwurfs und über diesen hinaus, und ihre Wahrheit ist eine auf diesem Boden zu bestimmende Chance“.[26] Entzündet sich so aber wirklich Protest „gegen das, was ist“[27]? Und zwar im Ganzen, wie es eine Gesellschaftskritik nahe legte, die das Ganze bekanntlich mit dem Unwahren identifizierte, um es dem entsprechend zu verwerfen? Die Zeiten dieser „totalen“ Kritik liegen hinter uns; und in ihre schon oft diagnostizierten kardinalen Fehler sollten wir nicht zurückfallen.[28]

Negiert wird zunächst nur das Unerträgliche hier und jetzt, das diesen oder jenen (nicht nur jedem selbst) widerfährt. Werden auch die Gründe und Ursachen des Unerträglichen be­griffen, so führt diese erste negative Erfahrung auf die Spur gesellschaftlicher Zusammen­hänge, die weit über den unmittelbaren Anlass dieser Erfahrung hinausreichen. Sind diese Zusammenhänge (wie die Ausbeutung der Arbeitenden[29] und heute systematische Un­gerechtigkeit[30] oder Demütigung Anderer[31]) mit systemischen, institutionalisierten Struk­turen vergesellschafteten Lebens in Verbindung zu bringen, so nimmt die Kritik soli­darische Form an. Sie weist, heißt das, keineswegs nur zurück, was einem selbst widerfahren ist; sie stuft das Gleiche vielmehr auch im Fall Anderer, Dritter, auch ganz Unbekannter als kritikwürdig und gegebenenfalls unannehmbar ein. Darauf baut schließlich die Position auf, aus der gesellschaftskritische Forderungen ent­springen, die universalisierte Position nämlich, diese Knechtschaft, diese Ausbeutung, diese Ungerechtigkeit, diese Demütigung, diese Marginalisierung, diese Gleichgültigkeit ge­genüber dem Leben und Wohlergehen Anderer… sei ‚an sich’ falsch und deshalb sei zu verlangen, dass deren Gründe untersucht und die entsprechenden Ursachen abgestellt werden.

Aber aus einer solchen negativen Forderung, so klar, unmissverständlich und berechtigt sie auch sein mag, ergibt sich eben nicht, ob und wie ihr konkret, unter gegebenen Umständen, wirklich (wenigstens fürs Erste, wenn schon nicht endgültig) Rechnung getragen werden sollte bzw. kann. Das gilt auch für die Verletzung elementarster, als allgemein anerkannt geltender Ansprüche, wie wir sie in den Menschenrechten, häufig in national-staat­lichem Recht positiviert, finden.[32] So ‚unbedingt’, wie diese Ansprüche gelten sollten, so sehr brechen sie sich gleich­sam an kon­tingenten Umständen, die ihrer Gewährleistung hartnäckig im Wege stehen. Gerade Versuche ‚bedingungsloser’ Gewährleistung solcher Ansprüche versprechen keineswegs ohne weiteres einen Ausweg aus der Gewalt ihrer Verletzung. So sehen sich sog. Wahr­heits- und Versöhnungskommissionen (wie in Südafrika oder Argentinien) notorisch mit dem Dilemma konfrontiert, für Gerechtigkeit nur auf Kosten gesellschaftlichen Friedens und für Frieden umgekehrt nur auf Kosten der Gerechtigkeit sorgen zu können. Was wie die verlangte Gerechtigkeit und der Frieden eigentlich gar keinen Aufschub gestattet, machen sie, wenn überhaupt (und begrenzt), nur auf langwierigen, schmerzhaften Umwegen möglich, die zuviel Zeit kosten und schon dadurch sowohl der Gerechtigkeit als auch dem Frieden zuwiderlaufen.[33] Nicht einmal die konsequente und unmittelbare Realisierung wenigstens eines elementaren, unverzichtbaren Anspruchs (etwa des Anspruchs auf ausreichende Nahrung und auf ein Obdach), die Verteidiger einer sofort gebotenen und unter keinen Umständen zu verweigernden Notfallhilfe für die Ärmsten dieser Welt für möglich halten[34], lässt sich so bewerkstelligen, dass keinerlei Verletzung anderer Ansprüche heraufbeschworen wird.[35]

Nach diesen Vorüberlegungen möchte ich nun auf das aktuelle Problem der Schuld bzw. der Schulden[36] in negativistischer Perspektive eingehen und zeigen, wie es Formen ge­­­sell­schaft­licher Moralisierung auf den Plan ruft, die danach verlangen, den Zusammen­hang von Moral und Gesellschaft neu zu bedenken, allen Kritikern zum Trotz, die das besonders aus systemtheoretischer Sicht für anachronistisch halten.

  1. Schuld versus Schulden, Moral versus Ökonomie

Die aktuell ganze Staaten, Staatenverbünde wie die EU und selbst die globale Ökonomie be­­drohende Schuldenproblematik hat einige Autoren dazu veranlasst, wieder nach dem „ursprüng­­­lichen“ Zusammenhang von Schuld(en) einerseits mit vergesellschaftetem Leben an­dererseits zu fragen. Dabei haben sich u.a. Marcel Hénaff und David Graeber auf Marcel Mauss’ Theorie der Gabe, d.h. hier: der Form und Funktion des Austauschs in archaischen Ge­sellschaften, zurückbesonnen und die Reziprozität als Fundament aller Ökonomisierungen im engeren Sinne des Wortes wieder entdeckt. Bevor das Geld und eine chrematistisch­e Praxis des Wirtschaftens mit Geld erfunden wurde[37], haben Menschen einander nicht nur etwas gegeben und ausgetauscht, sondern darüber hinaus Anderen etwas gegeben, um sie da­durch zu einer Erwiderung zu bewegen. Und zwar speziell zu einer Art der Er­wider­ung, die die Beziehung der Beteiligten stabilisiert; etwa durch eine mit dem Austausch einhergehende Verpflichtung. In diesem Sinne, meinte Mauss, stiftet das Geben bzw. die Gabe, die nicht nur in Empfang genommen wird (und auf diese Weise einseitig bliebe), sondern mit einer Gegen-Gabe beantwortet wird, eine Beziehung, in der man sich gegenseitig er­kennt­lich zeigt; und zwar nicht nur für das konkret Gegebene selbst, sondern für den „Geist“, der darin zum Ausdruck kommt, dass man in der Erwartung einer (positiven) Erwiderung etwas gegeben und auf sie vertraut hat.[38]

Ich möchte hier nicht diskutieren, ob Mauss oder seine Anhänger auf diese Weise wirklich die originäre Entstehung sozialer Verpflichtung erklären konnten.[39] Genauso wenig kann ich auf zahllose Variationen, Formen des Misslingens und eskalative Entgleisungen der von Mauss beschriebenen Reziprozität eingehen. Aufmerksam machen möchte ich dagegen auf zwei elementare Erfahrungen, die mit ihr ursprünglich verknüpft gewesen zu sein scheinen. Diese Reziprozität setzt voraus, dass jeder, der in sie eintritt, sowohl geben als auch (in Empfang) nehmen kann. Und durch das Hin und Her von Gaben und Gegengaben kann eine Art Ausgleich stattfinden, so dass man schließlich miteinander quitt ist. Wo das nicht möglich ist oder früher oder später unmöglich wird, entsteht ein Gefälle zwischen den Beteiligten, das schließlich ruinös für ihre Beziehung selbst zu werden droht. Vor allem dann, wenn einer von ihnen nicht(s) mehr erwidern kann und so in immer tiefere Schuld des jeweils anderen gerät. Das Rätsel der Gabe (Maurice Godelier[40]) besteht eigentlich darin, (a) gegenseitigen Austausch möglich zu machen, ohne es zu einer derartigen Einseitigkeit kommen zu lassen, so dass man demnach wenigstens zwischenzeitlich annähernd ‚quitt’ miteinander werden kann; und (b) die jeweilige Beziehung bestehen bleiben und womöglich sich vertiefen zu lassen. Könnte gegenseitiger Austausch in keinem Fall zum Ausgleich kommen, wäre das für die Beziehung der Beteiligten ebenso ruinös wie der gegenteilige Fall, in dem sie ganz und gar quitt miteinander werden, so dass sie einander nichts mehr schulden würden. Auf den ersten Blick muss das, wenn man nur auf die ausgetauschten „Gaben“ schaut, die Beziehung selbst auflösen. Aber genau das ist Mauss zufolge in Gabe-Prozessen ja nicht der Fall. Und zwar deshalb nicht, weil mit den ggf. ausgetauschten Sachen auch der „Geist des Gebens“[41], das dem jeweils Anderen zugute kommt, gleichsam mitgegeben wird. Dieser Geist aber wird nicht zurückgegeben, wenn eine Gegen-Gabe erfolgt, sondern durch immer neues Geben und Nehmen vertieft.

Das Rätsel der Gabe besteht demnach in der Verknüpfung eines elementaren ökonomischen Moments mit einem elementaren moralischen Moment. Ersteres besagt: wir können in einen gegenseitigen (vor irreversibler Einseitigkeit bewahrten) Austausch treten, der zwisch­enzeitlich zur Ruhe kommt und neu einsetzen kann. Zwischenzeitlich setzt aber nicht die Beziehung der Beteiligten aus. Sie besteht im Gegenteil fort, auch wenn man ökono­misch gesehen wenigstens vorübergehend quitt miteinander ist und einander nichts mehr schuldet. Besteht aber die Beziehung fort, so schuldet man dem Anderen moralisch sowohl, früher oder später erneut etwas zu geben, als auch Gegebenes in Empfang zu neh­men und zu erwidern, d.h. sich erneut auf einen ‚ökonomischen’, aber vor absoluter Einseitigkeit be­wahrten Austausch einzulassen. (Der Begriff des Ökonomischen hat hier den weitesten Sinn eines Austauschs, der für die Beteiligten irgendwie wertvoll ist und der das unterschiedlich Wertvolle einer gewissen Vergleichbarkeit unterwirft.)

Wenn nun Autoren wie Marcel Mauss, Marcel Hénaff und David Graeber Recht damit haben, dass die skizzierte Moralökonomie der Reziprozität, in der das moralische und das ökonomische Moment integral zusammengehören (ohne aber einfach zusammenzufallen), bis heute die Grundlage jeglicher Sozialität darstellt[42], dann muss es einschneidende Folgen haben, wenn dieser Zusammenhang aus dem Blick gerät. Im Rahmen dieses Zusammen­hangs finden wir zweierlei verknüpft: den moralischen Status eines vergesellschafteten Sub­jekts, das unangefochten als gebendes, empfangendes und erwiderndes in Betracht kommt, einerseits und die ökonomische Relation reziproken Austauschs andererseits, in dem sich Geben und Nehmen wie auch immer konkret entsprechen.

Werden Moral und Gesellschaft demgegenüber voneinander getrennt und wird der gesellschaftliche Austausch auf eine in Geld messbare Kombinationen von Leistungen und Gegenleistungen reduziert, so ergeben sich dramatische Konsequenzen. Jetzt wird nämlich ein ökonomischer Austausch denkbar, der sich scheinbar auf keine vorgängige Beziehung stützt und der keinerlei Beziehung mehr bestehen lässt. Er setzt nur irgendwie schon vorhandene, aber in keiner Weise einander verbundene ökonomische Subjekte voraus, die ihr Handeln mit dem zu erwartenden Tun Anderer im Hinblick auf eigenen künftigen Vorteil einschätzen können. Worauf die Existenz solcher Subjekte zurückzuführen ist, worauf sie beruht und wovon sie abhängt, bleibt außen vor. Und nach erfolgtem Austausch herrscht womöglich nichts als Leere, es sei denn ein neues ökonomisches Interesse stößt einen weiteren Austausch an, der dann das gleiche Ergebnis hätte. Das Schlimmste, was in einem solchen Austausch droht, ist ‒ abgesehen von dieser Leere ‒, Anderen etwas schuldig zu bleiben, d.h. öko­­­nomisch: Schulden zu haben, die man nicht mehr begleichen kann. Dann ist man ökono­­misch entweder auf Dauer verknechtet oder bereits erledigt, d.h. so gut wie tot.

Aber das wirft überhaupt kein moralisches Problem auf, wenn das Ökonomische zuvor einer nachhaltigen Entmoralisierung unterworfen worden ist. David Graeber spricht mit Blick auf Adam Smith in diesem Zusammenhang von einem Gründungsmythos der modernen Wirtschaftswissenschaften, der, offenbar weitgehend erfolgreich, suggerieren konnte, Menschen seien einander allenfalls aufgrund freiwillig eingegangener Verpflichtungen pekuniär etwas schuldig; beglichene finanzielle Schulden aber müssten jegliche Schuld auflösen. Eine darüber hinaus gehende Verbindlichkeit gebe es nicht, usw.[43]

In einer ‚bloß ökonomischen’ Sicht, die von jeglicher moralischen Schuld gelöste soziale Beziehungen fingiert, ist in der Tat dreierlei nicht verständlich: (a) ob man einander in einem nicht-ökonomischen Sinne etwas schuldet und (b) warum eine Bezie­hung vor einer irreversiblen Schieflage bewahrt werden sollte. Genauso wenig ist es ‚rein ökonomisch’ betrachtet verständlich, (c) warum ein Austausch, durch den man quitt miteinander geworden ist, eine Beziehung fortbestehen lassen sollte.[44]

Dagegen scheint die von Mauss beschriebene Moralökonomie, die weder eine an-öko­no­mische Moral noch auch eine a-moralische Ökonomie kennt, auf alle diese Fragen eine Antwort parat zu haben, die sich allerdings weder im Moralischen noch im Ökonomischen erschöpft: es geht nämlich um die Aufrechterhaltung und praktische Gestaltung sozialer Be­ziehung, die weder dadurch, dass man vorübergehend miteinander quitt ist, noch dadurch ruiniert werden sollte, dass der Austausch ganz und gar einseitig zu werden droht. Diese Be­ziehung besteht demnach vor jeglichem ökonomischen Austausch im engeren Sinne; sie darf durch keine Einseitigkeit radikal gefährdet werden; und sie soll nach konkreten Aus­tausch­prozessen bestehen bleiben oder durch sie vertieft werden können.

Diejenigen, die an Mauss heute wieder anknüpfen, betonen denn auch unaufhörlich, im Rahmen der von ihm beschriebenen, keineswegs auf „archaische Gesellschaften“ beschränk­ten, sondern im Grunde bis heute das Soziale und das Politische fundierenden Moralökonomie werde man „niemals quitt“ miteinander (weil kein Austausch die Beziehung der Beteiligten einfach auflöst).[45] Und sie weisen eine kapitalistische Ökonomie zurück, die es offenbar nicht nur zulässt, sondern es geradezu darauf anlegt, dass durch immerfort einseitig nachteiligen Austausch Abhängigkeiten entstehen, die früher oder später in eine massive Verschuldung und schließlich in eine irreversible Schuldknechtschaft münden müssen, die allenfalls durch ein hartes Insolvenzrecht zu beenden wäre.

Eine solche Knechtschaft muss letztlich jeglichen ökonomischen Austausch ad absurdum füh­ren. Daran ändert es grundsätzlich gar nichts, dass man den Zeitpunkt endgültiger Zahlungsunfähigkeit der ökonomischen Verlierer immer wieder hinauszuzögern versucht ‒ gegebenenfalls auch durch immer neue Kreditvergaben, die doch nicht dazu führen (sollen[46]), dass die Verlierer sich je wieder aus der Schuldenfalle befreien können. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt für die Gläubiger vor allem darin, den Status der Verschuldung ihrer Schuldner selbst aufrechtzuerhalten, um es nicht zu einem Zusammenbruch des ökonomischen Systems kommen zu lassen, der genau dann droht, wenn die völlige Aussichtslosigkeit, sich je wieder aus der Schuldknechtschaft[47] befreien zu können, politisch unmissverständlich und allgemein bewusst wird. Um die in einem bloß ökonomischen (entmoralisierten) System früher oder später unweigerlich eintretende Absurdität einer irreversiblen Schuldknechtschaft nicht offenkundig werden zu lassen, greift man ironischerweise zu Mitteln der Moralisie­rung genau da, wo es sich zeigen könnte, dass das ‚rein Ökonomische’ am Ende seines La­teins angekommen ist: Man gibt insbesondere verschuldeten Einzelnen die Schuld für ihre ökonomische Misere und hält sie auf diese Weise zusätzlich in ihr fest: Für die ökonomische Ausweglosigkeit tragen die Betroffenen selbst die Verantwortung. Vielfach geben sie sich die Schuld aber auch selbst[48], wie Untersuchungen im Anschluss an David Malone, David Graeber, Maurizio Lazzarato, Evi Stimilli, Tim Muzio und Richard Robins gezeigt haben, auf die hier nicht detailliert einzugehen ist.

Aber im Unterschied zur Mauss’schen Moralökonomie handelt es sich hier gerade nicht um einen Begriff, der die Beziehung der Beteiligten bestimmt und diese im Sinne gegenseitigen Austauschs aufrechterhalten soll, denn von einer entsprechenden Verantwortung bzw. Schuld der Gläubiger ist gar nicht die Rede. Sie stehen in keinem moralischen, sondern lediglich in einem ganz und gar entmoralisierten ökonomischen Verhältnis zu ihren Schuldnern[49], wohingegen diese nicht nur an nicht mehr abzutragenden finanziellen Schulden, sondern auch an der ihnen zugeschriebenen Schuld dafür leiden, sich in diese Lage selbst gebracht zu haben. So demütigt man ‒ wie im Falle Griechenlands ‒ ein ganzes Volk, das sich umso weniger dagegen wehren kann, als man nicht zuletzt auch den heimischen Eliten, darunter besonders Oligarchen, die das eigene Land ausgebeutet, die EU belogen und sich bis heute der Besteuerung entzogen haben, tatsächlich erheb­­liche Mitverantwortung für die entstandene Misere geben muss. Am Ende, wenn es zur ökonomischen Offenbarung der tatsächlichen Verschuldung kommt, müssen aber nicht die sich klug im Hintergrund haltenden Eliten, vielmehr muss das Volk diese Verantwortung sich selbst zurechnen. „Moral“, heißt das kurz gesagt, ist nur etwas für ökonomische Verlierer, die sich über ihre finanzielle Haftbarkeit hinaus mit der Schuld für ihre Schulden auseinandersetzen sollen, ohne je moralische Ansprüche gegen ihre Gläubiger geltend machen zu können; und zwar auch dann nicht, wenn (wie zu erwarten) für ständig anfallende Rückzahlungen von Krediten die Ärms­ten, die Alten und Kranken, also all jene, die am wenigsten die ökonomische Misere ihres Staates zu verantworten haben, zur Kasse gebeten werden. In tausenden Fällen derart, dass die Betroffenen den Suizid einem Weiterleben vorziehen, dem sie ökonomisch nicht mehr gewachsen sein können und das sie als absolute Demütigung erfahren.[50]

  1. Demoralisierung und Remoralisierung

Den Verlautbarungen der sog. Troika, des Repräsentanten der sog. Institutionen, des Herrn Disselbloem, und des amtierenden deutschen Finanzministers, der „die Griechen“ mit Nach­druck an ihre internationalen Pflichten erinnert hat, ist m. W. keine Spur einer gewissen Sensibilität für diese ökonomisch-moralischen Zusammenhänge zu entnehmen. Man be­steht vielmehr rigoros auf der Tilgung untilgbarer Schulden, für die allein die Schuld­ner haftbar sind, für die ihnen aber darüber hinaus vielfach auch Verantwortung im Sinne von Schuld zugeschrieben wird. Dieser Begriff ist aber niemals auf die Gläubiger selbst anwendbar. Indem sie auf einer solchen, moralisch nur gegen die Schuldner, nicht aber gegen die Gläubiger zu wendenden Logik insistieren, scheinen sie in Abrede zu stellen, überhaupt in einem moralischen Verhältnis zu den hoffnungslos Verschuldeten zu stehen, die sich selbst die Schuld dafür geben. Und zwar jeder für sich. So wird sehr effektiv nicht nur jegliche reziproke Moralisierung des Verhältnisses zwischen Gläubigern und Schuldnern ver­hindert; unkenntlich wird auch, dass es sich als ‚bloß ökonomisches’ einer Entmoralisierung verdankt (wenn wir den Gabe-Theoretikern folgen), die sich von einer vorgängigen Mo­ralökonomie herleitet, in der sich die Begriffe Schuld und Schulden ungeachtet ihrer Differenzierung niemals gänzlich voneinander haben trennen lassen. Zumal dann nicht, wenn diese Moralökonomie[51] Lebensformen im Ganzen geprägt hat.

Dagegen gilt Schuld heute überwiegend als lediglich auf individuelle Selbstverhältnisse abwendbarer Begriff. Der Begriff der Kollektivschuld ist längst zu den historischen Akten gelegt worden.[52] Moralische Schuld können nur diejenigen empfinden, die ein (schlechtes) Gewissen haben oder sich eines machen, wie man auch sagt. Diese Individualisierung der Schuld verhindert zugleich eine Politisierung des Begriffs. Andere tragen allenfalls als Einzelne Schuld an etwas. Weder einem Kollektiv noch auch einer Institution ist moralische Schuld zu geben. (Ungeachtet einer weit verbreiteten Rhetorik des Verantwortlichmachens, deren sachlicher Kern sich doch meist darauf reduzieren lässt, dass man entmoralisierte Prozesse der Verursachung feststellt.) So wird der Begriff der Schuld politisch entschärft, indem er moralischen Selbstverhältnissen vorbehalten bleibt, auf die auch die Praxis der Zu­schreibung von Verantwortlichkeit abzielt. Wem Verantwortung und in diesem Sinne Schuld zugeschrieben wird, sollte sich idealiter die Schuld einsichtig selbst geben.

Das gilt auch für die Schuld an Verschuldung und Überschuldung, die unter den skizzierten Voraussetzungen als selbst verschuldete ökonomische Misere erscheint. Wenn sich diese Misere jeder ‚Ver­lierer’ selbst zurechnen muss, kann ein über den Zusammenhang von Schuld und Schulden aufklärendes politisches Bewusstsein nicht entstehen. In entmoralisierten Gesellschaften (und zwischen ihnen) herrscht prima facie eine ökonomi­sierte Logik vor, die in der Form ei­nes sog. freien Marktes scheinbar zum Vorteil aller gereicht, ohne dass man einander irgend etwas schulden würde. Tatsächlich führt diese Logik jedoch früher oder später die ‚Verlierer’ (darunter ganze Gesellschaften) in eine irreversible Schuld­­­knechtschaft, aus der sie sich mit eigener Kraft nicht mehr zu befreien vermögen ‒ es sei denn, sie remoralisieren deren Zustandekommen und Konsequenzen selbst, wofür  jene Logik freilich keinen Spielraum einräumt. In einer (fiktiv) ganz und gar entmoralisierten Ökonomie kann sich der Begriff der Schuld nicht mehr dafür eignen, eine reziproke Beziehung zu stabilisieren, um deren Erhaltung es im Rahmen einer Mauss’schen Moralökonomie stets gegangen war.

So funktioniert also ‚Moral’ (d.h. hier: eine moralische Praxis der Zurechnung von Schuld) in entmoralisierten Gesellschaften: sie trägt paradoxerweise zu nachhaltiger ge­sell­schaftlicher Demoralisierung derer bei, die nur sich selbst Schuld geben können ‒ es sei denn, genau dieses Phänomen der Demoralisierung wird zum ‚Politikum’ im Zuge einer Remoralisierung der in archaischen Gesellschaften niemals abstrakt aufgeworfenen Frage: wer überhaupt zu wem wie in einem sozialen bzw. gesellschaftlichen Verhältnis steht oder stehen sollte. In diesen Gesellschaften wurde diese Frage ständig konkret durch andauernden Austausch prak­tisch beantwortet, indem man möglichst sowohl irreversible Einseitigkeiten als auch ein länger andauerndes Miteinander-quitt-werden vermied, das die bestehenden Be­ziehungen aufzulösen drohte. Jegliche Selbstverständlichkeit einer solchen konkreten Antwort ist uns dagegen abhanden gekommen. Und sie lässt sich nicht mehr im Sinne einer Identität von Moral und Gesellschaft restituieren, wie sie noch in Durkheims Soziologie suggeriert wird. (Insofern ist es auch irreführend, den Begriff der Remoralisierung so zu verstehen, als müsste er eindeutig darauf hinauslaufen, eine frühere Moral zu reetablieren, wie es nicht nur gewisse Verteidiger viktorianischer oder anderer Tugenden gelegentlich suggerieren.[53])

Deshalb empfiehlt sich der negativistische Weg, auf dem man die fragliche Über­schnei­­­­­­­­­­dung von Moral und Gesellschaft dort sucht, wo auf die Unannehmbarkeit einer scheinbar durchgängigen Trennung beider Begriffe reagiert wird. Das geschieht im Zuge einer Remoralisierung ausgehend von einer epidemisch um sich greifenden Demoralisierung, in der sich Einzelne Schuld geben, ohne sich noch eines gesellschaftlichen Beziehungssinns der Schuld vergewissern zu können, wenn Moral nur eine Sache der Verlierer ist. Genau das wird zunehmend als unannehmbar erlebt und führt deshalb zu Protest gegen Formen der Ökonomisierung aller gesellschaftlichen Beziehungen, die weder zu deren Grund­lagen noch auch zu Fragen ihres Fortbestandes irgendein Verhältnis haben.[54] So lassen diese Formen vergessen, was sie auf ihre spezielle (kapitalistische…) Art und Weise ‚ökonomisieren’. Zu ökonomisieren im transitiven Sinne des Wortes ist nur, was nicht von sich aus schon ökonomisch verfasst ist und möglicherweise niemals restlos im Ökono­mi­sierten wird aufgehen können. Das zeigt sich am Leben der ‚Verlierer’ und daran, wie die Lebbarkeit ihres demoralisierten Lebens schließlich auf dem Spiel steht. Wenn nun genau das im Gegenzug re-moralisiert und zum Motiv politischen Einspruchs gegen eine scheinbar nichts mehr ‚draußen’ lassende Ökonomisierung wird, steht letztlich wieder die uralte Grundfrage zur Disposition, die archaische Gesellschaften durch Formen des Austauschs zu beantworten versucht haben: ob und wie man ‚in Beziehung steht’ bzw. bleiben kann, allen Unwägbarkeiten des Gebens, Nehmens und Erwiderns zum Trotz.

  1. Bilanz/Ausblick

Wie es scheint, hat die moderne Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse mit der Schuldknecht­schaft ganzer Gesellschaften, in der sie heute an moralische Grenzen stößt, zu dieser Frage gar kein Verhältnis mehr. „The winner takes it all.“ Verlierer dagegen sollen ruhig ausscheiden (wohin auch immer sie sich dann wenden mögen, sei es in ein gedemütigtes, marginalisiertes Leben, dessen Stimme mangels minimaler ökonomischer Voraussetzun­gen kein Gewicht mehr hat, sei es in den Tod) ‒ solange man sich neue poten­zielle Verlierer finden lassen, ohne die das ökonomische Spiel nicht weitergehen kann, das nichts so sehr fürchten lässt wie die endgültige Zahlungsunfähigkeit derer, die nicht gewinnen können. Durch immer neue, immer absurdere Kredite wird genau das verhindert, obgleich keinerlei Aussicht darauf besteht, die betroffenen Schuldner könnten sich je von ihrer drückenden Schuldenlast wieder befreien und effektiven politischen Handlungsspielraum zurückgewinnen. Doch das ist nicht die vorrangige Maßgabe des ökonomischen Spiels, in dem es vielmehr darum geht, durch Zahlungsunfähigkeit ausgelöste Kettenreaktionen aufseiten der Gläubiger zu verhindern, die durchweg von den Schulden der Anderen leben und bis auf vergleichsweise minimales Eigenkapital praktisch nur deren Soll in ihren Bilanzen haben. Zugespitzt gesagt haben sie also nur das, was Andere nicht haben. Auf diese Weise sind alle Gläubiger Schuldner anderer Schuldner, denen sie im Grunde alles zu verdanken haben. In dieser Verschuldungsverkettung drohen diejenigen zum höchsten Risiko für alle zu werden, die als Gläubiger von anderen auf Gedeih und Verderb abhängen. Deshalb wird durch sog. bail-outs alles dafür getan, es nicht zu einer Kettenreaktion kommen zu lassen. Und solange das weitgehend vermieden werden kann (bis auf wenige Ausnahmen, in denen man Banken hat pleitegehen lassen), muss die ruinöse Logik dieses Systems nicht offen zutage treten.

Bis es so weit ist, leben wir zwischen einer weitgehend verblassten, verkümmerten, jedenfalls gewiss nicht mehr das „Fundament“[55] heutiger Gesellschaften im Ganzen tragenden Moralökonomie einerseits und einer zukünftigen, möglicherweise desaströsen Offenbarung die­ser Logik andererseits. Und zwar ohne uns auf eine Identität von Moral und Gesellschaft stützen oder uns mit deren endgültiger Dissoziation indifferent arrangieren zu können. Das geht jedenfalls aus Remoralisierungen gesellschaftlicher Demoralisierung hervor, die uns mit der Frage konfron­tieren, ob es für die Betroffenen, aber auch für die Prekären, die noch nicht unmittelbar Betroffenen, und für diejenigen, die sich vorläufig in ökonomischer Sicherheit wähnen, akzeptabel ist, als Verlierer aus dem ökonomischen Spiel derart auszuscheiden, dass ihre Stimme keinerlei Gewicht mehr hat, so dass sie in allen Bedeutungen des Wortes nicht mehr ‚zählt’. Lt. Jacques Rancière bedeutet das: geradezu aufzuhören, überhaupt politisch zu existieren.[56] Man ist dann niemand mehr, wird nicht mehr gehört und findet keine Beachtung mehr, welche Menschen- und Bürgerrechte man auch immer formell genießen mag. Genau das droht, wenn Schuldner in einer entmoralisierten ökonomischen Schuldknechtschaft festgehalten werden, in der sie allenfalls sich selbst die Schuld für sie geben können, wohingegen ihre Gläubiger ihnen überhaupt nichts schuldig zu sein scheinen.

Die Politische Philosophie der Gegenwart hat von Hannah Arendt über Michel Foucault und Jean-François Lyotard bis hin zu Jacques Rancière, Jean-Luc Nan­cy und vielen anderen darauf insistiert, dass es unannehmbar ist, derart der politischen Inexistenz zu verfallen, d.h. bei lebendigem Leibe einen politischen Tod zu erleiden, um fortan ein ökonomisch deklass­iertes, gedemütigtes, marginalisiertes und geradezu unsichtbares Leben zu fristen, politisch aber mundtot (aneu logou) zu sein. Jeder, heißt das, sollte wenigstens einen Anspruch darauf geltend machen können, politisch zu existieren.[57] Demnach wären wir das jedem Anderen schuldig.

Auf diese Weise beziehen die Genannten ihrerseits eine politisch-moralische Position, die besagt, dass niemand um den Status eines Subjekts gebracht werden sollte, das sich effektiv an Andere wenden kann. Nur politische Wesen, die dafür gegenseitig und kollektiv einstehen, weil sie das einander moralisch schulden, sofern sie überhaupt politisch leben wollen, können dann auch in reziproke Austauschbeziehungen treten ‒ sei es in wechselseitigem Geben, Empfangen und Erwidern von Geschenken wie bei einem ersten Kulturkontakt, sei es in vertraglich geregelten Handelsbeziehungen, sei es in finanzkapitalistischen Transaktionen zu gegenseitigem Vorteil. Gewiss lassen sich diese längst nicht mehr auf ritualisierte Formen des Austauschs zurückführen, in denen man sich nicht (ökonomisch) verschuldete, ohne sich zugleich in der (moralischen) Schuld Anderer zu wissen, die im Geist des Gebens ganz und gar der Aufrechterhaltung der Beziehung zu ihnen verpflichtet war. So weit sich aber auch immer ökonomische, entmoralisierte Transaktionen und Systeme von dieser Basis entfernt haben mögen, sie können bzw. sollten die zweifellos stark geschwächten Verbindungen zu einer Moralökonomie nicht gänzlich aus dem Auge verlieren, die von Anfang an die Frage aufgeworfen hat, ob nicht nur Subjekte, die sich gegenseitig die Achtung ihres moralischen Status schulden, auch ihre ökonomischen Schulden auf gedeihliche Art und Weise werden regeln können. Wenn man diese Frage gänzlich aus dem Blick verliert, muss am Ende erst das Desaster einer globalen und hegemonialen Finanzwirtschaft darauf aufmerksam machen, dass ökonomische Beziehungen auf Dauer nicht um den Preis ihrer (fiktiven) völligen Entmoralisierung und Demoralisierung zu haben sind.

Mit Recht stellen Kritiker einer demoralisierten Ökonomie wie Graeber u.a. fest, sie rühre an die Grundlagen menschlichen, sozialen, politischen und ökonomischen Daseins.[58] Wie aber verfügt dieses Dasein überhaupt über „Grundlagen“? Sowohl dass und als was wir da sind, als auch wer wir sind und sein werden, ist rückhaltlos von nicht zu umgehender, insofern notwendiger Kontingenz affiziert.[59] Weder für unser Vorhandensein auf der Erde noch dafür, was und wer wir sind, gibt es je zureichende Gründe.[60] Das zeigt sich par excellence anlässlich der Geburt, die Kant als „An­­ma­ßung“ aufgefasst hat, „eine Person ohne ihre Ein­willi­gung […] eigenmächtig in [die Welt] herüber[bringen]“ zu wollen. Wer der­glei­chen zu verantworten hat, schulde es den Nach­kommen, sie „so viel in ihren Kräften ist, mit diesem […] Zustande zufrieden zu machen“ und dabei „allem An­spruch auf Kos­ten­erstattung“ für die dabei aufgewandte Mühe zu entsagen.[61] Unabhängig davon, ob es denjenigen, die schon da sind, je gelingen kann, dieser hohen Anforderung gerecht zu werden, sehen wir die Nachkommen doch auf jeden Fall davon vollkommen entlastet, etwa in einen kosmischen, schicksalhaften Schuldzusammenhang einrücken zu müssen, wie man ihn ‒ sei es mit Anaximander, sei es mit Fjodor Dostojewskij oder noch mit Walter Benjamin ‒ gedeutet hat.[62] Neugeborene stehen in niemandes Schuld; sie tragen und haben keine Schuld, selbst wenn es stimmen sollte, dass sie sich spä­ter unweigerlich in eine Fehlbarkeit verstricken müssen, die sie schuldig werden lässt.[63] Allenfalls sind wir ihnen, den neu Hinzukommenden, etwas schuldig, da wir ihr Dasein schließlich zu verantworten haben ‒ und zwar sowohl im Sinne der Verursachung als auch im Sinne nachträglicher Rechenschaftsgabe vor ihnen.

Der Begriff des Daseins musste für Kant von vornherein die künftige Existenz als Weltbürger, der auf Hos­pitalität Anspruch hat, einschließen und durfte sich keinesfalls auf den amoralischen Status als beliebiges „Gemächsel“ Anderer reduzieren.[64] Dieser künftigen Existenz eines Wesens, das selbst, aus sich heraus und insofern als unverfügbares Selbst, leben wird, im Vorhinein gerecht zu werden, erfordert weit mehr als die übliche physische Pflege und gewisse Beiträge zur Zivilisierung, Kultivierung und Moralisierung des Einzelnen, denen sich heute eine wortreiche Pädagogik der Erziehung und der Rationa­lisierung an­nimmt. Gefordert ist mindestens, dieses Selbst nicht (von vornherein) zu verknechten, wie es heute überall zu geschehen droht, wo es kein Entkommen aus (kollektiver) Verschuldung mehr gibt und ganze Generationen insofern um ihre Zukunft fürchten müssen. Gefordert ist darüber hinaus ein komplexes Set von Be­fähigungen zur konkreten Ausübung von Fähigkeiten (capabilities[65]), die niemand von Anfang an fertig mitbringt, die sich vielmehr nur in geeigneten sozialen, politischen und rechtlichen Umwelten entfalten können. Gefordert ist außerdem eine vorsorgliche Regelung der wichtigsten Fälle (wie Behinderung, Arbeitslosigkeit und Krankheit), in denen die entsprechende Entwicklung des Einzelnen zwischenzeitlich oder auf Dauer einschneidend derart beeinträchtigt werden kann, dass individuelles Leben kaum mehr als lebbar erscheint.

Dafür war in Kants Verständnis eine gewisse bürgerliche Selbständigkeit, d.h. die Fähig­keit erforderlich, „nach eigenem Betrieb, [nicht] nach der Verfügung anderer […], seine Existenz (Nah­rung und Schutz) zu erhalten“.[66] Von der industry und action John Lockes über die Neugier und Industriosität der Aufklärer bis hin zur gegenwärtigen Apologie einer Flexibilität, die jeden zum Unternehmer seiner selbst machen sollte[67], ist dieser Status der Selbständigkeit nachhaltig dynamisiert worden.[68] Demnach genügt es längst nicht mehr, sich irgendwie im status quo zu „erhalten“, wie Kant schreibt. Vielmehr muss man sich (an­­­­­geblich) um sein ökonomisches ‚Vorankommen’ unter ständig und beschleunigt sich wandelnden ökonomischen Bedingungen sorgen; und zwar antizipativ, bevor einen dieser Wandel schachmatt setzen kann. So konnten selbst Sozialdemokraten die uralte, auch schon von August Bebel, Adolf Hitler und Josef Stalin variierte Devise des Zweiten Briefes des Paulus an die Thessalonicher[69] (Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen) zeitgemäß uminterpretieren und zusätzlich in die Dynamik heutiger Ge­sellschaften moralisch investieren.[70] Diese Devise besagt nunmehr: Dasein muss ökono­misch „verdient“ werden.[71] Gegebenenfalls eben auch im Rahmen einer unüberwindlichen Schulden-Ökonomie. Was auch immer man dir (implizit) versprochen[72] haben mag anlässlich deiner Geburt, du wirst fortan selbst verdienen müssen, ob du etwas zu essen hast und was du darüber hinaus bist oder werden willst. Alles, was du bekommst, musst du verdienen. Verdienst du nichts, bekommst du nichts. Und je mehr du dir verdienst, desto mehr wirst du verdienen. Suggeriert wird so ein direkter, im Einkommen gewissermaßen operationalisierter Zusammenhang zwischen Moral und Ökonomie, der den Umkehrschluss nahelegt: was verdient wurde, war verdient. (Zynischerweise nimmt auch eine Finanzwirtschaft diesen bei Managergehältern und spekulativem Gewinn nicht selten ad absurdum geführten Zusammenhang für sich in Anspruch, die nur noch das Geld ‚arbeiten’ lässt – und zwar idealerweise stets das Geld Anderer, das man selbst nicht verdient hat.)

Unter dieser Voraussetzung setzt die zu beobachtende Demoralisierung an allen genannten Punkten an, angefangen beim schieren Dasein. Dasein bedeutet demnach keinerlei Verdienst; und man ist ihm, bloß ökonomisch gesehen, nichts schuldig. Durch sein bloßes Dasein verdient man allenfalls Achtung (der nichts kostenden Würde) und einen bürgerlichen Respekt (wie einen Vorschuss), den man mehr oder weniger einbüßen kann, wenn man wenig oder nichts verdient. Wenn das aber der Fall ist, hat man Geringschätzung bis hin zur Verachtung zu gewär­­tigen. Und die ist erfahrungsgemäß bei denen am meisten ausgeprägt, die auf der vorletzten Sprosse der gesellschaftlichen Leiter stehen, glauben sie doch vielfach, nur so noch einen letzten Abstand wahren zu können, bevor sie mit den Geringsten gesellschaft­lich unsichtbar werden müssen. Wer sich mit anderen Worten sein bürgerliches Dasein nicht durch Verdienst verdienen kann, büßt es ein bzw. fällt in eine passive Mitgliedschaft zurück, in der man ‒ ob mit oder ohne Stimmrecht[73] ‒ kein Gehör findet, so dass man ge­radezu Gefahr läuft, politisch nicht mehr zu existieren. Denn auch darauf besteht scheinbar gar kein Anspruch, den man sich nicht eigens verdienen müsste. Mit anderen Worten: wo man nichts ist als das, was man verdient (und wo man sonst nichts ‒ moralisch ‒ verdient), droht man bis auf sein schieres Dasein seines Lebens verlustig zu gehen, wenn man nichts verdient (weil man nicht arbeitet bzw. arbeiten will). In einer rein ökonomischen Logik wäre das nicht zu moralisieren; allenfalls handelt es sich um jedes Einzelnen eigene Schuld, die er sich selbst zurechnen muss. Und aus Erfolglosigkeit erwachsen keinerlei Ansprüche gegen Andere.

Das ist es, worauf eine exzessive Schuldenökonomie schließlich scheint hinauszulaufen zu müssen: die massenhaft demoralisierte Existenz Verschuldeter, die für ihr unverdientes Da­sein niemand anderem als sich selbst die Schuld geben können. Moral kann für sie keinen Anspruch mehr auf etwas (etwa auf ein in seiner Kontingenz lebenswertes Leben) oder gegen Andere mehr begründen, sondern nur noch zur Selbstdemütigung derer beitragen, die ‚verloren’ haben. Verlierern aber schuldet man in dieser Logik rein gar nichts. Sie scheiden ein­fach aus dem ökonomischen Spiel aus und büßen dafür unter den gegenwärtigen Bedingungen ihre politische Existenz ein, wenn sie schließlich weder ein Recht noch einen nicht-juridischen, etwa ethischen Anspruch darauf haben, auch als Verlierer gehört zu werden. So ist man zwar am Leben, aber doch (politisch) tot. Von einem ‚bloß ökonomischen’ Standpunkt aus ist dagegen scheinbar nichts einzuwenden ‒ solange diese Erfahrung nicht epidemische Ausmaße annimmt und das ökonomische Spiel selbst zu gefährden beginnt.

Genau das droht allerdings im Zuge einer Remoralisierung des Gesellschaftlichen, die mit einer rein individuellen Zurech­­nung von Schulden als Schuld Schluss macht und sich auf diese Weise zugleich der De­politisierung sowohl der aufgehäuften Schulden als auch der individualisierten Schuld wider­setzt. Sie widersetzt sich auf diese Weise im Wesentlichen der wichtigsten Konsequenz einer rückhaltlosen Ökonomisierung des Gesellschaftlichen, der Konsequenz nämlich, dass man bei lebendigem Leibe aufhört, (politisch) zu existieren, sobald man ‚verlor­en’ hat. Und von dieser derzeit massenhaft zu beobachtenden Kon­sequenz her veranlasst sie in der Tat dazu, die eingangs aufgeworfene Frage nach den Grundlagen des Gesellschaftlichen neu aufzuwerfen.

Kann mit anderen Worten ein vergesellschaftetes Dasein auch um den Preis im Geringsten als erträglich, annehmbar oder bejahbar erscheinen, dass es den Verlierern, zu denen in nächster Zukunft jeder gehören kann, zumutet, nur noch ein selbst verschuldetes, ggf. zu­gleich überschuldetes Dasein in der Weise des (politischen) Nichtmehrdaseins zu fristen? Wenigstens mit Blick auf jene Urszene, die Kant im Blick hatte, als er sich fragte, unter welchen Bedingungen man eine Person „ohne ihre Ein­willi­gung auf die Welt“ setzen darf, kann man die Gegenprobe machen, ob man Nachkommen, sollten sie einst zu den ‚Ver­lierern’ zählen, sagen dürfte: politisch schuldeten wir euch nichts ‒ außer der Achtung einer unverdienten Würde, die euch nicht davor schützt, euch euer Leben erst verdienen zu müssen und die, wenn ihr das nicht mehr könnt, allenfalls noch eurem bloßen Vorhandensein zukommt. Positiv gewendet ergibt sich aus dieser Aussicht, dass jene Urszene das Versprechen einschließen muss, nicht nur für diese abstrakte Würde moralisch, sondern auch für die Existenz künftiger Mitglieder der Gesellschaft, sei es auch eine Welt-Ge­sell­schaft, politisch zu bürgen ‒ das heißt: sie niemals als absolute ‚Verlierer’ aus einem rückhaltlos ökonomisierten Leben indifferent herausfallen zu lassen. In diesem Sinne remoralisierte Gesellschaften würden nicht mehr auf eine ‚konservative’ Identität von Moral und Gesellschaft zurückfallen, sondern allenfalls aus dem negativen Einspruch gegen ein derartiges, kaum als annehmbar erscheinendes Leben erwachsen. Sie haben ihre Zukunft also nicht hinter sich, sondern bestenfalls vor sich.

[1] D. Malone, The Debt Generation, Lancaster 2010, S. 56.
[2] Vgl. demgegenüber K. Kosik et al., Moral und Gesellschaft, Frankfurt/M. 21970.
[3] E. Durkheim, Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesungen an der Sorbonne 1902/1903, Frankfurt/M. 1984, S. 111.
[4] Ebd., S. 112.
[5] Vgl. bspw. H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Bonn 1924; J. Sabini, M. Silver, Moralities of Everyday Life, New York 1982; G. P. Fletscher, Loyalität. Über die Moral von Beziehungen, Frankfurt/M. 1994; L. Heidbrink, Kritik der Verantwortung. Zu den Grenzen verantwortlichen Handelns in komplexen Kontexten, Weilerswist 2003; J. N. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge, London 1984; dt. Ganz nor­male Laster, Berlin 2014.
[6] J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt/M. 1981, Kap. V, 2.
[7] B. Latour, Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen, Berlin 2014.
[8] In Folge dessen werden die klassischen „Legitimationsprobleme“ (nicht nur des sog. „Spätkapitalis­mus“) aufgeworfen; J. Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 51979; P. L. Berger, The Capitalist Revolution. Fifty Propositions About Prosperity, Equality & Liberty, New York 1986, S. 207.
[9] Vgl. bspw. D. Malone, der mit seiner Beschreibung eines debt enslavement (The Debt Generation, S. 56, 66, 96, 128) genauso auf eine Kritik gewaltsamer Ökonomisierung heutiger Gesellschaften abzielt wie T. Di Muzio, R. H. Robins, die in ihrem Buch Debt as Power, Man­ches­ter 2016, eine auf andauernder Verschuldung basierende Ökonomie explizit als eine Form gesellschaftlicher Gewalt delegitimieren (S. 20, 40, 79).
[10] Verwiesen sei nur beispielhaft auf M. Boveri, Der Verrat im XX. Jahrhundert. Für und gegen die Nation, Reinbek 1956; A. Eggebrecht (Hg.), Die zornigen alten Männer. Gedanken über Deutschland seit 1945, Reinbek 1982; P. Kemper (Hg.), Opfer der Macht. Müssen Politiker ehrlich sein?, Frankfurt/M. 1994; Shklar, Ganz normale Laster.
[11] O. Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013.
[12] G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1980, Vorrede.
[13] Vgl. B. Liebsch, J. Straub (Hg.), Lebensformen im Widerstreit. Integrations- und Identitätskonflikte in pluralen Gesell­schaf­ten, Frankfurt/M. 2003.
[14] E. Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, Frankfurt/M. 1984. Bekanntlich bildet der Grundsatz, soziale bzw. soziologische Tatbestände (auch Prozesse und Strukturen) „wie [nicht: als] Dinge“ zu behandeln, den Kern der Methodologie dieses Gesellschaftstheoretikers (ebd., S. 89). Ob darin auch schon eine Reifizierung liegt, bleibe dahingestellt. Zweifellos hat Durkheim immer wieder mit der Vorstellung einer „besonderen Art des Seins“ dieser „Dinge“ geliebäugelt; siehe E. Durkheim, Soziologie und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 70.
[15] Vgl. K. Röttgers, Das Soziale als kommunikativer Text. Eine postanthropologische Sozial­phi­losophie, Bielefeld 2012, S. 40, 45, 118, 123, sowie die Rezension d. Vf., „Zur Rekonfigu­ration der So­zial­­philosophie. Ontologie ‒ Phänomenologie ‒ Kritik“, in: Philosophische Rundschau 60, Heft 2 (2013), S. 91‒129.
[16] N. Luhmann, R. Spaemann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral, Frankfurt/M. 1990, S. 25.
[17] Vgl. die Rezension d. Vf. in: Philosophischer Literaturanzeiger 67, Nr. 4 (2014), S. 366‒375.
[18] H. Willke, Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften, Frankfurt/M. 2003, Kap. 5.
[19] Vgl. V. Forrester, Der Terror der Ökonomie, Wien 1997; G. Soros, Die Krise des globalen Kapi­ta­lis­mus. Offene Gesellschaft in Gefahr, Frankfurt/M. 2000, S. 27; N. Stehr, Die Moralisierung der Märk­te. Eine Gesellschaftstheorie, Frankfurt/M. 2007, S. 25 ff.; M. Miegel, Exit. Wohlstand ohne Wachstum, Berlin 2011, S. 14‒19.
[20] M. Merleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1974, S. 187.
[21] J. Butler, A. Athanasiou, Die Macht der Enteigneten. Das Performative im Politischen, Zürich, Ber­­­­lin 2014.
[22] Ob das angemessen erscheint und ‚mit Recht’ geschieht, ist eine andere Frage. Vgl. J. N. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Frankurt/M. 1999; Vf., H. Bajohr (Gasthrsg.), „Schwerpunkt: Judith N. Shklars politische Philosophie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 62, Nr. 4 (2014), S. 626-746.
[23] Vgl. A. O. Hirschmann, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Pri­vatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt/M. 1988; P. Furth, Phänomenologie der Enttäuschungen. Ide­­o­logiekritik nachtotalitär, Frank­­furt/M. 1991.
[24] H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industrie­gesellschaft, Darmstadt 1970, S. 83.
[25] Keineswegs ist „die Negation […] das, was am einfachsten“ zu bewerkstelligen ist, wie Georg Sim­mel meinte. Sie kann sich zumal in komplexen politischen Lagen auch in bloßer Ablehnung er­schöpfen und in die Suche nach Sündenböcken münden; vgl. J. Baudrillard, „Die Stadt und der Haß“, in: U. Keller (Hg.), Perspektiven metropolitaner Kultur, Frankfurt/M. 2000, S. 130-141, hier: S. 136. Siehe dazu auch die Revisionen negativistischen Denkens in: B. Liebsch, A. Hetzel, H. R. Sepp (Hg.), Profile negativistischer Sozialphilosophie. Ein Kompendium. Sonderband Nr. 32 der Deutschen Zeit­schrift für Philosophie, Berlin 2011; E. Angehrn, J. Küchen­hoff (Hg.), Die Arbeit des Negativen. Negativität als philosophisch-psychoanalytisches Problem, Weilers­wist 2014.
[26] Marcuse, Der eindimensionale Mensch, S. 235.
[27] Ebd., S. 89.
[28] Vgl. die Bestandsaufnahmen in R. Jaeggi, T. Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt/M. 2009; L. Boltanski, Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010.
[29] B. Moore, Ungerechtigkeit, Frankfurt/M. 1982.
[30] J. D. Sachs, The End of Poverty, New York 2006.
[31] A. Margalit, The Decent So­ciety, Cambridge, London 1996.
[32] C. Menke, A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, Hamburg 2007.
[33] P. Ricœur, Gedächtnis, Geschichte, Vergessen, München 2004, S. 696.
[34] https://en.wikipedia.org/wiki/The_Life_You_Can_Save
[35] Vgl. B. Liebsch, M. Staudigl (Hg.), Bedingungslos? Zum Gewaltpotenzial unbedingter Ansprüche im Kontext politischer Theorie, Baden-Baden 2014.
[36] Die Relation beider Begriffe habe ich zu klären versucht in dem Aufsatz „Schuld − Schulden − Verdanken. Ein Beitrag zur Revision des Verhältnisses von Moral und Ökonomie vor aktuellem Hintergrund“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (2016), i. V.
[37] Vgl. zur fragwürdigen Terminologie jener Praxis K. Polanyi, The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesell­schaf­ten und Wirtschaftssystemen, Frank­­furt/M. 1978, S. 86; ders., Ökonomie und Gesellschaft, Frank­­­furt/M. 1979, S. 182.
[38] M. Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Ge­sellschaften, Frank­furt/M. 31984, S. 15 ff.
[39] M. Sahlins, Stone Age Economics, New York 1972; J. Derrida, Falschgeld. Zeit geben I, München 1993, S. 38, 99 ff.
[40] M. Godelier, Das Rätsel der Gabe, München 1999.
[41] Mauss spricht in Anlehnung an das magische hau der Maori vom „Geist der gegebenen Sache“. Da­mit hat er sich den Vorwurf zugezogen, selbst zu magischen Hilfsmitteln der Erklärung des fraglichen Sachverhalts zu greifen (M. Sahlins).
[42] Mauss, Die Gabe, S. 19, 173; D. Graeber, Schulden. Die ersten 5000 Jahre, München 2014; M. Hé­naff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, Frankfurt/M. 2009, S. 40.
[43] Graeber, Schulden, S. 36, 449.
[44] Ein weniger ökonomisch restriktives Denken kann dem selbstverständlich Rechnung tragen, etwa mit Blick auf die Erfahrung, sich gegenseitig als vertrauenswürdiger, zuverlässiger und fairer Handelspartner erwiesen zu haben, usw. Hier geht es aber gar nicht darum, solche Aspekte mittel- und langfristig aussichtsreichen ökonomischen Handelns zu diskutieren, sondern deutlich zu machen, was aus dessen fingierter radikaler Entmoralisierung folgen würde. Auf einem anderen Blatt steht, ob öko­nomisches Handeln realiter je einer derartigen ökonomischen Fiktion entsprechen kann.
[45] Vgl. Latour, Existenzweisen, S. 581 ff., 599, 604.
[46] Das betonen Di Muzio und Robins: Verschuldung als eine Technologie der Macht, die ganz und gar auf interest-bearing debt ruht, ist geradezu auf deren Permanenz angelegt (Debt as Power, S. 20, 40, 79).
[47] Vgl. Malone, The Debt Generation, S. 56, 66, 96, 128; T. Armstrong, The Logic of Sla­very. Debt, Technology, and Pain in American Literature, Cambridge 2012, S. 52.
[48] Deswegen wäre es gewiss zu einfach, wollte man in dieser Moralisierung von Schulden eine raffinierte Strategie oder geradezu eine Verschwörung von Gläubigern bzw. ‚des Kapitals’ sehen.
[49] Di Muzio, Robins, Debt as Power, S. 135 ff.
[50] https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2015-02/suizid-griechenland-wirtschaftskrise-sparpolitik
[51] Vgl. den Begriff der moral economy bei J. Oldham Appleby, Economic Thought and Ideology in Seventeenth-Century England, Princeton 1978, bes. ch. 3.
[52] K. Jaspers, Mitverantwortlich, München o. J.
[53] A. MacIntyre, After Virtue. A Study in Moral Theory, Notre Dame 21984; G. Himmelfarb, The De-Mora­liza­tion of Society. From Victorian Virtues to Modern Values, New York 1995; R. Crisp, M. Slote (eds.), Virtue Ethics, Oxford 1997; D. Sternberger, „Wohin verschwand die Tugend? Einige An­mer­kungen zu einem Akademievortrag von Paul Valéry (1935)”, in: ders., Figuren der Fabel, Frank­furt/M. 1990, S. 101-109. Selbst ein Schulden-Kritiker wie Graeber ist vor restaurativen Ten­den­zen nicht gefeit. Das fällt überall dort auf, wo er sich mit einer Rhetorik der Ursprünglichkeit einer die Be­­­­­ziehungen der Menschen angeblich ‚immer schon’ (und deshalb weiterhin) charakterisierenden Schuld auseinandersetzt. Graeber weiß allerdings genau, dass sich auf bloßes „Geschäft“ reduzierte und auf diese Weise eigentümlich dekontextualisierte, welt­lose ökonomische Transaktionen nicht re­kos­misieren und so in einen alle und alles umfassenden Schuldzusammenhang reintegrieren lassen (Schulden, S. 339, 490 f.). Die von Graeber in Erinnerung gerufenen „Grundlagen unseres Daseins“ (ebd., S. 491), die er nicht in ein Geschäft verwandelt sehen möchte, kommen erst nachträglich in den Blick durch die Probe, zu der uns die umfassende Ökonomisierung der heutigen Lebensverhältnisse zwingt: Sie zwingen uns dazu, herauszufinden, wie weit sie gehen können bzw. sollten und inwiefern sie unerträglich bzw. mit einem „sozialen“ Leben unvereinbar sind. Auch das, was wir unter diesem Prädikat verstehen, muss in Folge dessen neu bestimmt werden und lässt sich nicht einfach unter Berufung auf Autoritäten früherer Zeiten sagen, die von einer ‚globalen’ Ökonomisierung aller Le­bens­­ver­hältnisse allenfalls etwas ahnen lassen konnten.
[54] In diese Kerbe schlägt auch E. Pulcini, Das Individuum ohne Leidenschaften. Moderner Individua­lis­mus und Verlust des sozialen Bandes, Berlin 2004.
[55] Vgl. A. Callié, Anthropologie der Gabe, Frankfurt/M. 2008, S. 71 f. Hier ist mit Karl Polanyi von einem re-embedding des Marktes „in eine soziale und politische Ordnung“ die Rede, die nicht mehr im Ganzen auf „ein Modell der Ökonomie der Gabe“ zu gründen sei.
[56] J. Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt/M. 2002.
[57] Vf., Prekäre Selbst-Bezeugung. Die erschütterte Wer-Frage im Horizont der Moderne, Weilers­wist 2012, Kap. IX.
[58] Siehe oben, Anm. 40.
[59] Vgl. N. Ricken, „Menschen ‒ Zur Strukur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension“, in: F. Jaeger, B. Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissen­schaf­ten, Bd. 1.: Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stutt­­gart, Weimar 22011, S. 152‒172.
[60] H. Blumenberg, Die Sorge geht über den Fluß, Frankfurt/M. 1988, S. 57 ff.; ders., Beschreibung des Menschen, Frankfurt/M. 2006, S. 208; Vf., Geschichte im Zeichen des Abschieds, München 1996, Kap. II C.
[61] Wieso schuldet man das, wird man fragen. Woraus folgt das? Wer befindet darüber? Anstelle einer an dieser Stelle ohnehin nicht möglichen Kantexegese empfiehlt sich die geistige Gegenprobe mit der Frage, was daraus folgen würde, wenn wir annähmen, wir/man schulde dem Neugeborenen überhaupt nichts. Vgl. I. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werkausgabe Bd. VIII (Hg. W. Weischedel), Frank­furt/M. 1977, § 28 f.; vgl. Graeber, Schulden, S. 335.
[62] J. Mansfeld (Hg.), Die Vorsokratiker (gr./dt.), Stuttgart 1987, S. 73; F. M. Dostojewskij, Die Brü­der Karama­sow, Frankfurt/M. 182002, S. 388, 431; W. Benjamin, „Schicksal und Charakter“, in: Illu­minationen, Frankfurt/M. 21980, S. 42-49, hier: S. 46.
[63] P. Ricœur, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld I, Freiburg i. Br., München 21989. Für Herbert Marcuse war dagegen jegliche Schuld bereits zur bloßen „Privatangelegenheit“ ge­worden, falls sie nicht längst einem schuldlos-glücklichen Bewusstsein anheimgefallen ist (Der eindimen­sionale Mensch, S. 98 f., 102).
[64] Kant begriff das Recht der Hospitalität bekanntlich als Anspruch darauf, anlässlich der Ankunft auf dem Boden Fremder nicht feindselig behandelt und nicht abgewiesen zu werden, wenn das eine Ge­fahr für Leib und Leben bedeuten würde. Dabei übersah er, dass wir alle als Fremde bei Fremden zur Welt kom­men und vertraut erst werden, um auf diese Weise nicht ganz und gar fremd zu bleiben. Vgl. I. Kant, „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“, in: Werkausgabe Bd. XI (Hg. W. Weischedel), Frank­furt/M. 1977, S. 191-251, hier: S. 213.
[65] A. Sen, „The Standard of Living“, The Tan­ner Lec­tures on Hu­man Values, March, 11/2, 1985.
[66] Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 46, Werkausgabe Bd. VIII, S. 432 f.
[67] U. Bröck­ling, Das unternehmerische Selbst, Frankfurt/M. 2007. Nicht nur in das eigene Leben, auch in das Leben der eigenen Nachkommen und in deren künftiges Leben gilt es demnach, als Humankapital zu investieren. Vgl. dagegen den Versuch, in den generativen Verhältnissen eine ‚an-öko­no­mische’ Di­­­mension zu sehen, in: Vf., In der Zwischenzeit. Spielräume menschlicher Generativität, Zug 2016.
[68] G. Buck, „Selbsterhaltung und Historizität“, in: H. Ebeling (Hg.), Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne, Frankfurt/M. 1976, S. 208-302, hier: S. 243 f.
[69] https://de.wikimannia.org/Wer_nicht_arbeitet,_soll_auch_nicht_essen
[70] Wer nicht arbeitet, verdient sein Leben nicht, da er ja nichts verdient; und wer nichts verdient, hat nichts und verdient es nicht zu essen, scheint doch ohne weiteres aus den Worten eines Sozialde­mo­kraten zu fol­gen. Wer nicht arbeitet, hätte es also verdient, dass man ihn verhungern lässt? Noch steht der So­zial­staat dagegen. Vgl. zum Hintergrund der fraglichen Äußerung K. Schreiner, „Arbeiten fürs Essen“, https://www.zeit.de/on­line/2006/20/Schrei­ner; D. Gosewinkel, Schutz und Freiheit? Staatsbürgerschaft in Europa im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin 2016, S. 204.
[71] Forrester, Der Terror der Ökonomie, S. 15.
[72] P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt/M. 1970, S. 66 f. Dieser Soziologe geht so weit, aus der menschlichen Generativität das metaphysische Versprechen eines im Ganzen „in Ordnung“ befindlichen Seins herauszulesen. So weit muss man nicht gehen, wenn man (nur) darauf besteht, in ihr müsse der Sinn einer Bürg­schaft für eine politi­sch verlässliche Lebensform liegen. Ich komme darauf am Schluss kurz zurück. Vgl. Vf., Gegebenes Wort oder Gelebtes Versprechen. Quellen und Brennpunkte der Sozial­philoso­­­phie, Freiburg i. Br., München 2008.
[73] Vgl. oben, Anm. 66 zu Kants Unterscheidung aktiver und passiver Staatbürgerlichkeit.

© Burkhard Liebsch

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