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Pro und Contra: Ist das gute Leben ein öffentliches Thema?

Veröffentlicht am 22. Juli 2013

pro: Ursula Wolf

Die Frage spielt auf das moderne liberale Selbstverständnis an, wonach das gute Leben Privatsache ist. In der moralphilosophischen Debatte redet man vom Vorrang des Richtigen vor dem Guten, eine Auffassung, die sich auf Kant zurückführen lässt. Kant schreibt moralischen Pflichten einen vernünftig begründeten kategorischen Forderungscharakter zu, während er Ratschläge des Glücks als hypothetische Imperative versteht, die sich relativ zum Ziel des guten Lebens ergeben. Auch wenn es sich beim eigenen Glück um ein Ziel handelt, dessen Suche man bei allen Menschen unterstellen könne, so bestehe dieses doch für verschiedene Menschen in inhaltlich verschiedenen Konzeptionen, die eine Sache subjektiver Vorlieben sind, über die sich nicht argumentieren lässt, womit das gute Leben kein öffentliches Thema sein kann.
Nun findet sich dieser scharfe Gegensatz zwischen Glück und Moral nicht in jeder ethischen Theorie. So schreibt die antike Ethik der Vernunft als der für Menschen spezifischen natürlichen Fähigkeit gerade die Aufgabe der Bestimmung des guten Lebens zu. Auch wenn es je nach Lebenskontext und Lebenslage verschieden ist, worin das gute Leben im Detail besteht, stellt die Vernunft grundsätzliche Überlegungen über die richtige Lebensform an. Im Alltag beschränken sich Debatten ebenfalls nicht auf das Richtige. So wird faktisch heute in der Öffentlichkeit ständig über das Glück, die Lebensqualität usw. geredet und geschrieben.
Dann scheint die moralphilosophische Gegenüberstellung von begründeten und subjektiven Überzeugungen für den Status der Frage nach dem guten Leben in der pluralistischen Gesellschaft nicht die entscheidende zu sein. Entscheidend ist eher die schon vor Kant eingeleitete politische Entwicklung zu einer liberalen toleranten Verfassung, wie sie sich in der Aussage Friedrichs II. äußert, jeder solle nach seiner Façon selig werden. John Stuart Mill hat diese Position auf den Begriff gebracht: In die Freiheit des Individuums kann nur eingegriffen werden, um Schaden von Anderen abzuwehren. Sein eigenes Gut, sei es in physischer oder moralischer Hinsicht, ist hingegen kein zureichender Grund für einen solchen Eingriff.
Das gute Leben ist also privat in dem Sinn, dass es zu schützen ist vor Eingriffen durch die öffentliche Gewalt. Wie Mill betont, impliziert das nicht, dass das gute Leben kein öffentliches Thema ist, dass es uns gegenseitig nichts angeht, wie wir leben. Im Gegenteil brauchen wir die Anderen, um besser zwischen gut und schlecht unterscheiden zu lernen und uns zur Ausübung unserer besseren Fähigkeiten anzuspornen. Das heißt: Sowohl zur Präzisierung des moralisch Guten wie zur Realisierung eines guten menschlichen Lebens sind wir auf öffentliche Thematisierung angewiesen.
Gerade im Kontext der Moral lassen sich weitere Aspekte anführen, die eine öffentliche Thematisierung des guten Lebens unverzichtbar machen. Moralische Rücksicht und Toleranz sind in einem echten Sinn nur möglich, wenn man die Anderen in ihrer besonderen Lebensweise zu verstehen versucht. Und schließlich verlangt gerade die Moral eine sozial orientierte Politik, die nicht nur Freiheitsrechte, sondern auch befriedigende Lebensbedingungen für alle sichert. Das erfordert eine öffentliche Verständigung über die minimalen Voraussetzungen guten Lebens.

Ursula Wolf ist Professorin für Philosophie an der Universität Mannheim.

contra: Jürgen Goldstein

Die Frage, ob das gute Leben ein öffentliches Thema ist, erlaubt zwei Lesarten. Fragt man danach, ob das gute Leben faktisch ein öffentliches Thema ist, genügt es, die öffentlichen Debatten zu verfolgen, um festzustellen, ob es erörtert wird. Interessanter ist die zweite Lesart, die nach einem impliziten Imperativ fragt: „Hat das gute Leben ein öffentliches Thema zu sein?“
Hält man sich an die zweite Variante, scheint man auf den ersten Blick kaum Gründe anführen zu können, was dagegen spricht, das gute Leben zu einem öffentlichen Diskussionsgegenstand zu machen. Mit „Öffentlichkeit“ wird seit der Aufklärung die Forderung nach dem freien Austausch von Gedanken und Meinungen in allen die Allgemeinheit interessierenden Fragen bezeichnet. Was läge näher, als Entwürfe eines guten Lebens öffentlich zu behandeln? So hat denn auch ein Teil der praktischen Philosophie in jüngster Zeit die Frage nach dem guten Leben und einer Lebenskunst neu entdeckt und kann gute Gründe für ihre zeitgenössische Relevanz anführen.
Dennoch möchte ich Zweifel anmelden, ob die Frage nach dem guten Leben ein fruchtbares öffentliches Thema abgibt. Schon Aristoteles hat auf die Vieldeutigkeit der Verwendung des Wortes „gut“ hingewiesen. Kaum jemand wird verneinen, ein gutes Leben führen zu wollen. Sieht man aber von den basalen Ähnlichkeiten der Lebensführung von Menschen ab, haben wir es faktisch mit einer Vielzahl von konkurrierenden, ja dissonanten Lebensentwürfen zu tun. Die Aufforderung, das gute Leben solle zum öffentlichen Thema gemacht werden, operiert mit der Suggestion, der öffentliche Diskurs könne für den Begriff des guten Lebens verbindliche Bestimmungen liefern. „Im Grunde sind wir doch alle gleich und wollen dasselbe“ – von dieser Art ist die Argumentation, die von der Annahme ausgeht, für den Menschen gebe es letztlich eine gute Lebensform. So hat etwa der Theologe Karl Rahner mit seiner Rede von einem „anonymen Glauben“ das Bravourstück vollbracht, all jene, die sich – ohne an Gott zu glauben – für den Nächsten einsetzen, zu „anonymen Christen“ zu machen. Sicher, dieses Beispiel ist spektakulär und gleichsam überzeichnend. Aber es konturiert den Verdacht, der öffentliche Diskurs über „das gute Leben“ – im Singular! – diene dazu, eine existenzielle Leitkultur zu entwickeln. Stattdessen wird man akzeptieren müssen, dass es innerhalb einer und derselben Gesellschaft eine Vielzahl an differierenden guten Lebensweisen gibt. Nichts spricht dagegen, darüber öffentlich zu diskutieren. Man sollte dann aber den verführerischen Singular vermeiden, der eine universelle Teleologie unterstellt, wo keine ist.
Die liberale Gesellschaft fördert – als Beleg ihrer Liberalität – einen vernünftigen Pluralismus, wie John Rawls gezeigt hat. Angesichts der dissonanten Vielfalt an konfessionellen und laizistischen Weltbildern und in Anbetracht der nicht harmonisierbaren kulturellen Splittergruppen innerhalb einer liberalen Gesellschaft besteht die vorrangige Aufgabe der politischen Öffentlichkeit darin, institutionelle Hintergrundstrukturen zu legitimieren und zu sichern, die einen derartigen Pluralismus konfliktentschärfend regulieren. Wenn dies erreicht ist, mag man darüber hinaus öffentlich über „die guten Leben“ streiten. Viel sollte man sich davon aber nicht erwarten.

Jürgen Goldstein ist Professor für Philosophie an der Universität Koblenz-Landau.

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