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Pro und contra: Lässt sich über Geschmack streiten?

Veröffentlicht am 25. März 2015

Pro: Maria Elisabeth Reicher

Reicher

Bevor man eine Frage beantwortet, sollte man klären, wie sie gemeint ist. Ich verstehe die Frage, ob sich über Geschmack streiten lässt, in folgendem Sinn: Lassen sich Werturteile (epistemisch) rechtfertigen? Lässt sich für oder gegen Werturteile argumentieren? Ist es möglich, auf der Basis von Gründen die Falschheit eines Werturteils einzusehen bzw. jemanden durch Angabe von Gründen von der Richtigkeit eines Werturteils zu überzeugen?

Unter einem Werturteil verstehe ich hier einen Behauptungssatz, durch den ein Sprecher zum Ausdruck bringt, dass einem Gegenstand eine Werteigenschaft zukommt, z. B.: “Dies ist gut” und “Dies ist schlecht”.

Meine These lautet, dass sich über Geschmack streiten lässt in dem Sinne, dass man für oder gegen Werturteile vernünftig argumentieren kann.

Für diese These lassen sich folgende Gründe anführen:

  1. Es gibt einen Diskurs über Wertfragen, und in diesem ist es gängige Praxis, Argumente für und gegen Werturteile auszutauschen. Man kann hier insbesondere an Kunst- und Literaturkritik denken, aber auch an Wein- und Restaurantkritiken sowie an ethische Diskurse.
  2. Wir anerkennen, dass es für (bestimmte Arten von) Wertfragen Experten gibt, Personen also, die besonders kompetent dafür sind, den Wert von Entitäten einer gewissen Art zu beurteilen (z. B. Kunstexperten, Weinexperten, nach Meinung mancher auch Moralphilosophen). Die Basis dieses Expertentums scheint mir wesentlich darin zu bestehen, dass die Werturteile der Experten auf guten Gründen beruhen.
  3. Werturteile sind durch Argumente veränderbar. Ein Kritiker kann uns durch Argumente davon überzeugen, dass etwa ein bestimmtes Musikstück gut ist, ein bestimmter Film schlecht ist. Dieser Überzeugungswandel kann mit einer Änderung des Geschmacks einhergehen, muss es aber nicht: Es kann etwa sein, dass ich dazu gebracht werde einzusehen, dass ein bestimmtes Musikstück gut ist, dass es mir aber nach wie vor nicht gefällt; es kann sein, dass ich davon überzeugt werde, dass ein Film schlecht ist, dass ich den Film aber trotzdem nach wie vor mag.

Maria Elisabeth Reicher ist Professorin für Philosophie der kulturellen Welt an der RWTH Aachen.

Contra: Michael L. Thomas

newphoto Michael Thomas

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Wie Hume in seinem Essay „Of the Standard of Taste“ aufzeigt, sind Geschmacksurteile durch Erfahrung geprägt und bilden sich selbst als Gefühle (sentiments) aus. Von klein an begegnen uns verschiedene Speisen, Kleidungsstile, Umfelder und auch Menschen, die unsere Vorlieben prägen. Haben wir diese erst einmal erkannt, verfügen wir über eine Reihe von sinnlichen Reaktionen, die bestimmen, wie wir in Bezug auf bestimmte Dinge fühlen. Diese Gefühle können nicht falsch sein, da sie den Objekten, die wir beurteilen, nicht objektiv zukommen, nicht in ihnen liegen. Die Gefühle repräsentieren eine Beziehung zu ihnen.

In Auseinandersetzungen über Geschmack wird versucht, auf die Vernunft zu verweisen, um den Geschmack anderer zu disqualifizieren. Weil rationale Prinzipien auf gemeinsamen Verständnissen beruhen, nehmen wir an, dass die Gefühle (sentiments) der anderen sich diesen anpassen sollten. Die „Regeln“ der Kunst beispielsweise sind das Ergebnis der Untersuchung der Kunstgeschichte, die auf das Entdecken von Gemeinsamkeiten zwischen großen Werken zielte. Diese Gemeinsamkeiten werden nun als Prinzipien „guter“ Kunst verstanden und oft dazu verwandt, Definitionen von Kunst und Schönheit festzulegen, die wiederum unsere Urteile bestimmen sollen. Jedoch gibt Hume zu bedenken: “… we must not imagine that, on every occasion, the feelings of men will be conformable to these rules.”[1] Individueller Geschmack ist per se unstreitig, denn einzelne Empfindungen spiegeln individuelle Urteile wider und treten daher nicht mit einem Wahrheitsanspruch auf.

Allerdings gilt: Geschmack kann sich ändern. Geschmacksurteile sind abhängig von dem, was Hume eine „Feinheit (delicacy) des Geschmacks“ nennt: unserer Fähigkeit, die Elemente der Dinge wahrzunehmen, ihren Aufbau zu verstehen und unsere Erfahrungen zu vergleichen. Geschmack ist ein Vermögen (faculty), wie die Schärfe des Blicks, das durch stetiges Üben perfektioniert werden kann. Hume führt aus: “the perfection of every sense or faculty” bedeute “[to] perceive with exactness its most minute objects, and allow nothing to escape its notice and observation.”[2] Schlechter (poor) Geschmack beruht auf einem Unvermögen, die subtilen Eigenschaften der Dinge wahrzunehmen. Geschmack lässt sich aber durch Kultivierung verbessern: Häufige Erfahrungen mit schönen Objekten erlauben uns, unsere Geschmacksurteile weiterzuentwickeln und unser Wahrnehmungsvermögen zu erweitern.

Die Ironie bei Streitigkeiten über Geschmack liegt darin, dass diese aufgrund unserer instinktiven Uneinigkeit mit denen, die unsere Präferenzen nicht teilen, entstehen. Die Heftigkeit dieser Auseinandersetzungen ist ein Zeichen dafür, dass beide Seiten durch Vorurteile motiviert handeln (“the delicacy of passion”) [3], was dazu führt, dass sie stur an ihrer natürlichen Position festhalten, ohne sich in den Standpunkt des anderen hineinzuversetzen(“[both parties] obstinately retain [their] natural position, without placing himself in the point of view, which the performance supposes.”)[4].

Ihnen fehlt die Feinheit des Geschmacks, die unser Empfindungsvermögen für alle zarten und angenehmen Leidenschaften verbessert (“ [a cultivated Taste] improves our sensibility for all the tender and agreeable passions; at the same time that it renders the mind incapable of the rougher and more boisterous emotions“). Über Geschmack zu streiten mag beizeiten unterhaltsam sein, führt aber letztlich zu nichts. Unsere Zeit wäre besser darauf verwandt, uns selbst zu kultivieren, damit Streitigkeiten durch eine erfahrungsreiche und -gesättigte Kommunikation und gegenseitiges Verständnis beigelegt werden können.

(Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch durch Dominik Hammer und Ana Honnacker)

Michael L. Thomas ist Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.

[1] VGl. Hume, Of the Standard of Taste, I.XXIII.11.
[2] Vgl. Hume, Of the Standard of Taste, I.XXIII. 18.
[3] VGl. Hume, Of the Delicacy of Taste and Passion, I.I.1.
[4] VGL. Hume, Of the Standard of Taste, I.XXIII.22.

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1 Kommentar

  1. es scheint so, dass :
    de gustibus….non… est disputandum , siehe Frankreichs und Englands noch bemerkbare Antipathien,,die kulturelle, religiöse Vielfalt überhaupt ,, oder solch Welt-Film wie „some like it hot“ usw., und
    die o.g „Experten“ teilen sich doch, so scheint es, ihrerseits auf in die Sparten der unendlich verschiedenen kulturellen Hintergründe..(auch etwa die NS-Kunstexperten hatten ja ihre „Gründe“ und „Argumente“, und sie gingen später straffrei aus, soweit alles theoretisch oder künstlerisch blieb, sogar noch die Regisseure V.Harlan oder LRiefenstahl…..scheinbar konnte man selbst diese nicht künstlerisch kritisieren, nicht einmal von „Experten“ der Gegenseite)

Beitragsthemen: Werte und Normen

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