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Pro und contra: Ist das Internet die Agora heutiger Demokratien?

Veröffentlicht am 17. Dezember 2013

Pro: Felicitas Steinhoff

Ich schreibe diesen Beitrag kurz vor der Deadline. Denn das Internet lenkte mich ab. Mit Katzenbildern, Twitter-Meldungen meiner Freunde, Blogs, Unterhaltungen auf Skype und preiswerten Weihnachtsdeals. Sie kennen das. Vieles davon ist nützlich, aber vieles veranlasst weniger netzaffine Menschen zu Aussagen wie: „Die daddeln doch da nur doof rum.“ Manchmal stimmt das. Dennoch bin ich der festen Überzeugung, dass das Internet das einzige Forum ist, das man in der heutigen Demokratie mit der damaligen Agora vergleichen kann.
Das Konzept der Agora, als physikalischer Ort, an dem man als Gleicher unter Gleichen politisch tätig wurde, ist Ausdruck des Menschenbildes, wie es Aristoteles propagierte: Der Mensch ist erstens ein zoon politikon (politisches Tier) und zweitens ein der freien Sprache fähiges Lebewesen (zoon logon echon). So unterscheidet sich der Mensch vom Tier durch die Ausübung dieser beiden Tätigkeiten, was in der politischen Teilhabe und Diskussion auf der Agora Ausdruck fand. Heute ist das Internet der Ort, an dem ich mich als Gleicher unter Gleichen zu jedem Thema informieren, debattieren und mich organisieren kann, und zwar weltweit.
Dennoch wird unsere Agora unterschätzt. Es herrscht noch immer das Klischeebild der Nerds, die ohne Sozialkompetenz die Nächte verdaddeln. Folglich beschwört Mancher angesichts der weltweiten Proteste eine Renaissance der öffentlichen Plätze, also die Rückkehr zur in der physikalischen Welt verorteten Politik. Aber dass man mal wieder irgendwo mit Demoschildern steht ist nicht die Agora 2.0 für die moderne Demokratie. Zu diesen großen Protestbewegungen kam es nur, weil Aktivisten im Internet, über Facebook, Twitter und andere Kanäle, Informationen austauschten, Aktionen planten und Massen von Menschen mobilisierten.
Wenn sich vor drei Jahren ein einzelner Ägypter auf den Tahir Platz gestellt hätte und immer wieder „Nieder mit Mubarak! Die Revolution fängt jetzt an! Macht mit!“ gerufen hätte, wäre er schneller von der Polizei eingesackt worden, als Sie Baklava buchstabieren können. Die Occupy Bewegung, die Proteste im Gezi Park, die Refugee Camps, sie alle nutzten und nutzen das Internet, um sich, fernab repressiver Intervention von oben, zu formieren. Die Bilder von Demonstranten, die sich mit Polizei und Militär Straßenschlachten liefern, gingen dann wieder ins Netz, und mobilisierten dort noch mehr Menschen vor Ort und auf der ganzen Welt.
Diese Mobilisierung ist in weiten Teilen anonym. Sie blüht außerhalb der etablierten politischen Strukturen, fernab von den Parteien und den medial präsenten Meinungsmachern. Nicht umsonst wetterte der türkische Ministerpräsident Erdogan während der Proteste im Gezi Park: „Für mich sind die sozialen Medien die schlimmste Bedrohung der Gesellschaft“, und heuerte 7000 Menschen an, die nun über soziale Netzwerke die Regierung lobhudeln. Nicht umsonst machen sich Geheimdienste seit Jahren die Mühe, unsere Kommunikationsdaten und Inhalte zu filtern, zu lesen und zu speichern. Dieses wird uns unter dem Deckmantel einer diffusen Terrorbedrohung untergejubelt. Diejenigen, die diese Praktiken anprangern, die Edward Snowdens und viele andere, nennt man Verräter, weil sie dieses Wertesystem „Sicherheit über alles“ in Frage stellen. Oder es zumindest als diskussionswürdig erachten.
Das Internet ist also vor allem unser Platz, um die etablierten Wertesysteme, die uns durch die Medien und Machtstrukturen vermittelt werden, in Frage zu stellen. Im Extremfall, wie bei Edward Snowden, werden die Unstimmigkeiten, die Lippenbekenntnisse dieser Wertesysteme enttarnt. Aber wer schrill mit einer Pfeife trillert, der stört. Solche Personen werfen Fragen auf, die nicht gewollt sind, und wenn sie damit Menschenmassen erreichen, birgt dies eine Gefahr für das Establishment. Wie beschrieb sich doch Sokrates, der endlose Diskussionen über Werte und Politik auf der Agora führte? Er nannte sich myopos: die Stechfliege. Später wurde er zum Tode verurteilt.
Das Internet hat, sofern es von der Politik gewollt ist, das Potenzial, die offizielle, von allen akzeptierte und konstruktive moderne Agora zu sein. Wenn meine Agora allerdings mundtot gemacht wird, wenn die etablierten Machtgefüge mir bei jeder Meinungsäußerung über die Schulter schauen können, dann ist das Internet leider doch nur der Ort, an dem ich Katzenbilder anschaue, und eine riesige Zeitverschwendung, für die, denen eh alles egal ist, und die nur billig auf Amazon Krempel kaufen wollen.

Felicitas Steinhoff studierte im Bachelor Philosophie am St. John’s College in Santa Fe. Im Herbst kandidierte sie für die Piratenpartei für den Bundestag. Zurzeit bereitet sie sich darauf vor, als Senior Trainer für Projekt Management bei HELP e.V in Afghanistan zu arbeiten.

Contra: Eike Bohlken

Als Versammlungs-, Kult- und Marktplatz war die Agora ein zentrales Element der attischen Demokratie. Die Agora – bei den Römern: das Forum – war der Ort, an dem politische Ideen und Meinungen im Gespräch entstehen konnten und an dem über sie von den Bürgern debattiert, gestritten und beschlossen wurde. Können Bedeutung und Funktion der Agora, eines konkreten und realen Ortes, heute sinnvoll dem Internet zugeschrieben werden?
Zunächst einmal gibt es viele Gemeinsamkeiten: Wie die Agora bieten auch die Foren des Internets die Möglichkeit, mit Anderen über politische Angelegenheiten zu debattieren, sich zu organisieren, ja sogar Wahlentscheidungen zu treffen (E-Voting). Dass Letztere technisch manipulierbar sind, unterscheidet sie nicht wesentlich von der Stimmabgabe per Wahlzettel, denn auch diese können verschwinden, falsch ausgezählt oder manipuliert werden.
Die große Stärke des Internets, sein Alleinstellungsmerkmal, liegt in seiner einzigartigen Fähigkeit, räumliche und zeitliche Grenzen zu überwinden und das, was offline weit entfernt und unerreichbar ist, in Augenblicken verfügbar und zugänglich zu machen. Allerdings nur für diejenigen, die Zugang zu ihm haben und seine Möglichkeiten zu nutzen wissen (Stichwort: Digital Divide). Ohne Frage kann das Netz Beziehungen stiften und politische Assoziationen ermöglichen. Aber sind diese besser als die offline geknüpften? Der positiven Möglichkeit, sich weitgehend der Kontrolle repressiver Regime zu entziehen, korrespondieren negative Praktiken vom Dislike bis zum prangerhaften Shitstorm.
Entscheidend dafür, dass das Internet nicht die Agora heutiger Demokratien sein kann, sind zwei Negativposten: Zum einen wird die gesamte organisatorische und deliberative Tätigkeit auf diversen online-Foren und in den großen „sozialen Medien“ erst dann politisch bedeutsam, wenn sie sich auch offline in politischem Handeln realisiert. Hierzu bedarf es aber in der Regel der realen Agora oder eines anderen konkreten Ortes, der – vom Tahrir-Platz bis zum Gezi-Park – neu zu einer solchen erklärt wird. Der virtuelle Raum dient hier ‚nur‘ als Werkzeug, als Mittel zur Vorbereitung des eigentlichen Geschehens. Auch online gesammelte Unterschriften für Petitionen und Protestnoten werden in der Regel in einer besonderen Aktion offline übergeben.
Zum anderen kommt es in der virtuellen Demokratie zu einer stärkeren Fragmentierung der politischen Öffentlichkeit. Die Wurzeln dieses Phänomens liegen zwar im Pluralismus liberaler moderner Gesellschaften begründet. Dieser manifestiert sich etwa in der Existenz lagerorientierter Zeitungen, Radio- und Fernsehsender, die die Anhänger ihrer politischen Richtung jeweils mit den „richtigen“ Informationen und Meinungen versorgen. Das Internet setzt diese Fragmentierung nicht einfach nur in einem neuen digitalisierten Bereich um, sondern potenziert sie aufgrund seiner besonderen Möglichkeiten, die es jedem erlauben, vom Empfänger zum Sender zu werden und eigene Foren zu eröffnen. Das eigentliche Problem liegt dabei nicht in der Vielfalt und Offenheit, sondern in der Frage, ob bzw. wie es modernen (Informations-)Gesellschaften gelingt, die Interessen ihrer Bevölkerung so zu integrieren, dass ein hinreichend verlässliches demokratisches politisches Ganzes herauskommt. Dazu bedarf es eines einzigen oder zumindest einer überschaubaren Mehrzahl öffentlicher politischer Foren. Ihren Möglichkeiten nach schießen die virtuellen Räume des Internets darüber hinaus. Trotz seiner wertvollen informatorischen und organisatorischen Potenzen, trotz seines Charakters als strukturell antitotalitäres ‚Medium aller Medien‘ fehlt es dem Netz zur neuen Agora letztlich an dem unverzichtbaren Element realer Begegnungen, dessen es bedarf, um der Demokratie die notwendige Bodenhaftung zu verschaffen.

Eike Bohlken ist Wissenschaftlicher Assistent am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover und Privatdozent für Philosophie an der Universität Tübingen.

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1 Kommentar

  1. Wir Menschen sind Materie und das Internet ist das „Schwarze Loch“.

    Rein geht immer – und raus geht nicht mal mit Philosophie!
    Auf jeden Fall nicht mit jenen Philosophen, die sich nicht dumm stellen wollen, als seien sie nicht von dieser Welt mit diesen Möglichkeiten.

    Mir scheint, der Philosoph heutzutage muss auch nicht über Tellerrand denken. Der Philosoph heute ist angepasst. Der studiert schlaues Reden, orientiert sich am Alten, ist aber so verzweifelt und angepasst, wegen seiner eigenen Perspektiven und Karriere, dass er stagniert. Im Denken. Im Leben hat er ja kein Problem, das erledigt das Netz mit den vielfältigen Möglichkeiten, in´s Weltgeschehen online einzugreifen. Da kann man ja Revolutionen dirigieren, einmal bei Facebook ein „like“ absetzen und dann geht die persönliche Revolution in einem anderen Land ohne uns ab……Hammer!
    So mit Knopfdruck die Welt verändern, das war ja schon der Traum aller Philosophen – allerdings wussten die: Das funktioniert nicht!

    Und dann haben die weiter gedacht, die Philosophen……

    Heute wird nach dem nächsten passenden Knopf gesucht.

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