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Schwerpunktbeitrag: Der integrative Charakter der philosophischen Anthropologie

Veröffentlicht am 21. Januar 2014

Die philosophische Anthropologie führte nach dem Zweiten Weltkrieg lange ein Schattendasein innerhalb der Philosophie. Erst in den letzten Jahren ist ihr wieder verstärkte Aufmerksamkeit zuteil geworden. Der Grund für diese Renaissance kann unter anderem darin gesehen werden, dass sich mit den Ergebnissen der Hirnforschung und der so genannten Lebenswissenschaften die Frage nach dem Wesen oder der Natur des Menschen für viele neu zu stellen scheint – Fragen, die traditionell in den Aufgabenbereich der philosophischen Anthropologie fallen. Ausgehend von dieser Diagnose möchte ich im Folgenden einige Überlegungen zur Stellung der philosophischen Anthropologie innerhalb der Philosophie, zu ihrem Verhältnis zu den übrigen Wissenschaften vom Menschen und schließlich zu ihrer methodologischen Ausrichtung anstellen. Alle drei Themenbereiche lassen sich – so meine These – gut unter dem Gesichtspunkt eines integrativen Charakters der philosophischen Anthropologie diskutieren.

Die der philosophischen Anthropologie zugrunde liegende Frage nach dem Wesen des Menschen zählt sicherlich zu einer der wichtigsten und spannendsten Fragen der Philosophie. Ist sie aber so grundlegend, dass die philosophische Anthropologie zur allen anderen philosophischen Disziplinen vor- oder überzuordnenden prima philosophia oder – etwas bescheidener – zu einer die philosophischen Teildisziplinen umfassenden und integrierenden ,Superdisziplin‘ erklärt werden kann? Die Antwort lautet meines Erachtens: nein. Man muss nicht erst geklärt haben, was der Mensch ist, um Logik und Erkenntnistheorie, Ästhetik und Moralphilosophie betreiben zu können. Die Philosophie der griechischen Antike beginnt, nach dem, was uns überliefert ist, als Philosophie der Natur, nicht als Anthropologie. Und auch in der groß geschriebenen Philosophischen Anthropologie Max Schelers, Helmuth Plessners und Arnold Gehlens, die nach wie vor das höchste Theorieniveau philosophischer Anthropologie darstellt, ist die Frage nach dem Menschen in die weiteren Zusammenhänge einer Philosophie der Natur bzw. sämtlicher Lebensformen eingebettet. Zwar findet sich bei Kant zu Beginn seiner Logik ein gegenläufiges Programm, das die Frage nach dem Menschen als umfassende Klammer der drei Grundfragen der Kritischen Philosophie („Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“, „Was darf ich hoffen?“) ausweist; dieses Programm hat Kant aber weder in seiner Anthropologie noch in seiner Moralphilosophie eingelöst. Trotz aller anthropologischen Bestandteile entwirft Letztere das Programm einer universalistischen Ethikbegründung, die nicht bei den artspezifischen Besonderheiten des Menschen ansetzt, sondern für alle – uns bekannten wie unbekannten – Vernunftwesen (Gott, Engel, vielleicht aber auch manche Tiere oder außerirdische Lebensformen) gelten soll. Sofern es gerechtfertigt ist, die philosophische Anthropologie als integrativ-umfassende Disziplin zu bezeichnen, gilt dies also nicht innerhalb der Philosophie selbst.

Wie steht es mit dem Verhältnis der philosophischen Anthropologie zu den anderen Wissenschaften vom Menschen? Schon ein erster Blick führt auf eine Vielzahl von Ansätzen und Disziplinen. Neben der philosophischen Anthropologie haben sich kulturelle bzw. ethnologische, historische, pädagogische, politische, theologische und medizinische Anthropologie etabliert – um nur die wichtigsten zu nennen. Hinzu kommen Disziplinen wie Soziobiologie, Evolutionsbiologie, Paläontologie etc., die die Anthropologie zwar nicht im Namen tragen, aber humanwissenschaftliche Untersuchungen durchführen. Meine These lautet, dass philosophische Anthropologie bezüglich dieser Vielfalt von Disziplinen und Ansätzen integrativ wirken kann und sollte. Diese Forderung ist auf den holistischen Charakter der Philosophie im Allgemeinen wie der philosophischen Anthropologie im Besonderen zurückzuführen. Wie sich die Philosophie grundsätzlich mit allen Themenbereichen befassen kann, ist auch die philosophische Anthropologie – im Gegensatz zu manchen Einzelwissenschaften vom Menschen – auf die Gesamtheit menschlicher Lebensvollzüge und deren Rahmenbedingungen ausgerichtet (vgl. Christian Thies: Einführung in die philosophische Anthropologie, Darmstadt 2004, 38). Diese holistische Ausrichtung kommt besonders deutlich in der Philosophischen Anthropologie der 1920/30er Jahre zum Ausdruck, der es um ein ganzheitliches Bild vom Menschen und den Versuch einer empirisch unterfütterten Wesensbestimmung ging, was durch die Berücksichtigung verschiedener Ansätze und Disziplinen erreicht werden sollte. So spricht etwa Plessner von einer „methodische[n] Gleichwertigkeit aller Aspekte, in denen menschliches Sein und Tun sich offenbart, für die sogenannte Wesenserkenntnis vom Menschen“ (Helmuth Plessner: „Die Aufgaben der Philosophischen Anthropologie“ (1937), in: Gesammelte Schriften Bd. VIII, Frankfurt a. M. 1983, S. 39).

Eine in diesem Sinne holistische, sämtliche Wissenschaften vom Menschen einbeziehende und insofern integrative Anthropologie könnte versucht sein, Vergleiche zwischen den verschiedenen Ansätzen und Disziplinen vorzunehmen, um daraus im Sinne einer Enzyklopädie umfassende Erkenntnisse über den Menschen zu gewinnen. Dieser Versuch steht jedoch vor dem Problem, dass schon ein systematischer Vergleich kaum in der Lage ist, das gesamte Material, das in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden müsste, vollständig zu überblicken und sachgerecht zu beurteilen. Philosophische Anthropologie kann daher keine ,Superdisziplin‘ sein, die einzelwissenschaftliche Ergebnisse enzyklopädisch zusammenzufassen vermöchte. Gleichwohl kommt ihr in zweierlei Hinsicht eine integrative Funktion zu. Zum einen ist sie zur Absicherung ihrer Überlegungen auf die Ergebnisse der empirischen Humanwissenschaften angewiesen, die sie so weit wie möglich in ihre Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Menschen einbeziehen muss. Dass es sich hierbei um die Einbeziehung bereits vorliegender Ergebnisse handelt, hat Jürgen Habermas in einem frühen Lexikonartikel dazu gebracht, die philosophische Anthropologie als „reaktiv“ zu bezeichnen. Diese Bezeichnung ist allerdings insofern missverständlich, als sie den Eindruck befördern kann, die philosophische Anthropologie sei eine weitgehend passiv-rezeptive Disziplin. Eine solche Einschätzung wäre jedoch unzutreffend. Denn die philosophische Anthropologie entwickelt aufgrund ihrer holistischen Ausrichtung genuin philosophische Antworten auf die Frage nach dem Wesen des Menschen.

Zum anderen prädestiniert sie ihre holistische Ausrichtung dazu, nicht nur einzelne Ergebnisse, sondern auch die Perspektiven der verschiedenen Humanwissenschaften zusammenzuführen und kritisch zueinander in Beziehung zu setzen. Der Anspruch, ein Bild vom Menschen in der Vielfalt seiner Möglichkeiten zu zeichnen, legt eine Zusammenführung der verschiedenen Teilperspektiven und Teildisziplinen zu einem umfassenden Forschungsprogramm nahe, dessen Konzeption wesentlich von der Philosophie her zu entwerfen ist, da eine die Gesichtspunkte der Einzelwissenschaften übergreifende ganzheitliche Perspektive nur aus ihr heraus entwickelt werden kann. Bei der Wahrnehmung dieser Funktion ist jedoch Bescheidenheit geboten: Unter Zurückweisung enzyklopädischer Ansprüche kann es lediglich darum gehen, Verbindungspunkte zwischen den verschiedenen Disziplinen und Ansätzen zu etablieren und dadurch disziplinübergreifende Projekte zu fördern. Eine in diesem Sinne integrative philosophische Anthropologie erscheint daher nicht als neue Paradedisziplin, sondern als Impulsgeber interdisziplinärer Forschung. Dabei kommt ihr auch eine kritische Funktion zu, wenn sie methodologisch-wissenschaftstheoretische Überlegungen anstellt. Diese kritische Funktion ist deshalb von Bedeutung, weil zwischen den verschiedenen humanwissenschaftlichen Ansätzen und Disziplinen methodologische Spannungen bestehen, die – soll eine integrative Anthropologie möglich sein – abgebaut werden müssen. In grober Unterscheidung sind es vier Gegensatzpaare, an denen sich die methodischen Differenzen der verschiedenen Ansätze festmachen lassen.

So suchen erstens philosophische und theologische Ansätze nach einem universellen Wesen, einer unveränderlichen Natur des Menschen. Auf der anderen Seite beschränkt sich die historische Anthropologie darauf, individuelle Typen herauszuarbeiten, deren Aussagekraft auf eine bestimmte Gesellschaft in einer bestimmten Epoche begrenzt ist. Sie erforscht etwa, wie zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kulturen mit dem eigenen Körper, mit der geschlechtlichen Identität oder mit Phänomenen wie Geburt, Tod und dem Fremden umgegangen wurde. Die von der historischen Anthropologie geäußerte Kritik an einer kultur- und epochenübergreifenden Wesenserkenntnis des Menschen ist zwar in Teilen berechtigt, greift aber nicht so tief, dass der Begriff einer menschlichen Natur verabschiedet werden müsste. Letzterer kann beibehalten werden, wenn man mit Plessner versteht, dass es sich dabei nicht um mehr als eine offene Strukturdefinition handeln kann. Der Begriff einer Natur bzw. eines Wesens muss dynamisch gedacht werden; seine inhaltliche Füllung bleibt notwendig geschichtlich unabgeschlossen und damit Gegenstand fortwährender Auseinandersetzung zwischen den Angehörigen verschiedener Kulturen, Epochen und Disziplinen.

Weitere methodologische Spannungen betreffen das Gegenüber naturwissenschaftlicher und geistes- bzw. kulturwissenschaftlicher Ansätze, den Gegensatz zwischen einer in den meisten Humanwissenschaften vorherrschenden empirischen und einer manchen philosophischen oder theologischen Bestimmungen des Menschen zugrunde liegenden apriorischen (transzendentalen bis metaphysischen) Ausrichtung der Anthropologie sowie die Frage, ob eine Anthropologie rein deskriptiv verfahren muss oder ob sie (z.B. in handlungsleitenden Menschenbildern) auch normative Aspekte beinhalten darf. In ihrer methodologiekritischen Funktion richtet sich eine integrativ verstandene philosophische Anthopologie sowohl gegen überschießende Alleinvertretungs- oder Letztbegründungsansprüche (z.B. einer metaphysisch-spekulativen Anthropologie) als auch gegen verengte oder zu kleinteilig gedachte Perspektiven (wie den reduktionistischen Versuchen einer biologistischen oder kulturalistischen Anthropologie oder einer zu eng gefassten histori(sti)schen Anthropologie). Als zentraler Richtpunkt dient ihr die in Strukturdefinitionen anzudeutende Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität der menschlichen Natur.

Eike Bohlken ist Privatdozent für Philosophie an der Universität Tübingen und Wissenschaftlicher Assistent am FIPH.

Erstveröffentlichung in FIPH-Journal Nr. 13 (April 2009), S. 28-29.

(c) Eike Bohlken

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