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Plädoyer für eine aktivierende christliche Politikethik – Zur gegenwärtigen Herausforderung christlicher Sozialethik

Veröffentlicht am 27. Januar 2014

Ein Gespräch, das die „ZEIT“ mit Julie Coudry, einer der wichtigsten Anführerinnen der Studentenproteste in Frankreich im Jahre 2006, und Florian Lux, einem Studenten aus Heidelberg, führte, endet mit folgenden Sätzen:

„ZEIT: Welche Träume haben Sie beide?
Coudry: Keine Träume, keine Idole.
Lux: Große, generelle Träume? Nein, keine.
ZEIT: Gar keine? Anders gefragt: Wie wollen Sie in zehn Jahren leben?
Lux: Wenn ich das wüsste.
Coudry: Das ist ja das Schicksal unserer Generation: Wir wissen das nicht mehr.“

Keine Träume, keine Wünsche, keine Visionen – jeglicher Möglichkeitssinn scheint abhanden gekommen zu sein.

Wir reden über ökologische Umwelten, die wir den künftigen Generationen hinterlassen müssen. Wir reden über soziale Umwelten, die junge Menschen und Kinder zum Aufwachsen benötigen. Aber wir scheinen blind dafür zu sein, dass Menschen, gerade junge Menschen und künftige Generationen, auch kulturelle und religiöse Umwelten benötigen. Ohne Kulturen und Religionen kommt uns der Sinn für Möglichkeit abhanden, sind es doch die komplexen, vielfach gebrochenen kulturellen und religiösen Traditionen, die unsere Welt immer wieder neu mit nicht-hergestelltem Möglichkeitssinn aufladen.

Dass uns der Möglichkeitssinn abhanden zu kommen droht, zeigt ein Blick auf unsere gesellschaftliche Situation: Ermüdungs- und Lähmungserscheinungen breiten sich massenhaft aus. Wir hören von Burn-out und Depressionen. Diese entstehen weniger aus einem Mangel an Haben, sondern sind verursacht durch einen Mangel an Sein.

Immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, verlieren die Kontrolle über ihr eigenes Leben. Die Folgen sind Depressionen und Suizide. Manch einer mag sich fragen, ob diese Diagnose nicht allzu pessimistisch ist, weisen doch Adepten jüngster repräsentativer Umfragen darauf hin, dass die Jugendlichen leistungsbereit, ehrgeizig und optimistisch sind. Und in der Tat: Viele Jugendliche wollen etwas aus sich machen. Sie schätzen Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Optimismus. Die Einstellungen junger Menschen, wie sie in Umfragen zum Ausdruck kommen, stehen für ein erfolgsorientiertes Handeln. Dagegen ist zunächst einmal auch nichts einzuwenden. Wenn aber Jugendliche in erster Linie diese von der Gesellschaft prämierten Vor- und Einstellungen bloß übernehmen, dann läuft etwas falsch. Jugend steht für Zukunft, und Zukunft muss immer auch etwas anderes sein als das, was die Gegenwart ist. Eine Jugend ohne Wünsche, ohne den Gedanken, es möge doch anders, vielleicht auch ganz anders werden, ist eine Jugend, der der Gedanke der Zukunft abhandengekommen ist. Eine solche Jugend hat ihre Jugendlichkeit verloren. Dieser Verlust der Jugendlichkeit steht aber mitnichten für Reife, dafür, dass Jugendliche bereits erwachsen geworden sind. Im Gegenteil, es ist zu befürchten, dass die Jugendlichen im Kindsein steckenbleiben. Warum?

Leistungsbereitschaft, Ehrgeiz und Optimismus stehen für Erfolg. Erfolg kann nur in einer – wie der Schriftsteller Henry James (1843-1916) es einmal formulierte und wie es der Philosoph Cornel West weiterentwickelt hat – „Hotel-Zivilisation“ zu einem Primärwert aufsteigen. In einer Hotel-Zivilisation leuchten die Lichter zu jeder Zeit. Hat man sein Zimmer verlassen und kommt zurück, ist das Zimmer sauber. Man braucht nicht darüber nachzudenken, wer das Zimmer vom eigenen Dreck gereinigt hat. Hotel-Zivilisation ist charakterisiert durch Komfort, Bequemlichkeit, Zufriedenheit. Eine Hotelzivilisation erzieht Menschen nicht zur Reife, sondern erzeugt Infantilität.[1]

Infantilität stärkt nicht. Sie schwächt. Und so ist es eben nicht verwunderlich, dass immer mehr junge Menschen die Kontrolle über ihr Leben verlieren. Mit steigendem Kontrollverlust wächst das Empfinden, aus der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Das ist der Grund dafür, dass sich immer mehr Menschen in unserer Gesellschaft gedemütigt fühlen.

Menschen benötigen nicht bloß finanzielle Ressourcen. Und sie suchen auch nicht nur Arbeit, insbesondere herabgewürdigte Menschen suchen nach Anerkennung. Sie sind hungrig nach Identität, Sinn und Selbstachtung. Damit der Mensch nicht die Kontrolle über sein Leben verliert, muss er ein starkes Selbst ausbilden. Dazu bedarf es bestimmter Voraussetzungen: Zum Leben brauchen wir zunächst einmal Güter, die unser Überleben sichern helfen. Leben bedeutet aber mehr als Überleben: Wir wollen auch ein gutes, ein glückliches Leben führen. Dafür muss ein gesellschaftlicher Zustand geschaffen werden, in dem wir Grundfähigkeiten erwerben, die wir benötigen, um ein gutes, ein glückliches, ein sinnvolles, mit einem Wort ein humanes Leben zu führen.

Ein sinnerfülltes Leben ist ein Leben, in dem man sich aktiv mit Aufgaben beschäftigt, die auch für andere Menschen von Bedeutung sind. Dadurch erfahren wir Anerkennung. Wer Anerkennung erfährt, dem wird eine Ahnung zuteil, was ein sinnerfülltes Leben ist.

Sinn – im emphatischen Verständnis – ist nicht etwas, was der einzelne für sich allein finden kann. Sinnvoll ist nur etwas, das auch für andere sinnvoll ist. Sinn setzt deshalb soziale Teilhabe voraus. Soziale Teilhabe basiert auf bestimmten Grundfähigkeiten und setzt bestimmte Grundverständnisse voraus: Wir müssen eine gemeinsame Sprache sprechen. Wir müssen in der Lage sein, den Anderen zu verstehen. Das heißt, wir müssen mit ihm Bedeutungshorizonte teilen. Wir müssen mitfühlen können. Wir müssen fähig sein, uns einzufühlen… So gesehen, stehen kulturelle Fragen und Aufgaben des Zusammenlebens auf der Agenda. Angesichts dieser Diagnose gilt: Kultur ist der neue Name für Politik. Es bedarf einer Politik, die die Bedeutung von Anerkennunng ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt.[2]

Diese Einsicht hat auch Konsequenzen für das Selbstverständnis christlicher Sozialethik: Sie kann sich nicht damit begnügen, das Soziale zu beschreiben und normative Ansprüche zu rechtfertigen. Sie muss sich im politischen Feld als eine aktivierende christliche Politikethik ausarbeiten. Christliche Sozialethik, die das Soziale in erster Linie als ein objektives Gebilde versteht, dessen Formen von den einzelnen Menschen letztlich unabhängig sind, steht in der Gefahr, das Individuum zu nivellieren. Das hat ein Zweifaches zur Folge: Zum einen verliert die Sozialethik den Motor gegenwärtiger gesellschaftlicher Transformationsprozesse aus dem Blick: das nicht völlig vergesellschaftete Individuum. Zum anderen trägt sie nichts zur Rettung des Individuums bei.

Kein Geringerer als Papst Franziskus fordert heute dazu auf, das Verhältnis der Kirche zur Welt bewegungspolitisch zu verstehen. Dazu bedarf es jedoch einer neuen Verortung kirchlicher Praxis. Ihr Ort ist das politische Feld. Die Aufgabe der Kirche ist es, Orte zu schaffen, an denen politische Ohnmacht repräsentiert wird. Das politische Feld besteht zum einen aus dem Wechselspiel von Macht und Gegenmacht, von Machtpolitik und BürgerInnenpolitik. Machtpolitik als Regierungspolitik ist regelgeleitet, BürgerInnenpolitik wirkt regelverändernd. Die Ethik der Machtpolitik ist die Ordnung, die der BürgerInnenpolitik die Veränderung. Die Störungen der Machtpolitik durch Formen des Protests und des Widerstandes verhindern, dass Politik als Machtpolitik zur bloßen Herrschaft verkommt, zum bloßen Geschäft regrediert oder nur noch Verwaltung ist.

Alle Politik, Machtpolitik und BürgerInnenpolitk, hat ihren Ursprung in einer Unterbrechung, durch die die Frage, wie wir zusammen leben sollen, neu justiert wird. Diese ereignet sich dann, wenn diejenigen, die keinerlei Macht haben, die ohne Macht, ohnmächtig, sind, die keinen Anteil an der Gesellschaft haben, die sichtbar und doch unsichtbar sind, die zwar eine Stimme haben, aber über keine Sprache verfügen, die in der Gesellschaft vernommen wird, sich unüberhörbar zu Wort melden, sich unübersehbar zeigen. Es ist diese Unterbrechung, durch die eine Bresche in die Gesellschaft geschlagen wird und die dazu zwingt, neu nach dem zu fragen, was Gerechtigkeit ist.

Aus diesem Grund wurzelt alle Politik, so sie denn gemeinwohlorientiert ist, in einem „lebendigen Sinn für Ungerechtigkeit“ (Burkhard Liebsch). Folglich bedeutet das Politische zu kennen, wissen, was ungerecht ist. Das Bedürfnis, Leiden zur Sprache zu bringen, ist die Bedingung einer leid-empfindlichen Politikethik.Von hier aus ist auch das Gemeinwohl zu verstehen: Das Gemeinwohl ist ein dynamischer Zustand, der einem politischen Handeln entspringt, das bloße Partikularinteressen transzendiert und dabei auf ein gerechtes und gutes Leben sowohl der gegenwärtig als auch zukünftig Lebenden zielt, dessen Verständnis immer wieder neu aus einem individuellen Gerechtwerden erwächst, das Ungerechtigkeiten Ausdruck verleiht. Individuelles Gerechtwerden heißt, Christoph Menke zufolge, mit dem Anderen gegen das zu reagieren, wogegen der Andere leidend und klagend reagiert.

Eine aktivierende christliche Politikethik befasst sich nicht nur mit Begründungsfragen politischer Ethik, sondern nimmt auch eine subsidiäre Funktion im Blick auf politische Praxen wahr. Sie begreift sich als ein Hilfsmittel, das Menschen in die Lage versetzt, ihre Gedanken und Gefühle zur Sprache zu bringen. Erst dadurch wird Teilhabe möglich, denn Zur-Sprache-kommen heißt Zur-Welt-kommen. Eine aktivierende christliche Politikethik sieht ihre Aufgabe darin, Handlungsräume des Selbst zu entdecken und zu ermöglichen. Als Handelnde machen Menschen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, das heißt, sie erkennen, dass sie Einfluss auf ihre Umwelt nehmen. Nur so kann sich Möglichkeitssinn einstellen. Denn, so Th. W. Adorno: Nur wenn, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles.

© Jürgen Manemann


[1] Vgl. dazu: J. Manemann/Y. Arisaka/V. Drell/ A.M. Hauk, Prophetischer Pragmatismus. Eine Einführung in Cornel West, München 22012.

[2] Ausführlich dazu: J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013.

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