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Schwerpunktbeitrag: Mensch und Person

Veröffentlicht am 17. März 2014

16 Foto Borsche

Tilman Borsche

Bei einer derartigen Begriffserörterung wird man nicht erfahren, was der Mensch oder was die Person ist. Bedeutungsfragen kennen keine endgültigen Antworten. Kein Wort hat Bedeutung an sich; gerade deshalb sind Worte so aufschlußreich und beunruhigend. Aber man wird vieles wiedererkennen. Was ich hier betreibe, ist Spurensuche im Feld der Begriffe. Der Weg ist die Botschaft. Folglich werden meine Ausführungen auch nicht abgeschlossen sein; sie führen nicht zu einem Ergebnis, das man getrost mit nach Hause nehmen könnte. Man könnte allerdings lernen, die beiden in Frage stehenden Begriffe, ‚Mensch’ und ‚Person’, nachher etwas vorsichtiger zu verwenden. Damit wäre schon viel erreicht.

I Der Mensch

Mag der Mensch auch immer wieder als eine Doppelnatur verstanden worden sein, zusammengesetzt aus Leib und Seele, Geist und Körper, Trieb und Vernunft oder wie immer die beiden Seiten genannt zu werden pflegen, und mag in dieser Dualität die unkörperliche Seite, nämlich Seele, Geist oder Vernunft in der Regel als das Höhere, das Bessere, das Eigentliche bezeichnet worden sein, so ist mir doch keine Definition bekannt, die den Menschen als unkörperliches Wesen bestimmt (trotz Platon, Alcib. I, 129e, 130c: ‚Was ist der Mensch? … Die Seele ist der Mensch’). Zuerst und vor allem ist der Mensch ‚animal’, d.h. ein Naturding (Körper), das lebendig (beseelt) und mit Sinnen begabt ist. Häufig gelten zwar der Körper, das Leben, die Sinne als minderwertig, und in diesem Sinn wird der Mensch als eine Seele bestimmt, die nur vorübergehend in einem Körper zu hausen genötigt ist. Doch wenn sich eine solche Seele von ihrem Körper löst, dann ist sie eben reine Seele, reiner Geist, reine Intelligenz – und nicht mehr Mensch. Der Mensch bleibt das Sinnenwesen, das sich von anderen Sinnenwesen wesentlich dadurch unterscheidet, daß es in dem angedeuteten spannungsreichen Verhältnis zu einem ihm möglicherweise vorgeordneten, es lenkenden und leitenden Anderen, etwas Übernatürlichem, jedenfalls Nichtkörperlichem steht.

In der bekannten aristotelischen Definition des Menschen als animal rationale (zôon lógon échon) erscheint dieses Andere als die spezifische Differenz des Menschen, der innerhalb der Ordnung der Natur zur Gattung der Sinnenwesen gehört. In der Regel bezeichnen spezifische Differenzen der Naturwesen natürliche Differenzen. Das ist hier offensichtlich nicht der Fall. Die Differenz bezeichnet vielmehr etwas Übernatürliches, etwas Göttliches im Menschen. Doch wenn das so ist, wer soll diese übernatürliche Differenz bestimmen, d.h. das Wesen des Menschen, insofern dieser nicht zur Ordnung der Natur gehört? – Zunächst ist es die Theologie, die diese Aufgabe übernimmt. Doch macht der Mensch mit Gottes Maß gemessen keine gute Figur, er erfährt sich als von Geburt an sündig und weiß, daß nur die Gnade des Herrn ihn retten kann. Auch die Philosophie versucht sich in der Bestimmung des Menschen. Philosophisch betrachtet erscheint der Mensch in vielerlei Gestalt, als das denkende, sprechende und lachende, das exzentrische oder Zeichen gebrauchende Lebewesen, oder als dasjenige, das im Leben seinen Tod voraussieht und im Handeln um seine Endlichkeit weiß.

Aber beide, Theologie und Philosophie, verhandeln die Frage nach dem Menschen nicht nur als Frage nach einem Naturwesen. So verhandelt, gehört diese Frage in die Hände der Naturwissenschaft, näher in die Hände von Biologie und Psychologie. Von Naturwissenschaften aber darf man nichts Unangemessenes erwarten. Das zuvor genannte Spezifikum des Menschen, das Übernatürliche oder Göttliche in ihm, heiße es nun Seele, Geist, Vernunft oder noch anders, gehört nicht zur Ordnung der Natur, es kann also gar nicht Gegenstand einer Naturwissenschaft sein. Wenn die Wissenschaft den Menschen rein als Naturwesen bestimmt, dann kann man wohl zu interessanten Ergebnissen gelangen, aber man wird nichts über die göttliche Vernunftnatur ‘in’ ihm erfahren, weil diese nicht im Horizont der Wissenschaften von den Naturdingen liegt. Nun belehrt uns sowohl die moderne Evolutionsbiologie als auch die moderne Evolutionspsychologie darüber, daß der Mensch, rein als Naturwesen betrachtet, nicht nur irgendwie vom Affen abstammt, sondern zum allergrößten Teil (noch) Affe ist. Die Gene und der Bauplan des Körpers, die Instinkte und Emotionen, Ängste und Aggressionen, Sorgen und Freuden, die Wahrnehmungen und eine breite Palette von vererbten Verhaltensmustern, das alles teilen wir, mehr oder weniger deutlich nachweisbar, mit unseren Vettern und Cousinen aus der afrikanischen Savanne. Eine naturwissenschaftlich orientierte Anthropologie fragt: Welche Merkmale müssen zusammenkommen, damit ein gegebenes Ding ein Mensch ist, damit, was mir vorliegt, mit Recht ‚Mensch’ genannt und von andersartigen Dingen deutlich unterschieden werden kann? Die Antwort darf nur natürliche, d.h. letztlich wahrnehmbare Merkmale angeben, die am Individuum als dem Gegenstand der Untersuchung meßbar, mithin überprüfbar sein müssen. ‚Dies ist ein Mensch, oder es ist kein Mensch.’ Definitionen dieser Art sind charakteristisch für die Wissenschaften von den Naturdingen. So haben die Griechen, nicht ohne Ironie, den Menschen als ein ungefiedertes zweifüßiges Lebewesen bestimmt (Platon, Politikos, 266e; vgl. Def. 415a). Man kann diese Definition leicht verfeinern und kommt schließlich zu einem befriedigenden Ergebnis. Der Mensch ist eine endogame Spezies der (Wirbel-)Tiere, dessen unterschiedliche Verwandtschaftsgrade zu anderen (Wirbel-)Tierarten sich mit einiger Plausibilität und Wahrscheinlichkeit in einem Stammbaum darstellen lassen. – Warum aber bleibt dieses korrekte und wissenschaftlich kaum bestreitbare, bestenfalls verbesserungsfähige Ergebnis dennoch letztlich so außerordentlich unbefriedigend?

II Die Person

Der Begriff der Person hat keine natürliche, sondern eine soziale Herkunft. Er stammt aus dem griechischen Theater – hier bedeutet er Maske und Rolle – und wurde bald ins Gerichtswesen, eine ernstere Form von Theater, übernommen. In einer berühmten Passage unterscheidet Cicero vier Rollen, die wir im Leben zu spielen haben, als vier ‚Personen’: erstens, die Rolle, die uns als Mensch überhaupt zufällt, zweitens die Rolle unseres individuellen Charaktertyps, drittens die soziale Rolle, in die wir geboren sind, und schließlich viertens die Rolle, die wir im Rahmen der drei anderen Rollen für unseren Lebensweg frei wählen (De officiis 1, 107-125). Auch die griechischen Grammatiker scheinen durch die drei prósopa des griechischen Dramas (Protagonist, erster Sprecher; Deuteragonist, zweiter Sprecher oder der Angesprochene; der Chor) dazu angeregt worden zu sein, die drei Sprecherrollen des Verbs bzw. des Pronomens ebenfalls als prósopa zu bezeichnen, was im Lateinischen mit ‚personae’ wieder-gegeben wurde: Denn es gibt dreierlei Personen, die, die spricht, die, zu der, und die, von der/über die gesprochen wird (cum perso-narum natura triplex esset, qui loqueretur, ad quem, de quo (Varro, De lingua latina 8,20)).

Die antiken Theologen greifen den Begriff der Person auf, um ihrer Sprachnot in Bezug auf das Problem der Trinität abzuhelfen. Gott ist ein Wesen bzw. eine Substanz, aber zugleich drei Personen, heißt es nun. Seither wird ‚Person’ in der Regel verbunden mit einem oder mehreren der Begriffe ‚Individualität’, ‚Vernunft’, ‚Würde’, ‚Relationalität’. Damit gerät die Person in einen immer deutlicheren Gegensatz zur Substanz. ‚Substanz’ bezeichnet ein ‚quid’ und damit etwas Allgemeines, einen Begriff, ‚Person’ dagegen ein ‚quis’ und damit etwas Individuelles, Einzigartiges, Unmitteilbares. Im 12. Jahrhundert verbreitet sich die alte Formel, daß die Person im Gegensatz zu den Naturdingen eine Rechtssache ist (persona res iuris est, substantia res naturae), die stets mit den Begriffen der Autorität und der Würde verbunden ist. Diese Bestimmung nennt nicht einfach ein natürliches Akzidens, das an einer Substanz inhäriert (wie die Farbe oder das Gewicht einem Naturding), sondern zeigt an, daß ein natürlich Seiendes auch noch einem anderen Seinsbereich als dem der Naturdinge angehört, nämlich dem seit dem 12. Jahrhundert so genannten ‚moralischen Sein’.

Das moralische Sein aber ist durch Freiheit bestimmt. Eine Person ist Person nicht aufgrund ihrer natürlichen Merkmale, sondern aufgrund ihrer (sittlich-moralisch-rechtlich-sozialen) Relationen zu anderen Personen. Die Relation ist das, was das moralische Sein ausmacht (relatio constituit personam). In diesem Sinne kann man sagen: ‚Eine Person ist keine Person’; denn eine Person ist, was sie ist, erst in Relation zu anderen Personen. Im Fall der Person ist die Kategorie der Relation also nicht als ein Akzidens gedacht, noch dazu als ein besonders schwaches, äußerliches, das die Sache selbst gar nichts anzugehen scheint, sondern als eine konstitutive Kategorie, die, man kann es in aristotelischen Termini nur paradox ausdrücken, substanziellen Charakter hat.

Doch erst ein neuzeitliches Denken vollzieht hier den endgültigen Bruch mit der aristotelischen Naturphilosophie, indem es die Trennung von Person und natürlicher Substanz vollendet. Das zweite Buch des Hauptwerks von Thomas Hobbes, Elementa Philosophiae, handelt „Vom Menschen” (De homine); dessen 15. und letztes Kapitel trägt den Titel „Vom fingierten/künstlichen Menschen, d.h. von der Person” (De Homine Fictitio, sive de Persona). Die einschlägige Definition lautet: „Eine Person ist der, dessen Worte oder Handlungen entweder als seine eigenen angesehen werden, oder als solche, die die Worte oder Handlungen eines anderen Menschen oder Dinges vertreten, denen man sie tatsächlich oder durch Fiktion zuschreibt.” (Leviathan, 16. Kap. entsprechend De homine, 15. Kap.) In anderen Worten heißt das: Person (‚Actor’) ist, wer im Namen eines Rechtssubjekts spricht bzw. handelt, sei es für sich selbst als Rechtssubjekt oder für jemand/etwas anderes als Rechtssubjekt, wodurch diesem (als ‚Author’) ein Wille zugesprochen wird. Aus dieser Definition ergibt sich für das Rechtssubjekt folgendes: Erstens braucht das Rechtssubjekt einen Sprecher (z.B. die eigene Person), und zweitens braucht es die Anerkennung seiner Person als ein durch, gegenüber und unter andere(n) Personen verantwortlicher Willensträger. Auch hier gilt, daß eine Person keine Person ist. Die Person (als Sprecher, ‚Actor’) muß ein Mensch sein; für das handelnde Subjekt (als Willensträger, ‚Author’), für das die Person spricht, gilt das nicht. Im Menschen, der ein Naturwesen ist, können beide Funktionen zusammenfallen. Der Mensch, insofern er als Person anerkannt ist und für sich selbst spricht (d.h. seinen Willen erklärt), gilt daher als eine ‚natürliche’ Person. Doch das muß nicht so sein; diese Verbindung ist weder dem Menschen noch der Person wesentlich. Weder sind alle Menschen Personen, noch sind alle Personen Menschen. Wer oder was Autor bzw. Darsteller – diese Differenz ist das, was die Person ausmacht – ist (oder sein soll), empfängt dieses Sein durch Institution: „Inanimate things, as a Church, an Hospital, a Bridge,… Likewise Children, Fooles, and Mad-men… An Idol,… The true God [all] may be Personated” (Leviathan I 16)), indem ihnen ein Wille zugesprochen und zugebilligt wird, indem sie in ihrem Sprechen bzw. durch ihren Sprecher als natürliche bzw. als künstliche (z.B. juristische) Personen anerkannt sind.

Das Sprachrohr (porte-parole) des Willens, das der Person so wesentlich ist wie der Wille selbst, ist immer ein Mensch oder, genauer gesagt, eine natürliche Person (aber wir kennen keine anderen natürlichen Personen als eben Menschen). Das erste Beispiel künstlicher Personen, die ihren Willen nicht durch sich selbst, sondern durch Menschen kundtun, dürften die Götter gewesen sein. Sie äußern ihren Willen z. B. mittels natürlicher Zeichen, indem diese durch autorisierte Sprecher gedeutet werden, oder durch Propheten, die dazu autorisiert sind, in ihrem Namen zu sprechen. Doch nicht nur Götter werden personifiziert. Alles was kraft Übereinkunft unter Sprechern mit eigenen Rechten investiert wird, wird dadurch zu einer Person erklärt; auch Menschen, die der Sprache nicht (nicht mehr oder noch nicht) fähig sind; insbesondere aber Institutionen, deren größte, mächtigste und für Hobbes wichtigste der Staat ist. Der Staat ist die Person der Personen, da er alle anderen, künstliche wie natürliche Personifizierungen erst autorisiert, indem er ihnen Bestand und Dauer sichert, die sie von Natur aus nicht haben.

An Hobbes wird besonders deutlich, daß das Sein der Person sich in Rechten artikuliert, deren Seinsweise das Anerkanntsein ist. Der freie Wille ist nichts, wenn er nicht andere Freiheit, anderen Willen bestimmt, ihn zu berücksichtigen. Daß ein natürlicher Gegenstand, der Gewicht hat, nach unten fällt, daß ein Hase vor dem Fuchs flieht, so gut er kann, ist keine Sache der Freiheit und des Willens, sondern der Natur. Aber daß dieser Gegenstand mir gehört und nicht Dir, das ist eine Sache, die nur im Reich der Freiheit Bedeutung hat, weil es eine Sache der Willkür, des Gesetzes, der Anerkennung ist. Die Natur kennt kein Eigentum, sie kann eine solche Anerkennung nicht bewirken.

Erst jetzt stellt sich die Frage nach dem ‚und’ in dem Titel ‚Mensch und Person’, und zwar als die moralische Frage nach dem natürlichen Ort der Person.

Personen existieren nicht in der Natur, vielmehr wird etwas von natürlichen Sprechern, d.h. von Menschen, zu einer Person gemacht, d.h. erklärt. Personifizierbares Etwas kann alles sein, was fähig ist, von denselben Sprechern identifiziert und mit einem Namen belegt zu werden, d.h. alle Gegenstände des Denkens. Bekanntlich betraf die Personifizierung vor allem Menschen, Götter, Tiere und andere Naturdinge, aber auch künstliche Bildungen wie Götzen oder Staaten. Die Realisierung einer solchen Verbindung ist nicht nur kontingent, sondern auch wesentlich arbiträr, d.h. nicht natürlich, sondern künstlich. Sie ist ein Produkt der Freiheit, ein historisches Ereignis.

Was uns nun interessiert, ist die Personifizierung des Menschen. Für die historische Verbindung von Mensch und Person müssen wir noch einmal einen Schritt hinter Hobbes zurückgehen in die Zeit, in der die christliche Theologie sich im Rahmen der aristotelischen Naturphilosophie artikulierte. In diesem Zusammenhang war es eine ganz besondere, glückliche, jedenfalls außerordentlich folgenreiche historische Entwicklung, daß in den zuvor nur sehr knapp angedeuteten theologischen Spekulationen Menschsein und Personsein eine dauerhafte, durch die herrschende Religion sanktionierte Verbindung eingegangen sind. Die Keimzelle dieser Verbindung ist das Dogma von der Doppelnatur Christi. Christus ist seinem Wesen/seiner Natur nach sowohl Gott als auch Mensch. In ihm und durch ihn wird die über allen Vergleich erhabene Würde Gottes auf die Natur des Menschen übertragen. Natur des Menschen ist hier aristotelisch verstanden, d.h. sie gilt unterschiedslos für alle Individuen, die unter den Begriff des Menschen fallen, mithin zur menschlichen Spezies gehören. Allein aufgrund der in Christo exemplarisch verwirklichten Teilhabe an der göttlichen Natur Christi ist die menschliche Art in besonderer Weise aus dem übrigen Kreis der lebendigen Natur herausgehoben. Durch kein natürliches Merkmal ließe sich die Würde des Menschen vor allen anderen Lebewesen rechtfertigen.

Selbstverständlich trifft und verträgt sich diese theologische Begründung gut mit der antiken Bestimmung der menschlichen Natur durch die Vernunft, insofern diese ja auch ‚von außen’ kommen soll und uns den Göttern ähnlich macht. Doch wie der Fortschritt in den biologischen Wissenschaften gezeigt hat, reicht die Vernunft, wenn man sie als ein natürliches Merkmal des Menschen betrachtet und untersucht, letztlich nicht aus, um den Menschen radikal aus dem Tierreich heraus- und über dieses hinauszuheben. Vernunftfähigkeit (unter dem Namen der Intelligenz) findet sich in Ansätzen auch bei anderen Lebewesen, und aus heutiger Sicht der Biologie spricht nichts dagegen, daß die natürliche Vernunft auch in ihrer spezifisch menschlichen Ausprägung natürlich erklärt werden kann.

III Wertschätzung des menschlichen Lebens

Samuel Pufendorf (1632-1694), der bedeutendste Naturrechtslehrer der frühen Neuzeit und Kritiker von Hobbes, geht von einem theologisch bestimmten Menschenbild aus, das den Menschen als Naturwesen (oder obwohl Naturwesen) doch durch Vernunft und Freiheit bestimmt ansieht. Nach Pufendorf und der ihm folgenden Naturrechtstradition ist das menschliche Individuum von allen übrigen Dingen dieser Welt nicht nur spezifisch, sondern wesentlich unterschieden. Denn es ist beides, Naturwesen und Freiheitswesen – und das heißt für Pufendorf Person. Als Personen und nur als Personen, nicht als Naturwesen, sind die Menschen infolgedessen auch gleich.

In dieser theologisch begründeten Tradition einer Metaphysik der Freiheit aber stehen auch die Menschenrechtsdiskussionen des 18. Jahrhunderts, deren Ergebnisse in die Verfassungen der modernen Demokratien eingegangen sind. Grundlage war und ist dabei stets der eine Gedanke: Der Mensch soll qua Mensch als Person anerkannt werden – nicht erst kraft eines Amtes, eines verliehenen Rechts oder auch adeliger Geburt. Folglich gelten sein Leben, die Unverletzlichkeit seines Leibes sowie weitere Schutzbestimmungen und Freiheiten als höchstrangige Rechtsgüter. Sie kommen dem Menschen als Person zu und sind in diesem Sinn unveräußerlich. Denn sie können einem Menschen nur genommen werden, indem man zugleich seine Person zerstört, d.h. indem man ihm die Anerkennung verweigert, die ihm als einem Kind Gottes eo ipso zukommt.

Ein Jahrhundert nach Pufendorf waren diese metaphysischen Prinzipien des Naturrechts – losgelöst von ihren theologischen Ursprüngen – bereits zu Grundsätzen der Selbstauslegung des Denkens geworden, die unter den aufgeklärten Zeitgenossen weitgehend anerkannt wurden. In den eher nach Prinzipien der Hobbesschen Staatstheorie absolutistisch regierten Staaten Europas hatten sie jedoch in der Praxis wenig Geltung. Sie mußten als ‚Menschenrechte‘ zunächst verkündet und propagiert, sodann in den beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, der amerikanischen und der französischen, erkämpft werden, bevor sie in den neu entstehenden Demokratien zu Verfassungsgrundsätzen erhoben werden konnten.

Was ist da geschehen? Subtile Unterscheidungen, die zunächst (im 13. Jahrhundert) zur Lösung spezieller theologischer Probleme eingeführt und später (im 17. Jahrhundert) zu einer neuen Grundlegung des Naturrechts verwendet worden waren, wurden nun (im 18. Jahrhundert) in einer beispiellosen ‚Aufklärungs’-Kampagne, die sich gleich mit diesem Namen selbst benannte und die gesamte europäisch geprägte Welt erfaßte, mit so durchschlagendem Erfolg dem öffentlichen Bewußtsein eingepflanzt, daß sie schließlich als evidente, unbezweifelbar gewisse Wahrheiten verkündet werden konnten: Der zentrale und zu Recht berühmte Satz aus der Präambel der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, redigiert von Thomas Jefferson, lautet: „Wir erachten diese Wahrheiten für selbstevident: daß alle Menschen gleich geschaffen sind [all men are created equal]; daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten [certain inalienable Rights] ausgestattet sind, zu denen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören;…”

Der entscheidende erste Satz dieses Textes ist kontraintuitiv, denn ‚natürlich’ sind die Menschen ungleich, wie wir alle wissen und täglich von neuem erfahren können. Die Gleichheit, die hier gemeint ist, betrifft aber gar nicht die Natur des Menschen, sondern seine Rechtspersönlichkeit. – In der Präambel der Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen von 1948 hat der Glaube „an die Würde und den Wert der Person” inzwischen zwar auch weltweit normativen Ausdruck und eine alle Schranken von Kultur und Tradition überschreitende Bestätigung gefunden. Aber er ist damit keineswegs überall verwurzelt. Es ist noch nicht lange her, daß die chinesische Regierung als Sprecherin einer eigenständigen großen Kulturtradition und eines beträchtlichen Teils der Menschheit die westlichen Regierungen hat wissen lassen, daß sie sich die (europäisch-christliche) Lehre von den Menschenrechten nicht aufdrängen lassen wolle. Sie vertrat vielmehr die Ansicht, daß die Rechte des Individuums an den Rechten – nicht anderer Individuen, sondern der Gemeinschaft – ihre Grenze finden sollten. Bekanntlich gilt das auch für die Frage nach dem Wert des (menschlichen) Lebens, das dieser Auffassung zufolge zwar keinen unbedeutenden, aber eben doch einen Preis hat.

Würde kann etwas, z.B. ein Mensch, nur als Person haben. Denn nur als Person kann etwas Träger von Rechten sein, die seine Würde begründen. In der ‚Natur’ gibt es weder Recht noch Würde. Würde und die Rechte, die sie ausmachen, werden verliehen und entzogen bzw. verweigert, sie werden zugesprochen und abgesprochen. Rechtlos ist ein Mensch zwar immer noch ein Mensch, verstanden als Naturwesen, wie ein Stein ein Stein und ein Hund ein Hund ist. Rechte aber werden allein durch Vernunft und Freiheit bestimmt. Sind sie bestimmt, dann heißt das in dieser Ordnung des moralischen Seins, daß sie von nun an eingehalten oder gebrochen, be- oder mißachtet werden können.

Wem Rechte verliehen, wem sie entzogen werden sollten, und in wessen Macht diese Verleihung und dieser Entzug stehen sollten, das ist eine moralische Frage. Es ist Hegels Verdienst gezeigt zu haben, daß diese moralische Frage nicht ursprünglich ist. Lange bevor jemand in der Lage ist (bevor wir in der Lage sind), moralische Fragen dieser Art zu stellen und zu erörtern, müssen wir als Personen längst wirklich anerkannt sein. Die wechselseitige Anerkennung der Personen ist die sittliche Wirklichkeit, in der wir leben, und als solche ist sie Bedingung dafür, daß wir ihre Gründe, die Gründe dieser Anerkennung, moralisch diskutieren können.

Nietzsche hat erkannt, daß dieses Fragen nach den Gründen unserer moralischen Welt ein gefährliches Experiment mit unserem Leben ist. Was wir bei dieser Suche entdecken, ist die Kontingenz der moralischen Grundlagen unserer Lebensform. Die scheinbar so selbstverständliche Verbindung von Mensch und Person z. B., auf der die Menschenrechte und damit unser gesamtes Rechtssystem beruhen, ist christlich begründet, es ist historisch geworden und bedingt.

Gott hat Menschengestalt angenommen, nur in Christo sind alle Menschen als solche auch Personen, nur in ihm sind alle Menschen – als Personen – gleich geschaffen (created equal). – Wenn nun aber dieser Gott gestorben sein sollte? Wenn wir ihn getötet hätten, wie andere Zeiten ihn inthronisiert haben? Was wird dann aus unseren unveräußerlichen (inalienable) Rechten? Was aus der Gott geschuldeten Anerkennung aller anderen Menschen als Personen?

In der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion pflegen wir uns mit aristotelischen Problemen herumzuschlagen, mit den Problemen, die Grenzen des Menschen festzulegen, d.h. empirisch zu bestimmen, was einen Menschen ausmacht, zu entscheiden, wo etwas anfängt und wo es aufhört, Mensch zu sein. Doch diese Probleme sind harmlos gegenüber dem Problem, das als Konsequenz des neuzeitlichen Denkens seit Hobbes bei Nietzsche in aller Schärfe hervortritt. Dort geht es nämlich um die Frage, ob überhaupt, ferner aus welchem Grund und mit welchem ‚Recht’, alle Menschen als Personen, d.h. als Träger unveräußerlicher eigener Rechte angesehen werden sollten. Wenn ‚wir’ miteinander reden, dann haben wir uns im Moment immer schon als Personen anerkannt, wenigstens solange wir miteinander reden. Aber wie weit reicht das ‚wir’, wer oder was ist damit eingeschlossen? Es ist christliche Lehre, daß alle Menschen qua Menschen eingeschlossen sind. Aber noch einmal gefragt, was wäre, wenn wir feststellen müßten, daß der christlich-moralische Gott gestorben ist?

Eine Person ist ein Rechtsträger. Wie eine Regel nicht für eine Person gelten kann, so kann auch kein Recht nur für eine Person gelten. Für welchen Personenkreis aber gelten Rechte? Rechte gelten für diejenigen, für die sie als gültig erklärt werden, und zwar so weit und so lange, wie die Zwangsgewalt, ihre Anerkennung durchzusetzen, reicht. Die Geltung von Rechten ist in historisch begrenztem Maß allgemein. Menschenrechte aber sind Willenserklärungen einer historisch begrenzten Gemeinschaft, die mit dem Anspruch artikuliert werden, unbegrenzt und überhistorisch für alle Menschen zu gelten, auch für die, die nicht zur Gemeinschaft derer gehören, in deren Namen sie artikuliert wurden. Dieser grenzüberschreitende Anspruch der Menschenrechte ist notorisch, und bekanntlich ist er problema-tisch. Er kann auf zweierlei Weise verstanden werden: entweder als Absicht und Aufforderung, gewaltsam in fremde Rechtsräume einzugreifen und diejenigen Personen, für die diese Rechte noch nicht gelten, zu deren Anerkennung zu zwingen; oder als Angebot und Einladung an die Mitglieder fremder Rechtsgemeinschaften, diese Rechte als eine gemeinsame Rechtsgrundlage verschiedener Rechtssysteme anzuerkennen.

Eine Person ist ein Rechtsträger. Ihr Sein und ihre Rechte bestehen darin, von anderen Personen anerkannt zu sein. Wer oder was als Person gilt und welche Rechte einer Person zukommen, ist selbst eine Frage des Rechts oder zuvor noch der Sittlichkeit. Nur eines steht fest: Anerkennung gewährende Personen sind Menschen, denn sie müssen sich in eigenem Namen äußern und ggf. für andere Personen sprechen können.

Die Antwort auf die Frage, wer oder was als Person gilt und welche Rechte einer Person zukommen, ist also nicht aus einer allgemeinen Vernunft ohne Rücksicht auf die Anerkennung einer Person durch andere Personen – logisch, wie man sagt, doch richtiger sollte es heißen: monologisch – abzuleiten.

Die Antwort auf die Frage, wer oder was als Person gilt und welche Rechte einer Person zukommen, ist aber auch nicht aus einem Gefühl oder aus moralischer Intuition zu gewinnen. Denn letztlich läßt sich die Bestimmung dieses Gefühls oder dieser Intuition, die auch als Stimme des Gewissens auftreten kann, immer als ein Vorurteil erkennen; jedenfalls als nicht unmittelbar wahr, sondern durch anderes (durch das genetische, das kulturelle und das individuelle Gedächtnis, d.h. durch Instinkt, Tradition und Erfahrung) vermittelt.

Vielmehr ist jede Antwort auf die Frage, wer oder was als Person gilt und welche Rechte einer Person zukommen, das Resultat einer Willenserklärung. Gewiß nicht eines unmittelbaren und vollkommen autonomen Willens, sondern eines Willens, der selbst zunächst immer Produkt vielfältigster unbewußter Erfahrungen ist. Autonomie kann ein solcher Wille nur allmählich und in einem gewissen Grad durch Reflexion gewinnen, indem er sich zu einem vernünftigen, verantwortlichen, geschichtserfahrenen Willen bildet und entwickelt. Ein solcher Wille würde auch in der grundlegenden Frage der Personen- oder Menschenrechte keine Dogmen verkünden und mit Anspruch auf unbedingte Gültigkeit festlegen, worin diese Rechte bestehen. Sondern er würde aufgrund reflektierter Erfahrung Forderungen und Wünsche artikulieren. Und er würde Einwendungen gegen seine eigenen Erfahrungssätze ernst nehmen, weil es Einwände von Personen sind, die er als Personen anerkennt, und er würde letztlich eher Nicht-Übereinstimmung auch in diesen Grundfragen anerkennen als Übereinstimmung zu erzwingen versuchen.

Tilman Borsche ist Professor für Philosophie an der Universität Hildesheim.

(c) Tilman Borsche

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1 Kommentar

  1. Langer Rede kurzer Sinn – Mensch und Person: Uli Hoeneß!

    Die Medien (nicht die Philosophen) unterscheiden hier zwischen Mensch und Person.
    Wer da verantwortlich ist, der Mensch oder die Person, wirft Spekulationen auf.
    Hoeneß ist natürlich kein einfacher Sozialschmarotzer, sondern ein komplizierter.

    Im Grunde ein Gutmensch. Wie wir alle – nur besser. Wir sind ja alle im Herzen gut – oder nicht? Hoeneß hat sich öffentlich für diverse Menschen eingesetzt, wie der Normalbürger das täglich auch tut. An Hoeneß wird jetzt die Diskussion Menschsein auf Medienebene entschieden. Heißt: Wer reich ist darf Fehler machen.
    Warum? Und gerade warum Hoeneß? Wegen eines Spieles, das heute wie damals Brot und Spiele als Kontrolle der Herrschenden legitimert?

    Das Volk interessiert sich nicht für Rechte. Rechte wurden sowieso immer nur für Privilegegierte erschaffen, die sich in Krisen unsicher fühlten.
    Hoeneß ist philosophisch uninteressant – und genau das weiß er!

    Weil niemand hinterfragt, warum eine Gesellschaftsordnung sich an den Reichen orientiert. Sozialdemokratie ist seit Schröder demoliert. Dass ihr Phlisophen es zulasst, wie schnell Jahrhunderte Denken dem reinen Kapitalismus nicht standhalten konnte, erschüttert mich. Und ich frage mich immer, was die modernen Philosophen mit ihrem angepasst moderatem Geschwafel bewegen wollen?

Beitragsthemen: Anthropologie | Freiheit | Recht

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