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Schwerpunktbeitrag: Lob des ‚dummen Huhnes‘ oder: Depression und Gesellschaft. Eine philosophische Polemik im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Wilhelm Genazino

Veröffentlicht am 12. Mai 2014

Foto Brock

Eike Brock

„When the day is through / all I want to do / is slow down.“
(Ignite: Slow Down, Our Darkest Days)

I. Von letzten und von deprimierten Menschen

Nach dem Tod Gottes, d. h. nach dem Wegfall derjenigen Instanz, die so lange Zeit die Funktion eines Sinnstifters und -garanten in unserer Welt des unablässigen Werdens und Vergehens ausfüllte, ist ein Sinnvakuum entstanden. Soll das Nichts infolgedessen nicht wie in Michael Endes Unendlicher Geschichte nach allen Richtungen um sich greifen und dabei einen alles verschlingenden Sog erzeugen, dann muss die entstandene Leerstelle irgendwie gefüllt werden. Ein neuer Sinn muss her, denn so paradox es auch klingen mag: Das Nichts wächst fortwährend. Sinnverlust und Sinnsuche: Damit ist ein Themenkomplex berührt, der beinahe zwangsläufig einen der wichtigsten Philosophen der Moderne auf den Plan ruft. Die Rede ist von Friedrich Nietzsche, dem Durchdenker des Nihilismus. Mag sich Nietzsches philosophisch-literarische Figur Zarathustra auch noch so rätselhaft ausdrücken[1] – sie sieht doch ungemein klar. Nicht nur ist sich Zarathustra der Gefahr bewusst, die ein prosperierendes Nichts bedeutet, er hat auch eine konkrete Vorstellung davon, wie sich ihr begegnen lässt: Der neue Sinn der Erde soll der Übermensch sein. Indessen stößt Zarathustra bei dem Versuch, seiner Lehre vom Übermenschen auf einem dicht bevölkerten Marktplatz Gehör zu verschaffen, auf taube Ohren. Also verändert er seine Taktik. Statt vor den Menschen direkt vom Übermenschen zu sprechen, beschwört er zunächst dessen Gegenteil herauf, den letzten Menschen. Auch dieser könnte potenziell der neue, so sehr gesuchte Sinn der Erde werden. Das soll er aber gerade nicht. Denn der letzte Mensch ist, wie Zarathustra sein Publikum wissen lässt, das „Verächtlichste“. (Nietzsche, 1988a: 19) Er ist ein Wesen, das meint, das Glück erfunden zu haben, indem es die Lebensform eines sanften Hedonismus gewählt hat; ein Wesen, das arbeitet, liebt, sich berauscht, sein Lüstchen hat für Tag und Nacht. Aber von alledem will es bloß nicht zu viel – jedes Zuviel verdirbt nämlich den Spaß; und vorzüglich eines will der letzte Mensch auf keinen Fall: zu viel denken. Er ist eben ein sanfter Hedonist, ein Hedonist weniger der Lust als des Lüstchens.

Zarathustra ist sich sicher: So kann niemand freiwillig leben wollen, so kann niemand sein wollen. Er glaubt, sein Schachzug, den Menschen den Spiegel der äußersten negativen Möglichkeit vorzuhalten, auf dass auch sie diese Möglichkeit verachten und folglich Sorge dafür tragen, dass sie nicht Wirklichkeit werde, müsse aufgehen. Allein er irrt sich. Zwar hat er mit der Rede vom letzten Menschen tatsächlich die erhoffte Aufmerksamkeit erhalten. Mit gespitzten Ohren lauscht die Menge dem Weisen vom Berge. Statt aber angewidert zu sein, zeigt man sich begeistert: „Gieb uns diesen letzten Menschen“, rufen ihm die Versammelten sehnsuchtsvoll zu, „mache uns zu diesen letzten Menschen!“ (Nietzsche, 1988a: 20) – Was für Zarathustra ein Schreckgespenst, ist für sie das schöne Leben.

Nun ist man – gerade als Philosoph – spontan dazu geneigt, Zarathustra zuzustimmen. Der letzte Mensch scheint eher der Stoff zu sein, aus dem Dystopien gewoben werden als Utopien. Unterdessen sollte man es sich nicht zu leicht machen mit der Kleinheit des letzten Menschen und aus der Vogelperspektive desjenigen urteilen, der es gewohnt ist, über den Dingen zu stehen wie der aus dem Gebirge herabgestiegene Zarathustra. Spöttisch hält dieser fest, dass der letzte Mensch die Gesundheit ehre. Aber womöglich ist Zarathustras Spott in diesem Punkt voreilig. Es könnte doch sein, dass die Gesundheit genau das ist, worauf am Ende alles ankommt.[2] Denn vielleicht besteht das Glück ja zu einem Großteil in der Gesundheit bzw. – wie schon Epikur vermutet hatte – in der Abwesenheit von Schmerz, Leid und Angst. (Vgl. Epikur 1973: 43f.) Krankheit – oder allgemeiner: Leid – scheint jedenfalls die größte Sorge bzw. das Wovor der größten Furcht des letzten Menschen zu sein. Konsequenterweise wünscht er sich auch einen möglichst schmerzfreien Abtritt aus seinem unter dem epikureischen Leitstern der Leidvermeidung geführten sanft-hedonistischen Leben. Nötigenfalls ist er auch bereit, auf medikamentösem Wege nachzuhelfen; eine Verfahrensweise, die sich bereits während seines bisherigen Lebens bewährt hat: „Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben“ (Nietzsche, 1988a: 20), so lautet eine der Lebensklugheiten des letzten Menschen.

Was Nietzsche wie den Sturmvogel vor der Wetterkatastrophe[3] generell auszeichnet: der wache Blick und das feine Gespür für das, was kommen wird, bestätigt sich auch im Fall seiner Konzeption des letzten Menschen, der sich zum Zweck der Glücksgewinnung bzw. Leidvermeidung willfährig Betäubungsmitteln hingibt. Denn tatsächlich ist es heutzutage – in Zeiten, da der Mensch immer mehr auf die Funktionen seines Gehirns reduziert wird – üblich, dass auch psychisch weitgehend gesunde (vorsichtiger formuliert: alltagstaugliche oder auch, mit spätmoderner Note: im Alltag ‚funktionierende‘) Menschen zu Antidepressiva greifen.[4] Sie tun dies, weil sie sich davon einen Glücksgewinn versprechen. Dabei sind sie durchaus bereit, mögliche Persönlichkeitsveränderungen in Kauf zu nehmen.[5]

Ein weiterer Grund, der Antidepressiva für viele Menschen attraktiv macht, ist die geringe Bereitschaft oder Befähigung, dem Leben offen ins Gesicht zu blicken.[6] Insofern es dem Einzelnen kaum möglich ist, am Zustand der Welt wesentliche Korrekturen vorzunehmen, d. h. am Objekt der Betrachtung selbst etwas zu ändern, wählt man eben den anderen, den gangbaren Weg: Man manipuliert den Blick des betrachtenden Subjekts, so dass das in Augenschein genommene Objekt in einem ganz anderen, nämlich freundlicheren Licht erscheint.[7] Für diese Form der Weltverschönerung eignen sich Antidepressiva besser als ‚klassische‘ Rauschmittel wie Alkohol oder Marihuana, weil erstere (mittlerweile) im Rahmen wissenschaftlicher Bemühungen explizit zum Zweck der Gemütserhellung entworfen werden.[8] Zwar kennt Nietzsche selbstverständlich noch keine modernen Antidepressiva. Allerdings ist ihm die Taktik der Weltverschönerung durch die verklärende Veränderung des Blicks des Betrachters geläufig.[9] Sie wird vom letzten Menschen verfochten, der sich, wie gesagt, hin und wieder seine kleine Dosis Gift gönnt. Immer wenn der letzte Mensch etwas gesagt hat, blinzelt er. Dieses Blinzeln lässt sich einmal als Bekundung seines Unwillens oder auch (bei fortgeschrittener Degeneration) Unvermögens, der Welt wachen Auges zu begegnen, deuten. Man kann es indes genauso gut – was eigentlich keine andere Deutung, sondern vielmehr eine Fortführung der ersten Interpretation ist – als Ausdruck der Umsetzung der beschriebenen Weltverschönerungstaktik verstehen.[10]

Es greift unterdessen nicht nur eine steigende Zahl vermeintlich gesunder Menschen zu Antidepressiva, sondern immer mehr Menschen sind auch wirklich von zum Teil massiven psychischen Leiden betroffen.[11] Vor allem die Depression, d. i. grob bestimmt eine anhaltende negative Befindlichkeit[12], hat in den letzten Jahren ‚Karriere‘ gemacht. Sie ist, jedenfalls in der westlichen Gesellschaft[13], zur „Leitkrankheit“ geworden (vgl. Ehrenberg 2008: 13). Dass der Depression diese traurige sozialweltliche Hauptrolle zukommt, mag die verschiedensten Ursachen haben. Ein wesentlicher Grund ist aber vermutlich darin zu sehen, dass wir in einer Art Leistungsgesellschaft leben, die uns nicht nur permanent fordert, sondern mitunter auch überfordert. Eine besonders perfide Art der Überforderung liegt in einem zwar unausgesprochenen, darum jedoch nicht weniger virulenten Gebot, das sich im die Moderne wesentlich bestimmenden „Prozess einer generalisierten Aufwertung von Autonomie“ (Ehrenberg 2011: 53) herausgebildet hat: Es wird insgeheim von uns verlangt, wir möchten uns doch bitte selbst verwirklichen.[14] Dabei gibt uns die Gesellschaft paradoxerweise ein allgemein verbindliches Muster der Selbstverwirklichung vor, indem sie uns in eine Art Selbstverwirklichungsräderwerk einspannt. Wer diese Tretmühle erfolgreich durchläuft, erstrahlt in neuer Schönheit: Der schöne neue Mensch ist schöngeistig: er hat das Abitur und sogar studiert; ist körperlich schön: er macht ‚Fitness‘ und hat einen schönen Teint; ist moralisch schön, d. h.: er engagiert sich sozial. Bei alledem ist er, was ebenfalls schön ist, zielstrebig, gut organisiert, kommunikativ, teamfähig und außerdem flexibel[15]. Ist er hingegen nicht auf solche Weise schön, so ist es vermutlich auch sein Leben nicht. Tatsächlich droht der Zustand unserer Psyche angesichts des herrschenden Selbstverwirklichungsdrucks in Mitleidenschaft gezogen zu werden. Im äußersten Fall verzehrt sie sich irgendwann in diesem Räderwerk, in dem das allgemeinmaß-geschneiderte Selbstsein zu einer unbedingt zu erbringenden Leistung pervertiert ist, und fällt erschöpft und antriebslos in sich zusammen.

Ein Sinnbild unserer Ermüdungs- oder Erschöpfungsgesellschaft hat der Schriftsteller Wilhelm Genazino gleich zu Beginn seines Romans Das Glück in glücksfernen Zeiten gezeichnet. Nach einem langen und anstrengenden Arbeitstag sucht der Ich-Erzähler Gerhard Warlich nach Ruhe und Erholung in einem Straßencafé. Beim Anblick der anderen Cafébesucher geht ihm auf, dass die hier versammelten Menschen durch ein besonderes Band miteinander verbunden sind: die Erschöpfung. Sie ist ein wesentliches Symptom des Lebens in unserer Zeit: „Das einzige Straßencafé, das es in der Nähe unserer Wohnung gibt, ist wie üblich überfüllt. Nur mit Mühe finde ich einen freien Tisch. Die Sonne scheint schwach, es ist Spätnachmittag. Ich habe neun Stunden Arbeit hinter mir und empfinde das Café als die erste Wohltat des Tages. Auch die meisten Menschen um mich herum sind erkennbar erschöpft. Ausgepumpte, fast reglos in ihren Stühlen liegende Menschen empfinde ich als besonders schön. Sie wirken, mild von der Sonne beschienen, wie die endlich zur Betrachtung freigegebenen feierabendlichen Goldränder unserer Leistungsgesellschaft.“ (Genazino 2009: 7)

Angesichts der an allen Ecken und Enden sichtbaren Erschöpfung, in Anbetracht der heutzutage beständig beschworenen und lauernden Gefahr[16] des schlimmstenfalls in die Depression mündenden Burnout drängt sich die Frage auf, wie man ihr entkommen kann. Vor diesem Hintergrund will ich im Folgenden Nietzsches Konzeption oder Lebensform des letzten Menschen ins Feld führen und zwar als eine weitgehend depressionsresistente Lebensform. Der letzte Mensch ist, wie ich zeigen werde, eine Figur des Entkommens durch Unterwindung. Der Gegenentwurf zum letzten Menschen, der berühmt-berüchtigte Übermensch, ist dahingegen eher eine Konzeption des konfrontativen Begegnens durch Überwindung. Statt wie der letzte Mensch gleichsam unter der Gefahr hindurchzuschlüpfen, springt er vielmehr über sie hinweg. Dabei folgt er freilich selber einem Leistungsprinzip, das dem der Selbstverwirklichung wenigstens in formaler Hinsicht frappierend ähnelt. Der Übermensch soll sich nämlich unausgesetzt selbst überwinden. Im Zuge dieser Lebenspraxis droht er seinerseits der Erschöpfung in die Falle zu gehen. Von der Warte der seelischen Gesundheit aus betrachtet, möchte ich daher die Frage aufwerfen, ob nicht Zarathustras Hörer womöglich sogar im Recht sind, wenn sie sich den letzten Menschen wünschen. Immerhin hat dieser, wenn wir ihm glauben dürfen, das Glück erfunden. Und ist es nicht eben das Glück, wonach wir Menschen alle streben, die Weisen wie die große Menge? (Vgl. Aristoteles 1985: 4 (EN 1095a)).

II. Von der Unterwindung des Unglücks durch den letzten Menschen

Um sogleich einem naheliegenden Einwand zu begegnen: Nietzsches letzter Mensch und Übermensch sind philosophische Konzeptionen, die ihren Platz im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Nihilismus finden. Tut man ihnen also nicht Gewalt an, wenn man sie aus diesem Bezugsrahmen herausreißt, um sie in einen anderen, nämlich den der Depression, hineinzustellen? Anders gefragt: Lassen sich die beiden philosophischen Konzepte überhaupt für das hier behandelte Problem des Umsichgreifens der Depression in unserer Gesellschaft fruchtbar machen? Ich meine: ja. Denn Nietzsche kennt eine Spielart des Nihilismus, die sich bei genauem Hinsehen als eng verwandt mit der Depression zu erkennen gibt. Ausschlaggebend für dieses Verwandtschaftsverhältnis sind die Symptome des, wie ich ihn nennen will, Nihilismus des großen Umsonst, und der Depression. Die Hauptsymptome der Depression sind „Niedergeschlagenheit, Antriebsverlust, Ängste, Grübeleien und Müdigkeit“ (Payk 2010: 29; im Orig. hervorgehoben). Insofern der Begriff ‚Depression‘ aber quasi-definitionsgemäß eine „vielfältige Symptomatik“ (Summer 2008: 16) bezeichnet, die Bestimmung der Depression also über die Symptome erfolgt, darf man unter der Voraussetzung, dass sich die gleichen Symptome tatsächlich auch bei demjenigen nachweisen lassen, der sich im Würgegriff des müden Nihilismus befindet, schlussfolgern: Der müde Nihilist ist depressiv.

Wie sieht es aber mit dem müden Nihilisten aus? Ist er wirklich niedergeschlagen, antriebslos und müde – vielleicht sogar lebensmüde? Um dieser Frage nachzugehen, sei die Gestalt des Nihilisten des großen Umsonst, wie man sie bei Nietzsche findet, kurz umrissen.

Nichts fürchtet Nietzsche so sehr, wie die große Müdigkeit, die der Kern jener hier im Brennpunkt stehenden Form des Nihilismus ist. Gemeint ist eine lähmende Müdigkeit, die dem Menschen seine Schaffenskraft raubt. Der müde Nihilist ist bestimmt vom Gedanken, dass alles umsonst sei, dass jede Handlung letztlich eines Sinns entbehre und sich darum nicht lohne.[17] Solcherart vom Gedanken des großen Umsonst befallen, zieht es ihn hinab: Alles wird ihm schwer, auch er selbst, so dass er sich zu gar nichts mehr aufraffen mag. Vor dem Hintergrund der totalen Sinnlosigkeit entwickelt er eine nihilistische Indifferenz: Ihm ist alles gleichgültig in dem Sinne, dass er alles für gleichermaßen wertlos hält. Es gilt ihm mithin alles nichts. Entsprechend vermag er sich auch für nichts mehr zu interessieren, geschweige denn, dass er sich noch an etwas erfreuen könnte. Wen aber nichts mehr wirklich interessiert oder erfreut, der sieht auch keinen Sinn darin, noch irgendwelche Pläne zu schmieden und in Angriff zu nehmen. So wendet sich der müde Nihilist zuletzt von der Welt ab und zieht sich in die Mauern seiner inneren Burg zurück.

Mit diesem Bild des müden Nihilisten vor Augen hat sich die obige Schlussfolgerung also bestätigt: Der müde Nihilist deckt die Symptomatik der Depression auf beeindruckende Weise ab. Mit einem (kuranten) Wort: Er ist depressiv.

Für Nietzsche stellt ein solcher depressiver Nihilismus eine große Gefahr dar, weil er einen Mangel an Schaffenskraft bedeutet. Auf die Schaffenskraft kommt es jedoch in Nietzsches Philosophie maßgeblich an. Wie Nietzsche mit Heraklit nicht müde wird zu betonen, leben wir nämlich in einer Welt des Werdens, in der, anders als in einer Welt des Seins (wie der platonischen Ideenwelt), nichts sich selbst gleich bleibt, sondern alles gleichsam flüssig ist. Wer sich hier behaupten will, darf nicht stehen bleiben, darf nicht auf seinem Sein insistieren. Vielmehr muss er selber sozusagen eine flüssige Form annehmen, die freilich nicht mit Gestaltlosigkeit verwechselt werden darf. Was zählt, ist die ständige aktive Selbstgestaltung, d. h. die unausgesetzte Formung seiner selbst. Immer wieder muss der Mensch über sich hinausgehen und sich dabei neu schaffen, was selbstredend eine entsprechend große schöpferische Kraft erfordert. Wie gesagt, dem müden Nihilisten geht diese Kraft ab; ein Mangel, der ihn in die Nähe des letzten Menschen rückt, der darum für Zarathustra so verächtlich ist, weil er gar nicht mehr schaffen will. Mit dem Wollen indes erlischt schließlich auch das Können. Wer seine Kraft nicht mehr gebraucht, wird auf kurz oder lang deren Gebrauch verlernen und damit seine Kraft verlieren. In diesem Fall hätte der Nihilismus gesiegt. Der Mensch wäre nicht mehr dazu in der Lage, sich selbst zu gestalten und sich Ziele zu setzen, die ihn über sich selbst hinaustreiben.[18] In Zarathustras Augen ist der letzte Mensch das Letzte im pejorativen Sinne des Wortes. Für sich selbst hingegen ist der letzte Mensch der Letzte im positiven Sinne eines ans Ziel Gekommenen – schließlich hat er das Glück erfunden. Etwas an seinem Status Quo zu verändern, sich selbst zu transzendieren, wäre aus seiner Perspektive schlichtweg unvernünftig, wobei Vernunft für ihn weitestgehend mit Zweckrationalität zusammenfällt. Eine philosophische Vernunft, worunter ich hier den selbsttranszendierenden Blick verstehe, der sich auf sich selbst richtet und auf das jeweilige Selbst, dessen Blick er ist, muss dem letzten Menschen geradezu als unvernünftig erscheinen. Denn der philosophische Blick zwingt den Blickenden zu einer Stellungnahme zu sich selbst. Er nimmt das Selbst in die autoevaluative Verantwortung. Anders ausgedrückt: Er drängt es, über sich selbst zu urteilen. Eine solche Verantwortung will der letzte Mensch jedoch keineswegs auf sich nehmen. Sie könnte seinen sanften Hedonismus als banal, ja sogar als nihilistisch entlarven, insoweit der letzte Mensch das nichtige Banale zum letzten Sinn erhebt. Der banale Nihilismus will sich selbst aber nicht durchschauen, weil er sich das Glück durch den Blick auf seinen geistesarmen Grund nicht vermiesen lassen will. Und tatsächlich gelingt es ihm, sich in seinem Glück zu verbarrikadieren, indem er die selbstkritische Perspektive (die nicht zuletzt Selbst-kritisch ist) des philosophischen Blicks ausblendet. Der letzte Mensch vermeidet also jede Tiefe, die aus der Höhe eines selbstbewertenden Blickes entspringen könnte. Auf diese Weise schlüpft er, so könnte man sagen, glücklich unter sich selbst hindurch, indem das für das Entstehen und Andauern einer Depression zentrale Problem mangelnder Selbstachtung gar nicht erst zu seinem Problem werden kann, weil er nicht genug Selbst ist, um überhaupt ein Problem mit sich selbst zu bekommen. Der letzte Mensch lebt in größtmöglicher Unmittelbarkeit und solange sein Leben der gemütlichen Bedürfnisbefriedigung funktioniert, gibt es keinen Grund, die wohlige Höhle seiner Unmittelbarkeit (es ist ihm warm, er ist satt, er ist gesund) zu verlassen und in die eisigen Regionen der Selbsttranszendenz hinauszutreten. Auf diese Weise entgeht er auch dem selbstzerfleischenden Anspruchsdenken des „spätmodernen Leistungssubjekts“ (Han 2010: 37), das unter der Last zerbricht, den Ansprüchen der Gesellschaft, die es als die eigenen übernimmt und deren Einlösung es als sein eigener Gefängniswärter selber strengstens überwacht, zu genügen.[19]

Zusammengefasst: Der letzte Mensch unterwindet die Depression. Dabei braucht es ihn weder zu kümmern und schon gar nicht zu bekümmern, dass Nietzsche ihm entgegenhalten könnte, er sei doch aber ein Nihilist, wenngleich er sich dessen auch nicht bewusst sei, noch dass Kierkegaard behaupten würde, im Grunde lebe der letzte Mensch in tiefer Verzweiflung, er wisse es nur nicht. Was hat der letzte Mensch mit den Philosophen zu schaffen? Er tut gut daran, sich von ihnen fern zu halten. Denn solange er auf seine eigentümliche Weise glücklich ist, bleibt er, der klammheimliche Nihilist, vom offenen Durchbruch des Nihilismus in Gestalt einer Depression verschont, und solange sein Blick nichts mit dem kritischen philosophischen Blick gemein hat, braucht es ihn auch nicht zu interessieren, wie er selbst im Licht dieses Blicks erscheint.

Bei alledem gilt im Übrigen die Regel: ‚Je abgestumpfter, desto besser‘, denn umso unwahrscheinlicher wird es, dass er sich aus seiner Höhle der Unmittelbarkeit herauslocken lässt, um sich einer Region des Daseins auszusetzen, in der das Glück eher spärlich gesät ist.

III. Lob des dummen Huhnes oder: die rührende Unbesorgtheit der Tiere

Auch wenn sich in unserer gegenwärtigen Gesellschaft Tendenzen in Richtung einer Entwicklung zur Gesellschaft der letzten Menschen ausmachen lassen, als da wären: der das alltägliche Leben in vielerlei Hinsicht erleichternde technische Fortschritt, der gentechnische Progress, der den designten Menschen als Serienprodukt mindestens in Aussicht stellt sowie der unsere Gesellschaft kennzeichnende „materialistische[] Trend zur Mitte“ (Pieper 2001: 150), alledem zum Trotz – noch leben wir nicht in der schönen, weil so schön einfachen Welt der letzten Menschen. Vorerst ist sie eine Utopie oder, je nach Gesichtswinkel, eine Dystopie. An Stelle dessen haben wir es heute mit einer „‚Zivilisation der Veränderung‘“ zu tun, in der es im Gegensatz zu früheren Zeiten „nicht mehr um Gehorsam, Disziplin und Konformität mit der Moral, sondern um Flexibilität, Veränderung, schnelle Reaktion und dergleichen“ geht. Es ist dies „eine instabile, provisorische Welt mit hin und her verlaufenden Strömungen und Bahnen“, in der sich „die Klarheit des sozialen und politischen Spiels“ verloren hat, so dass zumindest der Eindruck entsteht, „dass jeder, auch der Einfachste und Zerbrechlichste, die Aufgabe, alles zu wählen und alles zu entscheiden, auf sich nehmen muss“ (Ehrenberg 2008: 247). Mehr denn je zählt heutzutage die persönliche Initiative, auch und gerade dann, wenn es um das Persönlichste überhaupt geht: die eigene Person. In unserer Gesellschaft wurde das Ideal der Selbstverwirklichung zur Norm erhoben; ein Grundsatz, der erst einmal, was in der Natur der Sache liegt, das Individuum allein mit sich lässt, weil er zwar allgemeine Gültigkeit beansprucht, dabei aber gerade keine konkreten materialen Vorschriften aufstellen darf. Das moderne Individuum ist solcherart zu einem Atlas geworden, dessen Last es selber ist. Auf seinen Schultern trägt es die Bürde, es selbst sein zu müssen. Angesichts dessen versteht sich leicht, wie sich nach und nach ein Kollektivindividualismus entwickeln konnte, der vom Einzelnen verlangt, er solle sich selbst entfalten, dabei aber eine Idealgestalt des selbstverwirklichten Individuums vorgibt. Das Idealbild gibt dem mit sich selbst allein gelassenen, orientierungslosen Einzelnen ein Stück Orientierung zurück, lässt ihn folglich scheinbar doch nicht ganz allein. Gleichzeitig erweckt es jedoch die Erwartungshaltung, dass man diesem Bild auch gerecht werde. Es ist also nicht wohlfeil zu haben, sondern nur um den hohen Preis des Leistungsdrucks, mit dem das Individuum dann doch wieder ganz alleine fertig werden muss.

Seit der Emanzipation von der von Michel Foucault so eindringlich beschriebenen und analysierten Disziplinargesellschaft zählt weniger das Gebotene als das Mögliche, womit einhergeht, dass es nicht so sehr auf die individuelle Verhaltensweise des Gehorsams (gegenüber dem Gebotenen), sondern vorzüglich auf die der Verwirklichung (des Möglichen) ankommt. Für das einzelne Individuum bedeutet dies nicht zuletzt die Pflicht, das Mögliche bzw. alles, was möglich ist, aus sich selbst herauszuholen. Wenn Genazino in seinem Roman Das Glück in glücksfernen Zeiten das Bild vom erschöpften Individuum als dem Goldrand der Leistungsgesellschaft geprägt hat, dann scheint er mir insbesondere auf die heute geforderte Leistung der permanenten persönlichen Initiative, die zudem in der selbstverwirklichten Persönlichkeit gipfeln soll, abzuheben. Das besagte Bild steht am Anfang des Buches. An dessen Ende steht derweil die Depression. Gerhard Warlich landet nach einem irrlichternden Flug durch das Leben in der Psychiatrie, wo er dem behandelnden Arzt zwar terminologisch unorthodox, der Sache nach jedoch durchaus zutreffend erklärt, dass er „an einer verlarvten Depression mit einer akuten Schamproblematik“ (Genazino 2009: 131) leide. Insofern Genazinos Roman exemplarisch zeigt, wie ein Mensch an den für die Moderne spezifischen Forderungen zerbricht und indem er außerdem das Glück des letzten Menschen als geheime Sehnsucht des solcherart zerschellten Individuums berührt, scheint er mir der geeignete Betrachtungsgegenstand zu sein, um meine Überlegungen zum Thema Gesellschaft und Depression abzuschließen.

Nachdem sich Warlich von dem Schock erholt hat, in eine Psychiatrie eingewiesen worden zu sein, beginnt sein Leiden abzuflauen. Allmählich wird ihm die Klinik zu einem Ort der Ruhe und des Friedens, zu einem Refugium, in dem ihm endlich zu gelingen scheint, was er sich insgeheim schon lange gewünscht hatte: die Befreiung von seinem ihn quälenden Ehrgeiz (vgl. Genazino 2009: 133).[20] Es sieht so aus, als käme der verzweifelte Glückssucher dem bisher vergeblich gesuchten Glück ausgerechnet in einer Psychiatrie auf die Spur. Das hängt zwar, wie er selbst überlegt, vermutlich auch mit den Antidepressiva zusammen, die er hier jeden Tag verabreicht bekommt. Der meines Erachtens wesentlichere Grund seines mindestens im Ansatz erfahrenen neuen Glückes liegt aber darin, dass er in der Anstalt endlich von einer besonderen Art Druck befreit wird, der im Zusammenhang mit dem Selbstverwirklichungsgebot eine hervorstechende Rolle spielt. Ich meine jenen Druck, der sich aufbaut, wenn man ein Leben führt, das einem irgendwie fremd vorkommt, das nicht das eigene zu sein scheint. Doch dazu gleich mehr. Jedenfalls beschließt Warlich, so lange in der Klinik zu bleiben, wie nur irgend möglich. In das normale Arbeitsleben will er hingegen überhaupt nicht mehr zurückkehren. Konsequenterweise läuft seine Zukunftsplanung auf die Frühverrentung hinaus, die er als eine „Strategie der Lebenserleichterung“ (Genazino 2009: 149) bezeichnet. Auch das ist konsequent gedacht: Wo zu viel Druck herrscht, muss alles leichter werden, damit es nicht zur Katastrophe kommt.

Wie aber hat es überhaupt so weit kommen können, dass Warlich nicht nur vor seiner eigenen, sondern, wie er während seiner Anstaltszeit erkennt, insbesondere vor der „Fremdkompliziertheit“ (Genazino 2009: 156) der Welt (deren Austragungsort freilich das in der Welt stehende Individuum ist) kapitulieren musste? Von außen betrachtet scheint sein Leben nämlich durchaus im Lot zu sein. Der 41-jährige lebt in geordneten Verhältnissen: Er ist seit Jahren in einer Beziehung und muss sich als Geschäftsführer einer Großwäscherei auch keine Sorgen um seinen Lebensunterhalt machen. Soweit scheint also alles in bester Ordnung. Hinzu kommt noch, dass ihn sein Beruf nicht besonders fordert, so dass Warlich genügend Zeit auch während der Arbeitszeit bleibt, um seinen Gedanken nachzuhängen, der liebsten Beschäftigung des promovierten Philosophen. Und dennoch würde er am liebsten nur halbtags leben; bereits mittags ist er nämlich erschöpft: „Wenn ich könnte, würde ich das Projekt ‚Halbtagsleben‘ erfinden. Jeder Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der ersten zu erholen.“ (Genazino 2009: 55) Diese Erschöpfung, für die es eigentlich keinen Anlass zu geben scheint, ist freilich ein klares Symptom einer heraufziehenden Gemütsverfinsterung; eine Depression befindet sich im Anmarsch. Sie rührt, wie ich meine, daher, dass ausgerechnet ein Heidegger-Spezialist es nie zur ‚Eigentlichkeit‘ gebracht hat. Im Falle Warlichs synkretisieren sich gängige Selbstverwirklichungsvorstellung mit philosophischen, in erster Linie mit der von Heidegger ausgelobten Seinsweise der Eigentlichkeit, worunter sich – vereinfacht gesagt – die entschlossene Selbstwahl des Daseins verstehen lässt. Nachdem er aber keine Anstellung als Philosoph gefunden hat, sondern zunächst nur eine als Wäschereifahrer, war er schon zu Beginn seiner beruflichen Karriere unter dem Gesichtspunkt der Selbstverwirklichung beziehungsweise der Eigentlichkeit gescheitert. So wird ihm „die Sache mit dem scheiternden Beruf eine Art biographisches Senkbeil, was ein tiefes Zerwürfnis mit seinem eigenen Lebensentwurf hervorbringt“ (Genazino 2011: 253). Auch der schnelle Aufstieg vom Fahrer zum Geschäftsführer ändert nichts am grundlegenden Scheitern, wenn er es auch lange Zeit erträglicher macht. Als Warlich schließlich entlassen wird, weil man ihn beim Ausruhen während der Arbeitszeit ertappt hat, läuft das Fass über. Seine Entlassung ist ein Scheitern nun auch noch in zweiter Instanz, ein Scheitern innerhalb eines Scheiterns. Sie macht den verhinderten Philosophen zu einer tragikomischen Figur, die es fertig bringt, auch auf einem Holzweg noch auf Abwege zu geraten.

Auch Warlichs Lebensgefährtin Traudel lebt ein Leben im Zeichen der Selbstverwirklichung. Sie ist privat und beruflich durchaus zufrieden, will ihr Glück neuerdings aber durch das Mutterglück noch maximieren. Traudels Kinderwunsch macht ihrem Partner unterdessen schwer zu schaffen, weil er eigentlich kein Kind will, nur weiß er, der sich keine Illusionen mehr über sein mangelhaftes Eigentlichkeitsvermögen macht, gleich, dass er sich wieder einmal nicht durchsetzen wird. So sieht er also seine Felle auf allen Ebenen davon schwimmen.

Was Traudel der Wirklichkeit gegenüber widerstandsfähiger als ihren Partner macht, ist, dass ihre Selbstverwirklichung sich in den durch den Kollektivindividualismus gesteckten Bahnen bewegt. Ihr Lebensgefährte fühlt hingegen „einen Widerstand gegen das, was alle tun“ (Genazino 2009: 93).[21] Er weiß, dass eine allgemeine Eigentlichkeit, wie sie durch das Selbstverwirklichungsräderwerk hervorgebracht wird, ein Widerspruch ist, ein Lebensform gewordener Unsinn im Grunde.

Die steigende Zahl mehr oder weniger depressiver Menschen indiziert, wie leicht es ist, vor dem Selbstverwirklichungsgebot nicht zu bestehen. Dies trifft schon auf die uneigentliche Selbstverwirklichung nach zugeschnittenem Muster zu. Noch leichter geht aber zu Grunde, wer, wie Warlich, in einer Welt des Kollektivindividualismus von einer wahrhaft individuellen Selbstverwirklichung[22] träumt. Das Andersseinwollen gefährdet zumal die geistige Gesundheit. Dieser Satz gilt in der gegenwärtigen Welt genauso wie in der imaginierten Welt der letzten Menschen: „Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich, wer anders fühlt, geht freiwillig in’s Irrenhaus“ (Nietzsche, 1988a: 20) – so Zarathustra. Zwar ist Warlich nicht freiwillig in die Psychiatrie gegangen, sondern es ist Traudel, die ihn, nachdem er einen Zusammenbruch erlitten hat, dorthin gebracht hat. Aber es ist ausgerechnet das ‚Irrenhaus‘ der Ort, an dem ihm das Geheimnis des Glücks des letzten Menschen aufgeht. Es ist die Unmittelbarkeit des letzten Menschen, die seine Lebensweise derjenigen der Tiere ähnlich macht und die ihm infolgedessen eine Art tierisches Glück gewährt. In gewisser Weise kann man die Tiere nämlich tatsächlich als glücklich preisen. Ihre Unmittelbarkeit, ihr Verschontsein vom Selbst-kritischen Blick, öffnet ihnen die Tür zum Glück. Warlich hat das erkannt: „Die Unbesorgtheit der Tiere rührt mich“ (Genazino 2009: 135), bekennt er, während er einen Tierfilm guckt. Dagegen ist, wie Warlichs philosophischer Held Heidegger betont, die Sorge das Sein des von ihm Dasein genannten Menschen, dem es in seinem Sein um sein Sein geht (vgl. Heidegger 2006: 191). Dass der Mensch um sein Selbstsein wesenhaft besorgt ist, bringt mit sich, dass er es während seines Lebens dauernd mit Sorgen zu tun hat.[23] Die Depression ist solcherart als fortwährende Möglichkeit des Daseins ein Teil der menschlichen Conditio. Für Warlich ist, wie für so viele andere auch, aus dieser Möglichkeit eine traurige Wirklichkeit geworden. – Ich wiederhole also meine Ausgangsfrage: Haben Nietzsches Marktplatzbesucher in Anbetracht dieser durch die Entwicklung unserer Gesellschaft immer wahrscheinlichere Transformation einer prekären Möglichkeit in leidende Wirklichkeit nicht vielleicht recht, wenn sie sich den letzten Menschen bzw. sich als letzte Menschen wünschen, wenn sie also statt unter einer schmerzenden Form des Nihilismus zu leiden, lieber in einer mild-betäubenden Nihilismusvariante sanft schwelgen mögen? –

Auf der letzten Seite des Romans wird Warlich von einer „Art Glück durchzittert“. Er erfährt diesen wonnevollen Schauder bei der Beobachtung eines Huhnes, das ihm während seiner zur Routine seines Anstaltslebens gehörenden Spaziergänge schon des Öfteren begegnet ist und das „offenbar kein Bedürfnis [hat], durch die stets offene Hofeinfahrt zu entkommen“ (Genazino 2009: 158). Dieses Tier, von dem man umgangssprachlich-abschätzig auch als dem ‚dummen‘ Huhn spricht, dieses Wesen, das Flügel hat, die zum Fliegen doch nicht taugen, wird für Warlich zum Sinnbild des glücklichen Lebens. Es sind die Flügel der Selbsttranszendenz, die den Menschen zu Irrflügen verleiten. Warum also nicht diese unglückseligen Flügel stutzen? Warum nicht letzter Mensch werden?

Literaturverzeichnis

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Dr. Eike Brock ist Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.


[1] Der Rätselhaftigkeit des Ausdrucks entspricht bei Zarathustra die Hintergründigkeit seines Denkens, das auch vor Abgründen nicht haltmacht.
[2] Nietzsche hat freilich seine ganz eigene Vorstellung von Gesundheit, nämlich eine dialektische. Er versteht Gesundheit nicht als Abwesenheit von Krankheit, sondern als die bewiesene Fähigkeit, Krankheit zu überwinden.
[3] Diesen treffenden Vergleich zieht (auch mit Blick auf Sören Kierkegaard) Karl Jaspers (vgl. Jaspers 1951: 309).
[4] Angestoßen ist diese Entwicklung durch das „Aufkommen moderner, nebenwirkungsarmer Antidepressiva, den SSRI [Selective Serotonin Reuptake Inhabitors; E. B.]“, wodurch „sich die therapeutischen Möglichkeiten aus[weiten]“: Antidepressiva „können jetzt auch bei Dysfunktionen ohne Krankheitswert eingesetzt werden“. Dies hat natürlich Konsequenzen: „Damit löst sich die Abgrenzung zwischen therapeutischen Zielen, die einen Bezug zur pathologischen Norm implizieren und Leistungszielen, die den Bezug zu einer instrumentellen Norm beinhalten auf.“ (Ehrenberg 2006: 136) Wenn ich oben von Menschen, die im Alltag funktionieren, gesprochen habe, es nun aber heißt, die Antidepressiva ließen sich auch bei „Dysfunktionen ohne Krankheitswert“ einsetzen, besteht dann nicht ein Widerspruch? Immerhin ist doch einerseits die Rede von bestehender Funktion und andererseits von Dysfunktion. Der springende Punkt ist indes, dass die Dysfunktion, um die es hier geht, nicht pathologisch ist. Der Funktionsmangel bezieht sich vielmehr auf eine bestimmte Norm, die derart übersteigert ist, dass man mitunter biochemisch ‚nachhelfen‘ muss, um ihr überhaupt entsprechen zu können (oder auch, um dafür zu sorgen, nicht unter der Nichterfüllung ihre maßlosen Ansprüche zu zerbrechen). Nicht die Person, sondern die Norm hat in diesem Fall den Stempel ‚pathologisch‘ verdient. Freilich, die Lebensbereiche, die unter der Ägide besagter Norm stehen, funktionieren nicht mehr so reibungslos. Darum auch nur wird die Person ja überhaupt auf die Idee kommen, ärztlichen Rat zu suchen und ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Zwar ist denkbar, dass das Pathologische der Norm soweit auf den sich an ihr ausrichtenden Menschen zurückstrahlt, dass es gewissermaßen Einzug in dessen seelischen Haushalt hält und diesen fortan bestimmt. Jedoch wird man dann nicht mehr von „Dysfunktionen ohne Krankheitswert“ sprechen können.
[5] „Moderne Antidepressiva sind dazu in der Lage, nicht nur eindeutig depressive Menschen von ihrer Erkrankung zu heilen oder diese zumindest zu lindern. Sie werden vielfach auch in leichteren Fällen eingesetzt, in denen eine Medikation auf den ersten Blick nicht notwendig erscheint. Ihre Wirkung besteht dann in einem gesteigerten Glücksempfinden und oftmals in einer veränderten Persönlichkeit“ (Runkel 2010: 265). Mit Sören Kierkegaard könnte man an dieser Stelle aber festhalten, dass sich gerade in der Bereitschaft, eine Persönlichkeitsänderung einzukaufen, die Erkrankung ausspricht. Denn der Wunsch (hier die Bereitschaft, hinter der sich wiederum der Wunsch verbergen könnte), nicht man selbst, sondern irgendwie anders, womöglich gar ein ganz anderer zu sein, ist für ihn der Kern der Verzweiflung (vgl. Kierkegaard 1985: 8). Bemerkenswert scheint mir endlich Alain Ehrenbergs Kommentierung des Problems der Persönlichkeitsveränderung durch Medikamente: „Die Persönlichkeit von echten Kranken zu verändern, bedeutet sie zu heilen. Die von Menschen zu verändern, bei denen man am Bestehen einer Krankheit zweifelt, heißt sie unter Drogen zu setzen, auch wenn die Droge ungefährlich ist“ (Ehrenberg 2004: 263). Dass Psychiater zum Teil sehr schnell, d. h. auch bei leichten depressiven Zuständen, dazu bereit sind, Antidepressiva zu applizieren, hat indessen (wenigstens) einen guten Grund: das Selbstmordrisiko depressiver Patienten (vgl. ebd.: 34). Zum Themenfeld ‚Depression-Behandlung-Persönlichkeitsveränderung‘ gehört außerdem, dies sei sowohl der Vollständigkeit halber als auch aus Gründen der Brisanz erwähnt, die aktuell diskutierte Möglichkeit neurochirurgischer Eingriffe zur Therapie von therapierefräkterer, aber auch schon leichter Depressionen. Auch und gerade bei derart hochinvasiven Eingriffen ist mit Persönlichkeitsveränderungen zu rechnen. Vgl. Müller 2010: 18-32, v. a. 19.
[6]  Lieb / Frauenknecht / Brunnenhuber  2012: 149 f., stellen – über Deutschland sprechend – fest, dass in den letzten Jahrzehnten vor allem die Häufigkeit leichter Depressionen ständig zugenommen habe, was sie insonderheit durch „veränderte[] Lebensbedingungen [im Orig. hervorgehoben; E. B.]“ (in der Spätmoderne) erklären, aber auch durch eine – und darauf kommt es mir an dieser Stelle an – „zunehmend geringere Bereitschaft, psychisches Unwohlsein zu ertragen“.
[7] In Umberto Ecos Roman Baudolino findet sich eine Episode (Kapitel 8: Baudolino im irdischen Paradies), die beispielhaft zeigt, wie weit der subjektive Blick und das damit verbundene Glücksgefühl und die objektive Situation, die eigentlich ein äußerstes Unglück ist, auseinanderliegen können, wenn blick.- bzw. bewusstseinsverändernde Substanzen im Spiel sind. Ein Sarazenenherrscher versorgt seine Gefangenen, die in Wirklichkeit in einem kahlen Hof in Ketten liegen, regelmäßig mit grünem Honig, der sie halluzinieren lässt. Unter dem Einfluss des Honigs wähnen sich die Gefangenen im Paradies. Von Zeit zu Zeit versagt der Sarazene seinen Gefangenen den Verzehr des Honigs. Aufgrund des Absturzes aus gewaltiger Fallhöhe (aus den Höhen des Paradieses in die Tiefen des Kerkers), den die Gefangenen dann erleiden, sind sie bereit, ihrem Peiniger jeden Wunsch zu erfüllen, wenn er sie nur wieder zurück in den paradiesischen Garten führe. Der Sarazene nutzt die Verzweiflung seiner Gefangenen schamlos aus, indem er sie zu Meuchelmördern macht (vgl. Eco 2001: 103-119).
[8] Ich sage: mittlerweile, denn entdeckt wurden Antidepressiva nicht auf solche gezielte Art und Weise: „Tatsächlich wurden die ersten ‚Antidepressiva‘ ausgehend von Nebenwirkungen konstruiert: in einem Fall war man auf der Suche nach Antihistaminika, in einem anderen nach einem Mittel gegen Tuberkulose. So fand man Iproniazid und Imipramin“ (Ingenkamp 2012: 23).
[9] Nietzsches Perspektivismus, der auch den düstersten Dingen noch eine helle Seite abzugewinnen weiß, scheint mir im Grunde vor allem ein philosophisches Welt- und Selbstverschönerungsprogramm zu sein. Anlässlich des Jahreswechsels 1881/82 nimmt Nietzsche sich vor, durch seine Philosophie „[ei]ner von Denen [zu] sein, welche die Dinge schön machen“ (Nietzsche 1988b: 521). Dieser Jahresvorsatz: ‚die Dinge schön zu machen‘, taugt meines Erachtens durchaus als Motto des Perspektivismus. Sind die Dinge erst schön geworden, so ist auch der Nihilismus, der die Schönheit der Dinge nicht erfasst und ihnen infolgedessen ihr Seinsollen abspricht, in Bann geschlagen.
[10]  Annemarie Pieper deutet das Blinzeln wie folgt: „Diese Geste des Blinzeln sagt alles über die Lebenseinstellung des letzten Menschen. Zum einen blinzelt er vor Behagen und drückt damit sein Verständnis von Glück aus. Zum anderen weist das ständige Blinzeln daraufhin, daß der letzte Mensch es gar nicht mehr schafft, die Augen richtig zu öffnen. Es ist ihm zu beschwerlich, die Welt offenen Auges wahrzunehmen. Er verträgt das Licht nicht mehr, vor dem er seine Augen schützen muß, wenn er nicht geblendet werden will. Im Schutz der Wimpern erzeugt er eben jenes Hell-Dunkel, das für seine gesamte Lebensform charakteristisch ist. Der letzte Mensch erträgt das Geistige nur noch in abgeblendeter Form“ (Pieper 2010: 71f.).
[11] Vgl. https://www.who.int/mental_health/management/depression/definition/en/index.html.
[12] Eine einheitliche Definition der gleichwohl als psychische Krankheit anerkannten Depression gibt es nicht. Dieser Mangel ergibt sich ausgerechnet aus der Fülle des durch den Begriff ‚Depression‘ abgedeckten Phänomens. Der Begriff bezieht sich nämlich auf eine mannigfaltige Symptomatik. Entsprechend diagnostiziert man bei einer Person dann eine Depression (bzw. eine bestimmte Art von Depression), wenn sich mehrere dieser Symptome auffinden lassen und diese zudem für eine gewisse Zeit andauern (in der Regel mindestens zwei Wochen) bzw. sich gar nicht, jedenfalls nicht ohne fremde Hilfe, auflösen (vgl.  Summer 2008: 15-21; Payk 2010, 45, sowie die Ausführungen der World Health Organisation (WHO) im sogenannten ICD 10 (10. Ausgabe der International Classification of Diseases): https://www.who.int/classifications/icd/en/bluebook.pdf, v. a. F 3, 4, 32, 33. Dass die depressiven Störungen im Manual der WHO vornehmlich zur Kategorie der affektiven Störungen gerechnet werden und seltener zu den neurotischen Störungen, ist nicht unumstritten und hängt offenbar mit der gegenwärtigen Deutungshoheit der biologischen gegenüber der dynamisch orientierten Psychiatrie zusammen. Vgl. Will / Grabenstedt / Völkl / Banck 2008, 57f.)
[13] Das Faktum, dass „gerade in ökonomisch entwickelten Staaten wie denen der Europäischen Union, Japan und den USA“ die Häufigkeit der Depression besonders hoch ist und noch zunimmt, verweist „offenbar darauf, dass gesellschaftliche Faktoren bei der Entstehung [seelischer Krankheiten; E. B.] eine wichtige Rolle spielen“ (Summer 2008: 14).
[14] Ehrenberg 2008: 14f., konstatiert entsprechend: „Die Depression ist eine Krankheit, die sich außerordentlich gut für das Verständnis der zeitgenössischen Individualität eignet, das heißt der neuen Dilemmata, in denen sie steckt. (…) Die Karriere der Depression beginnt in dem Augenblick, in dem das disziplinarische Modell der Verhaltenssteuerung, das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies, zugunsten einer Norm aufgegeben wird, die jeden zur persönlichen Initiative auffordert: ihn dazu verpflichtet, er selbst zu werden.“ Byung-Chul Han kritisiert Ehrenberg dahin gehend, dass dieser den in unserer Gesellschaft herrschenden Leistungsdruck als eigentlichen Grund der Depression nicht erkenne. In Wirklichkeit sei die Depression nicht die typische Krankheit eines Selbst, sondern die eines Leistungssubjekts: „Sie bricht in dem Moment aus, in dem das Leistungssubjekt nicht mehr können kann. Sie ist zunächst eine Schaffens- und Könnensmüdigkeit. Die Klage des depressiven Individuums, Nichts ist möglich, ist nur in einer Gesellschaft möglich, die glaubt, Nichts ist unmöglich. Nicht-mehr-Können-Können führt zu einem destruktiven Selbstvorwurf und zur Autoaggression“ (Han 2010: 21f.).
[15] Zum Leiden des Menschen unter der für den modernen Kapitalismus charakteristischen Forderung der Flexibilität (man könnte aufgrund der wesentlichen Bedeutung der Flexibilität für den rezenten Kapitalismus gar von ‚flexiblem Kapitalismus‘ sprechen) vgl. Senett 2010. Senett geht in seiner mittlerweile beinahe schonzum modernen Klassiker avancierten Studie Der fexible Mensch nicht allein davon aus, dass die Menschen unter dem Flexibilitätszwang des modernen Kapitalismus, dessen Kardinalimperativ lautet: „nichts Langfristiges“ (Senett 2010: 25), leiden, sondern dass das Flexibiltätsgebot grundsätzlich den Charakter verdirbt (vgl. den Originaltitel des Werkes: The Corrison of Charakter), insofern es „ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung“ (ebd.: 28) darstellt.
[16] Nicht unterschlagen werden soll der Gedanke, dass die Beschwörung und das Lauern durchaus miteinander verknüpft sein könnten, nämlich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Auch dass Ärzte und Psychologen heutzutage gewissermaßen depressionshypersensibilisiert mit entsprechenden Diagnosen teilweise allzu schnell zur Hand (und mit der Hand wiederum am Rezeptblock) sind, soll nicht ausgeschlossen werden.
[17] Das Beherrschtwerden vom Gedanken des großen Umsonst schließt natürlich eine weniger passivische Reaktion auf den Gedanken als die hier geschilderte nicht aus. Der von Nietzsche sogenannte ‚aktive Nihilist‘ z. B. glaubt ebenfalls nicht mehr an einen höheren Sinn seines Tuns. Er geht mit dieser Überzeugung indessen anders um als der hier vorgestellte müde Nihilist, und zwar mehr oder weniger aggressiv, bis hin zur offenen Gewalt. Während für den müden Nihilisten (den man, um eine Typologie des Nihilismus bemüht, als eine Unterart des von Nietzsche beschworenen ‚passiven Nihilisten‘ begreifen könnte) die (Lebens)Müdigkeit charakteristisch ist, kennzeichnet den aktiven Nihilisten eine Art überspannte Wachheit, die leicht in Zerstörungswut umschlägt. Vgl. zu den verschiedenen Formen des Nihilismus bei Nietzsche vom Verf. 2014 Kapitel VII (Typologie des Nihilismus).
[18] Deswegen auch warnt Zarathustra seine Zuhörer vor einer Zeit, in der das Chaos (die Schaffenskraft) im Menschen erloschen sein wird: „Ich sage euch: man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Ich sage euch: ihr habt noch Chaos in euch. / Wehe! Es kommt die Zeit, wo der Mensch keinen Stern mehr gebären wird. Wehe! Es kommt die Zeit des verächtlichsten Menschen, der sich selber nicht mehr verachten kann“ (Nietzsche 1988a: 19).
[19] Tatsächlich glaubt Han, dass das Subjekt der Leistungsgesellschaft sich den Leistungsimperativ zu eigen macht und sich infolgedessen, verblendet durch den Anschein von Freiheit, selbst ausbeutet: „Im Gegensatz zum Gehorsamssubjekt ist das Leistungssubjekt frei, denn es ist niemandem unterworfen. Nicht das Sollen, sondern das Können bestimmt seine psychische Verfassung. Es hat der Herr seiner selbst zu sein. (…) Der Imperativ der Leistung lässt die Freiheit in einen Zwang umschlagen. An die Stelle der Fremdausbeutung tritt die Selbstausbeutung. Das Leistungssubjekt beutet sich selbst aus, bis es ganz zusammenbricht. (…) Der Ausbeutende ist der Ausgebeutete. Der Täter ist gleichzeitig das Opfer. (…) Paradoxerweise heißt das neue Gefängnis Freiheit. Es gleicht einem Arbeitslager, wo man Aufseher und Gefangener zugleich ist“ (Han 2011: 115f.).
[20] Warlichs Ehrgeiz ist in erster Linie intellektueller Natur. Er meint immer alles begreifen und durchschauen zu müssen, vor allem sich selbst. Von hier aus versteht sich seine mehrfach geäußerte Sehnsucht, vom Denken befreit zu sein.
[21] Aus diesem Satz spricht einmal mehr Heidegger, denn offenbar regt sich in Warlich ein Widerwille gegen das berühmte ‚Man‘ (vgl. Heidegger 2006: 114-130), der alltäglichen Seinsweise des Daseins, in der es sozusagen bloß mit dem Strom mitschwimmt und sich dadurch (indem es ruhigen Gewissens tut, was ‚man‘ tut) der Last enthebt, seine Verhaltensweisen zu hinterfragen und das eigene Leben als eigenes bewusst zu übernehmen. „Das Selbst des alltäglichen Daseins ist das Man-selbst, das wir von dem eigentlichen das heißt eigens ergriffenen Selbst unterscheiden.“ (Heidegger 2006: 129)
[22] Ein entsprechendes Verständnis von Selbstverwirklichung findet sich bei Rahel Jaeggi, die Selbstverwirklichung als „das Vermögen (…) sich selbstbestimmt eine Wirklichkeit in der Welt geben zu können“ (Jaeggi 2005: 237) definiert.
[23] Es wäre allerdings die Sorge als Existenzial missverstanden, interpretierte man sie einseitig als ein Sich-Sorgen-Machen. Sorge meint in Sein und Zeit erst einmal nicht Sorgenhaben, sondern ein grundlegenderes und umfassenderes Besorgen, das den großen Phänomenbereich des Wünschens, Wollens, des Drangs und Hangs umschließt. Daraus folgt allerdings nicht, dass mit der Sorge als Seinsmodus des Daseins das Sorgenmachen nicht wesentlich verbunden wäre. Natürlich macht sich ein Wesen, das in einem reflexiven Verhältnis zu sich selbst steht und sein Dasein (notgedrungen) als einen Entwurf behandelt, immer auch Sorgen. Würde es das nicht tun, könnte man aufgrund des Entwurfcharakters des Daseins sogar von fahrlässiger Sorglosigkeit sprechen. Insgesamt muss festgehalten werden, dass die Sorge viel mehr umfasst als das Sich-Sorgenmachen. Generell gilt: „Der Ausdruck ‚Sorge‘ meint ein existenzial-ontologisches Grundphänomen, das gleichwohl in seiner Struktur nicht einfach ist.“ (Heidegger 2006: 196) Gleichsam ausgefaltet bedeutet Sorge „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt-) als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seienden)“ (Heidegger 2006: 192), woraus sich leicht erschließen lässt, „daß auch dieses Phänomen in sich noch struktural gegliedert ist“ (Heidegger 2006: 196).
(c) Eike Brock
Eine pdf-Version dieses Beitrags finden Sie hier: Brock, Her mit dem letzten Menschen 2013
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