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InDebate: Kann Beihilfe zum Suizid moralisch gerechtfertigt sein? Wie wäre sie rechtlich zu regeln?

Veröffentlicht am 1. September 2014

Kruip-02

Gerhard Kruip

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Nikolaus Schneider, der wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau für November 2014 seinen Rückzug von diesem Amt angekündigt hatte, sagte kürzlich in einem Stern-Interview, er würde seiner krebskranken Frau auch beistehen, wenn sie sich entscheiden würde, sich das Leben zu nehmen, um einen langen Leidensweg vor dem Tod zu vermeiden. Diese Äußerungen fallen in eine Zeit, in der aktuell intensiv über die Frage diskutiert wird, ob und wie in Deutschland der assistierte Suizid rechtlich neu zu regeln wäre, insbesondere hinsichtlich „organisierter“ Beihilfe zum Suizid. Bisher ist in Deutschland die Beihilfe zum Suizid selbst im Gegensatz zur Tötung auf Verlangen nicht strafbar, jedoch ist die Unterlassung von Rettungsmaßnahmen, um den Eintritt des Todes bei einer Person zu verhindern, die versucht hat, sich zu töten, auf Grund der Garantenpflicht etwa von Ärzten oder engen Angehörigen oder wegen unterlassener Hilfeleistung sehr wohl strafbar. Das führt zu der paradoxen Situation, dass Herr Schneider seiner Frau zwar ein zum Tod führendes Medikament besorgen und das Glas Wasser reichen dürfte, mit dem sie dann diese Tabletten schluckt, dass er aber sofort danach den Notarzt rufen müsste. Möglicherweise könnte sich Frau Schneider durch eine entsprechend eindeutig formulierte Patientenverfügung gegen ärztliche Maßnahmen schützen. Allerdings bewegt man sich hier noch in einem relativ rechtsunsicheren Raum.

Das Ehepaar Schneider hat in der deutschen Öffentlichkeit zwar manchen Widerspruch, von allen aber Respektbekundungen für ihre Äußerungen erhalten. Es ist sicherlich sehr verständlich, dass Menschen, bei denen eine schwere, unheilbare Erkrankung festgestellt wurde, die mit großen Schmerzen und großem Leid verbunden sein würde, darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen. Und es ist auch verständlich, wenn enge Angehörige, Ehepartner, Kinder oder Eltern aus Liebe einen solchen Wunsch selbst dann respektieren, wenn sie ihn selbst niemals hätten oder er ihren moralischen Überzeugungen widerspräche. Aber wie ist die Sache moralisch zu beurteilen?

Seit Kant gibt es einen relativ breiten Konsens, dass die Würde des Menschen und seine Autonomie untrennbar zusammengehören. Kant hat die Selbsttötung vor allem mit dem Argument abgelehnt, dass dadurch der Autonomie die Grundlage entzogen würde, weshalb man sich zur Rechtfertigung einer solchen Handlung nicht zugleich auf sie berufen könne. Andere betonen, dass die Autonomie des Menschen sehr wohl auch die reflektierte Gewissensentscheidung umfassen müsste, das eigene Leben zu beenden. So hat beispielsweise das Schweizer Bundesgericht (am 3.11.2006) geurteilt, dass zum Menschenrecht auf freie Selbstbestimmung auch gehöre, über Art und Zeitpunkt der Beendigung des eigenen Lebens entscheiden zu können. Ich bin mir unsicher, ob ich es für richtig hielte, ein solches Recht für mich persönlich in Anspruch zu nehmen und mein Leben selbst zu beenden. Dabei schwingt der Verdacht mit, dass es bei solch schwierigen Fragen einen großen Unterschied machen könnte, ob man sich mit ihnen theoretisch befasst, oder ob man wirklich in der schwierigen Entscheidungssituation selbst steckt. In jedem Fall aber hielte ich es für einen Widerspruch zur Menschenwürde, wenn ich eine bewusst getroffene und freie Gewissensentscheidung eines anderen, der zu dem Entschluss gekommen ist, sich selbst zu töten, nicht respektieren würde. Anders gesagt: Selbst wenn ich mir unsicher bin, ob es moralisch richtig sein kann, sich selbst zu töten, bin ich mir sicher, dass es nicht richtig sein kann, eine solche Entscheidung eines anderen zur Selbsttötung, sofern sie bewusst und frei getroffen worden ist, nicht zu respektieren.

In einem (christlich-)religiösen Kontext wird oft so argumentiert, dass man das Leben als ein Geschenk Gottes nicht einfach zurückgeben und selbst beenden dürfe. Doch ist mehr als fraglich, ob man ein Leben, das in den letzten Wochen oder Monaten ohne Aussicht auf Besserung nur mit Qualen verbunden ist, überhaupt noch als Geschenk Gottes auffassen kann und darf. Was wäre das für ein Gott, der für ein solches Geschenk verantwortlich wäre? Damit ist natürlich der gesamte und letztlich unlösbare Komplex der Theodizeeproblematik aufgerufen. Demgegenüber wird man argumentieren können, dass Gott dem Menschen eben auch die Fähigkeit gegeben hat, vernünftig über sich zu bestimmen, Güterabwägungen vorzunehmen, Gewissensentscheidungen zu treffen. Sollte Gott selbst nicht auch eine solche Gewissensentscheidung eines Menschen respektieren können?

Moralisch betrachtet, nicht einmal theologisch betrachtet, ist die Sache also nicht so ganz eindeutig. Dieser Befund muss dann allerdings auch Auswirkungen auf die rechtliche Regelung haben. Sicherlich muss verhindert werden, dass Menschen von Angehörigen, die die Last der Pflege loswerden und vielleicht auch an ein Erbe kommen wollen, in den Suizid getrieben werden. Auch darf es im Gesundheitssystem keine ökonomischen Anreize geben, die den Suizid nahelegen, vielmehr muss alles getan werden, um die palliativmedizinische Versorgung zu verbessern. Schließlich darf es nicht dazu kommen, dass Menschen aus der Not schwerkranker Menschen, die sich für einen Suizid entscheiden, ein lukratives Geschäft machen. Auf der anderen Seite dürfen aber auch rechtliche Regelungen diejenigen Menschen, die ihr Leben beenden wollen, und diejenigen, die sich als deren Vertrauenspersonen (ob Angehörige, Ärzte oder Freunde) verpflichtet fühlen, ihnen dabei beizustehen, nicht kriminalisieren. Und in den Fällen, in denen Menschen nicht ohne weiteres solche Vertrauenspersonen finden, ist zu fragen, ob es für sie nicht entsprechende Anlaufstellen geben sollte – wobei sich dann sofort auch die Frage von deren Finanzierung stellt.

Ohne eine konkrete Lösung vor Augen zu haben, plädiere ich sehr dafür, dass wir in der öffentlichen Debatte über dieses Thema ein Höchstmaß an Differenzierung und Sorgfalt in der Argumentation anstreben und jede Polemik und Diskreditierung des Argumentationsgegners vermeiden, um so zu einer rechtlichen Regelung zu kommen, die auch den schmerzlichen und bedrängenden Grauzonen des menschlichen Lebens noch gerecht werden kann. Das legt meines Erachtens eine liberalere Regelung nahe. Das Beispiel der Länder, die solch liberalere Regelungen haben, lässt bislang auch nicht vermuten, dass es dadurch zu einem unaufhaltsamen Dammbruch kommen müsste. Jedenfalls kann auch moralischer Rigorismus unmenschlich werden und die Würde des Menschen verletzen.

(c) Gerhard Kruip

Univ. Prof. Dr. theol. Gerhard Kruip, geboren 1957, war von 2000-2009 Direktor des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover und ist seit 2006 Professor für Christliche Anthropologie und Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

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3 Kommentare

  1. Die Schneiders befinden sich in einer höchst persönlichen, privaten, intimen Situation. Insofern ist es schwierig, eine – wenn auch öffentliche – Äußerung für ein belastbares Statement zu nehmen. Und damit kann es natürlich nicht nur ein „Verdacht“ sein, dass es einen Unterschied macht, ob man theoretisch über die Frage von Suizid und Beihilfe zum Suizid reflektiert, oder ob man praktisch in einer Entscheidungssituation steht. Die Unterscheidung von theoretischer Reflexion und lebenspraktischer Verstricktheit halte ich für zentral.
    Die Entscheidungssituation lässt sich beschreiben: sie ist vermutlich komplex, sie ist ausweglos, sie lässt keine richtigen Lösungen zu. Damit ist auch zugleich klar, dass es eine Grenze normativer Ethik gibt. Sie findet sich an der verzweifelten lebenspraktischen Lage von Menschen, die wissen, dass sie eine furchtbare Entscheidung treffen müssen, und dass auch eine Nicht-Entscheidung eine furchtbare Option ist.
    Hier wird der Mensch schuldig, nicht, weil er das Falsche wählt, sondern weil er nicht das richtige wählen kann. Nein, nein, dies rettet ihn in moralischer Hinsicht nicht! Das Schuldempfinden stellt sich ja unabhängig von ethischer Reflexion ein. Zwar hat er sich nichts vorzuwerfen, aber er wird doch schmerzlich schuldig.
    Möglicherweise muss man die lebenspraktische Grenze der rational begründbaren ethischen Urteile anerkennen, ohne damit ein Rückzugsgebiet für Relativismus zu reklamieren. Die in einer solchen verzweifelten Notlage getroffene Entscheidung ist nicht relativ, sie ist nur nicht verallgemeinerbar. Sie beansprucht Geltung, aber nur in diesem Fall. Dabei beruft sie sich nicht auf ethische Urteilskraft, sondern sie beruft sich gar nicht. Vielleicht ist dies auch eine Grenze der Philosophie, weil es sich hier um eine existenzielle Grenze des Menschen handelt. Die Fragen, die zu stellen wären, ohne dass man frohgemut auf Beantwortung hoffen könnte, wären möglicherweise religiöse Fragen. Ins Schweigen hinein.

    • Vielleicht hilft hier ja die Erkenntnis Theodor W. Adornos weiter: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“

    • Ich finde, dass Herr Wächter die Entscheidungsssituation in moralischer Hinsicht sehr gut beschrieben hat. Es ist eine Dilemma-Situation, in der es keine, für alle gleichermaßen gültige Lösung gibt. Trotzdem brauchen wir für alle gültige rechtliche Regelungen, auch für solche Entscheidungssituationen. Und da habe ich dafür plädiert, eine solche Regelung in rechtlicher Hinsicht zu wählen, die Freiraum lässt für solch schwierige Gewissensentscheidungen, ohne Menschen darin allein zu lassen oder gar zu kriminalisieren.
      Für die rechtliche Regelung scheint mir die Frage eines drohenden Dammbruchs die entscheidende zu sein. Es darf selbstverstädnlich nicht so weit kommen, dass Menschen sich zum Suizid gedrängt fühlen. In Belgien, wo relativ liberale Regelungen bestehen, scheint es bisher einen solchen Dammbruch aber eher nicht zu geben – jedenfalls sagen das Wissenschaftler der Katholischen Universität Leuven.
      Für uns in Deutschland finde ich den Gesetzesvorschlag von Borasio u. a.: Selbstbestimmung im Sterben – Fürsorge zum Leben, Stuttgart 2014, interessant und weiterführend.

Beitragsthemen: Ethik | Medizin | Moral

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