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InDebate: Lob der Fraktionsdisziplin

Veröffentlicht am 27. April 2015

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Bernhard Schreyer

Im Grundgesetz ist die Sache scheinbar klar geregelt: Abgeordnete sind „an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“ (Art. 38 Abs. 1 GG). Damit scheint jede Art von Fraktionsdisziplin oder gar -zwang ausgeschlossen zu sein. Doch so einfach kann man es sich nicht machen: Der moderne Parlamentarismus ist ein komplexes und arbeitsteiliges Entscheidungssystem, das unterschiedliche Politikfelder managen und koordinieren muss. Die Fraktionen gliedern sich in Arbeitsgruppen, deren Mitglieder in den entsprechenden Parlamentsausschüssen arbeiten. Die einzelnen Abgeordneten sind zumeist spezialisierte Fachpolitiker, deren Vorlagen und Empfehlungen schon deshalb von den Fraktionskolleginnen und -kollegen übernommen werden, weil sich der einzelne Abgeordnete nicht in jedes politische Teilgebiet gleichzeitig einarbeiten kann. Innerhalb einer Regierungsfraktion kommt noch die Abstimmung mit den Ministerien und der Fraktion des Koalitionspartners hinzu. Das Abstecken eigener Positionen, die Verhandlungen und die Kompromissfindung würden ohne Fraktionsdisziplin erheblich erschwert. Doch auch die Oppositionsfraktionen können sich als personelle und thematische Alternative nur glaubhaft präsentieren, wenn sie diesbezüglich ein Mindestmaß an Geschlossenheit vorweisen können. Denn wir Wähler wollen ja ebenso wissen, welche Gruppierung mit welchen Zielen wir mit unserer Stimme ausstatten und wir selbst sind es, die Parteien bei Wahlen abstrafen, wenn sie den Eindruck von Uneinheitlichkeit und Zerstrittenheit vermitteln. Das abweichende Stimmverhalten von einigen Outlaws mögen wir goutieren, nicht aber die komplette Verhinderung von Regierungshandeln oder von einheitlicher Oppositionsarbeit.

Zudem gehören die meisten Abgeordneten einer Fraktion nicht deshalb an, weil sie permanent gegen ihre Fraktion stimmen möchten. Fraktionen sind Zusammenschlüsse von politisch Gleichgesinnten. Sie verrichten ihre Arbeit im Parlament auf der Grundlage von Programmen und Beschlüssen der Parteien, der sie angehören. Zwar lässt sich nicht ausschließen, dass Politiker nur aus Karrieregründen einer bestimmten Partei beitreten, aber ob eine derartige Motivation ausreicht, um sich über Jahre in einer Partei zu engagieren, damit man endlich bei einer Wahl aufgestellt wird, lässt sich ebenso bezweifeln. Es kann daher durchaus vermutet werden, dass Abgeordnete sich nicht im permanenten Gegensatz zu ihrer Fraktion befinden und es durchaus ihrem Gewissen entspricht, sie durch entsprechendes Abstimmungsverhalten zu unterstützen.

Würde man allerdings keine Parteivertreter ins Parlament wählen, sondern die Abgeordneten beispielsweise per Losverfahren bestimmen, könnte man wohl folgendes Verhalten beobachten: Es finden sich bald Gruppen von Parlamentariern zusammen, die ähnliche oder gleiche Ansichten vertreten. Diese Gruppen organisieren sich anschließend entsprechend der spezifischen Fähigkeiten und Interessen ihrer Mitglieder in Untergruppen. Die informelle Übereinkunft, die ihre politische Durchsetzungskraft garantiert, mag man in diesem Fall zwar anders benennen, sie kommt aber dennoch dem, was man gemeinhin als Fraktionsdisziplin bezeichnet, sehr nahe.

(c) Bernhard Schreyer

Dr. Bernhard Schreyer ist Mitarbeiter der Redaktion Staatslexikon an der Universität Passau, die die Neuausgabe des Staatslexikons der Görres-Gesellschaft koordiniert. Er hat  Politikwissenschaft an der Universität Passau und an der LMU studiert und war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Wissenschaftstheorie an der Universität der Bundeswehr München.

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Beitragsthemen: Demokratie | Macht | Politik

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