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Schwerpunktbeitrag: Der globale Konstitutionalismus

Veröffentlicht am 12. Oktober 2015

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Oliviero Angeli

In der neueren verfassungstheoretischen Literatur hat sich die Auffassung verfestigt, dass der Konstitutionalismus einem umfassenden Wandel unterliegt. Gemeint ist der Wandel vom klassischen Konstitutionalismus zum globalen Konstitutionalismus, der auch jenseits und oberhalb des Nationalstaats eine sinnstiftende Rechtsordnung erkennt. Bei der Beurteilung dieses Wandels spaltet sich die Forschung in zwei Grundauffassungen: Für die einen verliert der Konstitutionalismus seinen (tradierten) Sinn als Lehre der Verfassung als Grundordnung des Staates. Er verkommt zur leeren Phrase. Es ist sogar vom „Ende“[1] oder vom „Zwielicht des Konstitutionalismus“[2] die Rede. Die anderen begrüßen die Globalisierung des Konstitutionalismus als längst überfällig und bitter notwendig. Überfällig, weil der überkommene Konstitutionalismus der Praxis der internationalen, europäischen, aber auch nationalen Gerichtsbarkeit nicht mehr entspricht. Notwendig, weil er „das Bewusstsein für die kognitiven Schranken des nationalen Parochialismus“ fördert[3] Demnach werden globale Verrechtlichungsprozesse unzureichend analysiert, wenn sie nach wie vor durch die Brille des Nationalstaates wahrgenommen werden.

Der Unterschied zwischen dem nationalstaatlichen und dem globalen Konstitutionalismus ist ohne Zweifel eines der Schüsselthemen der gegenwärtigen verfassungstheoretischen Debatten. Die Rollen sind dabei klar verteilt: Der nationalstaatliche Konstitutionalismus verkörpert die altgediente und etwas in die Jahre gekommene Lehre von der Verfassung als Grundordnung eines Staates. Der globale Konstitutionalismus steht für das Neue, für das aufkommende Verfassungsparadigma, das ursprünglich aus England und den USA stammt und nun auch in Deutschland immer mehr Fuß fasst. Joseph Weiler spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „akademischen Pandemie“[4], welche die Konstitutionalismusforschung seit den späten 90er Jahren erfasst hat. Diese Einschätzung mag zugespitzt erscheinen, unbestreitbar ist jedoch die Verlagerung der Forschungsschwerpunkte auf Fragen der globalen Konstitutionalisierung. Auch in Deutschland lässt sich diese Entwicklung an den Veröffentlichungen und Aktivitäten wissenschaftlicher Einrichtungen dokumentieren, darunter das an der HU Berlin angesiedelte Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“, das Dresdner Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung unter der Leitung von Hans Vorländer und das von Antje Wiener geleitete Hamburger Centrum für Globalisierung und Governance (CGG). Auf Initiative des CGG hat sich eine interdisziplinäre Forschergruppe zusammengefunden, welche die englischsprachige Zeitschrift ‚Global Constitutionalism’ ins Leben gerufen hat.

Es wäre zu kurz gegriffen, den globalen Konstitutionalismus auf das Bemühen um die Herausbildung verfassungsartiger Elemente in der internationalen Rechtsordnung zu reduzieren. Den meisten global constitutionalists kommt es ohnehin nicht so sehr auf die Schaffung einer neuen konstitutionellen Ordnung an. Auch das komplexe Rechtsgebilde, das aus der gegenseitigen Verzahnung der verschiedenen nationalen, kontinentalen und internationalen Rechtsordnungen hervorgegangen ist, lässt sich als einheitliche Verfassungsordnung interpretieren – wenn man nur will. Voraussetzung hierfür ist eine Art ‚interpretive turn’: Nicht die internationale Rechtsordnung selbst nimmt konstitutionelle Züge an, sondern die Vorstellungen ihrer Interpreten – allen voran die Vorstellungen der Verfassungsrichter und Rechtsexperten. Dies ist gemeint, wenn von einem Übergang von einem Konstitutionalismus mit großgeschriebenem ‚K’ zu einem Konstitutionalismus mit kleingeschriebenem ‚k’ die Rede ist. Doch der Begriff zeugt von falscher Bescheidenheit. Dem Konstitutionalismus mit kleingeschriebenem ‚k’ geht es um nicht weniger als die Konvergenz konstitutioneller Vorstellungen, Denkweisen und Praktiken über Grenzen hinweg. Das wachsende Interesse an dem globalen Konstitutionalismus ist damit untrennbar verbunden mit der gestiegenen Zuversicht in die Akzeptanz eines neuen grenzüberschreitenden Verfassungsdenkens (constitutional reasoning). Der in Washington lehrende Rechtswissenschaftler David Law spricht in diesem Zusammenhang von einem „universal, Esperanto-like discourse of constitutional adjudication and reasoning“[5]. Verfassungstheoretiker denken global. Mattias Kumm bemüht in diesem Zusammenhang sogar Thomas Kuhns Rede vom ‚Paradigmenwechsel’, um der interpretatorischen Tiefenwirkung der „kosmopolitischen Wende im Konstitutionalismus“ Ausdruck zu verleihen (a.a.O.). Kumm zufolge operiert der globale Konstitutionalismus wie ein kognitives Deutungsmuster, das zur Erfassung und Strukturierung der untersuchten Zusammenhänge entschieden beiträgt. Als solches erlaubt der globale Konstitutionalismus Rückschlüsse über die verfassungsrechtliche Praxis. Er kann beispielsweise Erklärungen dafür liefern, warum Verfassungsgerichte komplexe Verhältnismäßigkeitsprüfungen vornehmen und sich dabei der historisch ausgerichteten Auslegungsmethode widersetzen, die die Entstehungsgeschichte einer Rechtsnorm zu stark in den Fokus rückt. Oder warum Verfassungsgerichte zunehmend internationale und ausländische Präzedenzfälle in die Urteilsfindung einbeziehen.

Worin zeichnet sich der globale Konstitutionalismus als kognitives Deutungsmuster aus? Der Wesensgehalt des globalen Konstitutionalismus lässt sich bislang überwiegend ex negativo gewinnen, nämlich aus der Negation dessen, was den nationalstaatlichen Konstitutionalismus ausmacht. Zwei Grundannahmen des nationalstaatlichen Konstitutionalismus sind dabei von besonderer Relevanz:

  1. Das Verfassungsrecht (zumeist in Form einer schriftlichen Verfassung) stellt die höchste legitimatorische Instanz eines Staates dar;
  2. die Autorität der Verfassung beruht, zumindest teilweise, auf ihrer Rückführbarkeit auf die verfassungsgebende Gewalt;

Aus der Negation dieser zwei Thesen lassen sich nicht nur zwei Gegenthesen, sondern zugleich zwei Grundannahmen des globalen Konstitutionalismus ableiten:

  1. Das nationale Verfassungsrecht stellt nicht, oder zumindest nicht ausschließlich, die höchste legitimatorische Instanz eines Staates dar. Generell wird von einer ‚Verzahnung‘ der Rechtsordnungen ausgegangen, die eine prinzipielle, d.h. kontextunabhängige Einordnung nach Vorrangigkeit unmöglich macht.
  2. Die Autorität der Verfassung beruht nicht auf ihrer Rückführbarkeit auf die verfassungsgebende Gewalt, sondern auf ihrer diskursiven bzw. reflexiven Rechtfertigbarkeit.

Diese zwei grob skizzierten Gegenthesen haben in der neueren Fachliteratur eine Fülle von Fragen und Problemen aufgeworfen. Manche davon sind normativer, andere begrifflicher Natur. Was Letztere angeht, so besteht die Vermutung, dass der globale Konstitutionalismus den Begriff Konstitutionalismus um seine herrschaftsbegründende Funktion verkürzt – eine Funktion, die ihn begriffsgeschichtlich auszeichnet. Tatsächlich setzt sich der globale Konstitutionalismus klar vom klassischen Verständnis des Konstitutionalismus als herrschaftsbegründendes Projekt ab. Der Verzicht auf das politisch suggestive Moment der Gründung ist als eine Wende von der ‚Interpretation‘ der Verfassung zur ‚Begründung‘ der in der Verfassung enthaltenen Rechtsnormen interpretiert worden[6]. Verfassungsnormen werden damit reflexiv durch Begründungen und nicht (mehr) historisch durch Gründungsgeschichten erzeugt. Auf diese Weise hebt der globale Konstitutionalismus die Unterscheidung zwischen konstituierenden und konstituierten Generationen auf.

Normative Bedenken betreffen insbesondere die Tendenz zur Verlagerung politischer Streitfragen auf das Feld der richterlich sanktionierten Rechtsansprüche. Dieser Stärkung der global denkenden und operierenden Judikative liegt, so die Kritik, eine idealisierte Auffassung des öffentlichen Vernunftgebrauches (public reason) zugrunde. Verfassungstheoretikerinnen wie Jean L. Cohen beklagen dabei die zunehmende Einengung des demokratischen Gestaltungsspielraums politischer Gemeinschaften. Auch die verfassungsgerichtliche Praxis des Einbeziehens ausländischer Präzedenzfälle erfreut sich nicht immer ungeteilter Begeisterung. Kritiker sehen darin die Gefahr der Nivellierung verfassungsrechtlicher Unterschiede. Dabei haben sie zweierlei im Auge: Erstens machen sich immer mehr Verfassungsgerichte den Verfassungsvergleich zu Nutze, um ihre eigene Argumentation zu stützen. Dies mag für europäische Gerichte wie der EuGH naheliegend sein. Doch selbst traditionell ‚vergleichsscheue‘ Verfassungsgerichte (wie der Supreme Court oder das Bundesverfassungsgericht) machen von der Praxis des Verfassungsvergleiches zunehmend Gebrauch. Zweitens ist auch in der Forschung im Verlauf der letzten Jahre eine verstärkte Tendenz zur Verfassungskomparatistik zu beobachten. Besondere Bedeutung hat dabei die Frage erlangt, ob die Möglichkeit des Vergleiches bereits eine Form von globaler, verfassungsrechtlicher Identität impliziert.

Diese Entwicklungen legen nahe, dass ein starres Festhalten am klassischen Konstitutionalismus der verfassungsrechtlichen und wissenschaftlichen Praxis nicht mehr gerecht wird. Ob der globale Konstitutionalismus den klassischen Konstitutionalismus auch aus dem Bewusstsein der breiten Bevölkerung verdrängt hat, hängt allerdings auch von einer umfassenden Kosmopolitisierung des rechtlichen Denkens ab. Hier muss die Forschung erst noch ansetzen. Bislang hat der globale Konstitutionalismus sich vor allem mit der Beschreibung der Arbeitsweise von Verfassungsgerichten begnügt und damit nicht aus dem Vorrat an verfassungsrechtlichen Vorstellungen in der zunehmend transnationalen Öffentlichkeit geschöpft. Hier liegt seine Grenze. Als politisch tragbare Lehre setzt der globale Konstitutionalismus einen tief greifenden Wandel der konstitutionellen Imagination voraus. Ohne diesen Wandel würde der globale Konstitutionalismus auf Dauer ein ‚constitutionalism lite‘ bleiben.

Literaturtipp: Oliviero Angeli: Von der Gründung zur Begründung. Über die Rolle der Imagination im globalen Konstitutionalismus, in: Hans Vorländer (Hrsg.): Demokratie und Transzendenz. Die Begründung politischer Ordnungen, Bielefeld 2013, S. 509-525.

(c) Oliviero Angeli

Oliviero Angeli ist promovierter Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden.

[1] Ming-Sung Kuo: The End of Constitutionalism as we know it?, in: Transnational Legal Theory 1.3 (2010), S. 329-369.
[2] Dobner, Petra/ Loughlin, Martin (Hrsg.): The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010.
[3] Mattias Kumm: „The Cosmopolitan Turn in Constitutionalism“, in: Jeffrey L. Dunoff and Joel P. Trachtman (Hg.): Ruling the World? Constitutionalism, International Law, and Global Governance, Berlin 2009, S. 258-324, hier S. 307.
[4] Joseph Weiler: „Prologue: global and pluralist constitutionalism – some doubts“, in: ders. und Gráinne de Búrca (Hg.): The Worlds of European Constitutionalism. Cambridge 2012, S. 8-18, hier S. 8.
[5] David Law: Generic Constitutional Law, in: Minnesota Law Review 89 (2005), S. 652-743, hier 652.
[6] Vgl. Mattias Kumm: The Idea of Socratic Contestation and the Right to Justification: The Point of Rights-Based Proportionality Review, in: Law & Ethics of Human Rights, 4.2 (2010), S. 142-175.

Wiederveröffentlichung aus fiph-Journal Nr. 24 (Oktober 2014), S. 24-25.

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Beitragsthemen: Globalisierung | Recht

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