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InDebate: Kunst – Warum es zur Philosophischen Praxis kein Lehrbuch gibt

Veröffentlicht am 19. Oktober 2015

Man kann Philosophie nicht lernen wie Physik.
(Michael Hampe)

Philosophische Praxis ist das, was sich zeigt. In der Tätigkeit eines Praktikers zeigt sich, was Philosophische Praxis ist. Darum stimmt für Philosophische Praxis Wittgensteins Satz aus seinem Tractatus: Die Philosophie ist keine Lehre, sondern eine Tätigkeit. (4.112)[1] Weil aber Philosophische Praxis eine Tätigkeit und keine Lehre ist, kann es von ihr auch kein Lehrbuch geben. Lehrbücher gibt es da, wo ein Sachverhalt der Gegenstand eines Lehrbuches ist, z. B. die Persönlichkeitsstörungen von Psychotherapie-Klienten. Die Wissenschaften haben es mit Sachverhalten zu tun, die Gegenstand eines Lehrbuches sind. Von Philosophischer Praxis kann es kein Lehrbuch geben, weil Philosophische Praxis kein Sachverhalt ist, der Gegenstand eines Lehrbuches werden kann. Von Deleuze und Guattari kann dieser Unterschied zwischen Philosophischer Praxis und Wissenschaft aus ihrem Buch: Was ist Philosophie? gelernt werden. Die Wissenschaft hat es mit einem Sachverhalt zu tun, auf den man sich refentiell beziehen kann[2] (sic!). Philosophische Praxis ist dagegen nichts, worauf Bezug genommen werden könnte, weil sie sich allein in der Tätigkeit eines Praktikers zeigt. Diese Tätigkeit macht Philosophische Praxis zu dem Medium des Praktischwerdens von Vernunft als Freiheit. Ich könnte auch sagen: Philosophischer Praktiker ist, wer den Nektar der philosophischen Tradition in Honig für seine Gäste verwandelt.

Philosophische Praxis kennt keine Lehrbücher, sie kennt aber sehr wohl Lehrer.

Lehrer sind für einen Praktiker zunächst und zuerst die „Großen“ der philosophischen Tradition. Ein Praktiker ist darum immer ein Zwerg auf der Schulter von Riesen! Diese Lehrer sind für einen Praktiker die „Bündnispartner“ im Umgang mit den Problemlagen seiner Gäste. Philosophischer Praktiker ist, wer in den Denkräumen der „Großen“ immer wieder Gast ist, weil die „Klassiker“ der Philosophie dem Praktiker ein Verstehen möglich machen, durch das sein Gast von ihm als Philosophischer Praktiker verstanden wird. Darum unternimmt ein Praktiker einen Perspektivwechsel gegenüber der Lektüre an der Universität. Hier wird z. B. Hegel aus der Perspektive der 3. Person gelesen, in Philosophischer Praxis aus der Perspektive der 1. Person: Was hat Hegel uns/mir zu sagen? (übrigens: eine Menge!) Diese Perspektive macht Hegels Phänomenologie tendenziell zu einer „Existenzmitteilung“. So kann ich in der Begleitung von Menschen in den letzten 31 Jahren durch meine Lektüre von Kierkegaards Der Begriff Angst eine deutliche Problemverschiebung erkennen. Es ist heute nicht mehr so sehr die Angst vor dem Bösen[3], sondern die Angst vor dem Guten[4], die für nicht wenige Zeitgenossen ein Thema ist und für die die klinische Psychopathologie „keine Antenne“ hat.[5] Es sind Menschen, die an dem leiden, was der dänische Denker den pneumatische(n) Verlust der Freiheit[6] nennt. Diese Menschen können sich kaum mehr an sich selbst erinnern, weil sie informierte, aber uninspirierte Zeitgenossen sind. Für sie setzt ein Praktiker auf die Wahrheit der Inspiration, die Wahrheit, die wach und lebendig macht, weil sie eine Existenzmitteilung ist. (Bei ihrem Interesse an der Bildung ihrer Gäste setzt Philosophische Praxis nicht auf die Wahrheit der Information. Sie ist keine private Volkshochschule.) Philosophische Praxis will nach der ersten Auskunft von Gerd B. Achenbach, der die Sache der Philosophischen Praxis in die Welt gesetzt hat, dephlegmatisieren[7] (und) vivifizieren[8]. (Die Depression ist deshalb durchaus auch ein Thema von Philosophischer Praxis!) Kurz: Philosophische Praktiker brauchen keine Lehrbücher über Philosophische Praxis, sie brauchen aber sehr wohl Lehrer, die lebenslänglich die Hör- und Sehfähigkeit ihres philosophischen Denkens ausbilden. („Lehrer“ sind auch Kunst und Literatur!) Philosophische Praxis vertraut nicht der emotionalen Intelligenz, sondern der intellektuellen Sensibilität eines Philosophischen Praktikers.

Wo Philosophische Praxis an einer Universität zum Gegenstand eines Studienganges wird, wird sie jedoch zu dem Sachverhalt, der Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung und Lehre ist. Damit wird gerade nicht erfasst, was Sache der Philosophischen Praxis ist, weil die Sache der Philosophischen Praxis kein Sachverhalt ist, der Gegenstand eines universitären Curriculums sein kann. Sie ist eben das, was sich ausschließlich in der Tätigkeit eines einzelnen Philosophischen Praktikers zeigt. Das macht einen Philosophischen Praktiker zur Begriffsperson (Deleuze/Guattari) der Philosophischen Praxis, wie der platonische (nicht der historische!) Sokrates die Begriffsperson der platonischen Philosophie ist.[9] Von dem Praktiker als Begriffsperson ist bei Achenbach die Rede, wenn er sagt: Philosophische Praxis ist Philosophie in einem Fall[10]. Was Philosophische Praxis ist, ist in keinem Lehrbuch nachzulesen, sondern zeigt sich an der Person eines Praktikers, wenn er als Praktiker tätig ist. Weil aber der jeweilige Praktiker die Begriffsperson von Philosophischer Praxis ist, steht bei ihm nicht nur seine individuelle Glaubwürdigkeit, sondern immer auch die Reputation der Philosophie auf dem Spiel!

Philosophische Praxis ist verweigerte Beratung. Deshalb ist sie nicht da, wo ein Gast von einem Praktiker beraten wird – beraten tun andere –, Philosophische Praxis ist da, wo ein Praktiker seine Gäste bei ihren Lebensfragen als Philosoph begleitet. Diese Begleitung macht es den Gästen eines Praktikers möglich, mit sich selbst zu Rate zu gehen. Philosophische Praxis ist da, wo ein Praktiker die Lebensfragen seiner Gäste zur Sache des Denkens (Heidegger) macht. Es gilt aber auch: Zur Begleitung von Menschen in Lebensfragen qualifiziert keinesfalls ein Philosophiestudium! Das macht die universitäre Ausbildung zur notwendigen, aber keinesfalls hinreichenden Bedingung für einen Praktiker. Sie ist allein dann und dort gegeben, wenn und wo die universitäre Ausbildung der „Stoff“ ist, aus dem die Bildung eines Praktikers gewebt ist! Die Bildung eines Praktikers ist wiederum Sache einer unumgänglichen „Lehrpraxis“ bei einem Mentor, der den angehenden Philosophischen Praktiker anleitet. Es ist für Platon im Symposium Diotima, die Sokrates zu dem Philosophen macht, der Alkibiades als Philosophischer Praktiker begegnet.

Zur Philosophischen Praxis gibt es kein Lehrbuch, weil es zur Philosophischen Praxis als Philosophie kein Lehrbuch geben kann. Philosophische Praxis ist das, was sich in der Tätigkeit eines Philosophischen Praktikers zeigt, weil Philosophische Praxis als Philosophie keine Lehre, sondern eine Tätigkeit ist. Es ist die Tätigkeit, die sich in nichts von der Tätigkeit des Philosophen unterscheidet, der kein Philosophischer Praktiker ist: Für Deleuze und Guattari ist die Philosophie mit der Erschaffung der Begriffe[11] deckungsgleich. Dies heißt für einen Praktiker in der Begleitung seiner Gäste: neue Begriffe schaffen, die zur Selbstaufklärung der Gäste einen Beitrag leisten. Das Kennzeichen eben dieser neuen Begriffe ist, dass sie eine dephlegmatisieren(de) (und) vivifizierende[12] Kraft und Bedeutung besitzen. Das unterscheidet Philosophische Praxis von der bloße(n) Kunst der Bildung, Erfindung und Herstellung der Begriffe[13]. Die bloße Kunst der Bildung der Begriffe ist für Deleuze und Guattari etwas anderes als die Tätigkeit der Begriffsschöpfung[14]. Entspricht diese Unterscheidung nicht derjenigen Heideggers zwischen Wörtern und Worten[15]? Werden Wörter gebraucht, wird für ihn auf Begriffe zurückgegriffen, die keine belebende Kraft und Bedeutung haben. (Deleuze und Guattari nennen diese Begriffe Fundstücke oder Produkte[16].) Nicht so bei der Verwendung von Worten. Sie sind für Heidegger Brunnen, denen das Sagen nachgräbt, Brunnen, die je und je neu zu finden und zu graben sind, leicht verschüttbar, aber bisweilen auch unversehens quillend[17]. Philosophischer Praktiker ist, wessen Worte „Brunnenwasser“ für seine Gäste sind, weil er bei der Verwendung von Worten schöpferisch tätig ist. (Deleuze und Guattari sprechen von einer creatio continua[18].) Diese Worte setzen die Seh- und Hörfähigkeit seines Denkens in der Begleitung der Gäste voraus. Das dialogische Denken eines Praktikers und das Erzeugen neuer Begriffe sind in einer Philosophischen Praxis die zwei Seiten der einen Medaille.

Kein Lehrbuch kann einen Philosophischen Praktiker lehren, nicht einfach Wörter zu gebrauchen, sondern Worte zu sagen, die wach und lebendig machen. Zur Philosophischen Praxis kann es kein Lehrbuch geben, weil Philosophische Praxis die Sache des philosophischen Denkens ist, das die Philosophie nicht zu einer konsistent argumentierenden Lehre, sondern zu einer existentiell relevanten Tätigkeit macht. Kurz: Philosophische Praxis erinnert die Philosophie an sich selbst, wo sie vergisst, dass die Philosophie keine Lehre, sondern eine Tätigkeit ist. Die Kunst der Bildung der Begriffe – wie in der Philosophie als Wissenschaft – dient in einer Argumentationsgemeinschaft (Peukert) der logischen Argumentation. Die Kunst der Erschaffung der Begriffe macht das Denken eines Philosophischen Praktikers zu einer Existenzmitteilung für seine Gäste, weil diese produktive Tätigkeit seine Besucher nicht als Subjekte der logischen Argumentation[19] anspricht, sondern als Person erreicht.

[1] Wittgenstein, Ludwig (1977). Tractatus logico philosophicus. Frankfurt a. M. 4.112.
[2] Deleuze, Gilles (1996). Was ist Philosophie? Frankfurt a. M. S. 147. Im Folgenden zitiert als „Deleuze (1996)“.
[3] Vgl. Kierkegaard, Sören (1984). Der Begriff Angst. Hamburg. S. 123-129.
[4] Vgl. ebd. S. 129-170.
[5] Polednitschek, Thomas, Kierkegaard und Nietzsche oder: die Angst des Kriegers vor dem Guten, in: https://philosophie-indebate.de/2021/indebate-3/
[6] Vgl. Kierkegaard, Sören (1984). Der Begriff Angst. Hamburg. S. 151-170.
[7] Novalis (o. J.). Fragmente. Hamburg (tradition GmbH). S. 20. Im Folgenden zitiert als „Novalis (o.J.)“.
[8] Ebd.
[9] Vgl. Polednitschek, Thomas (2014). Der politische Sokrates. Was will Philosophische Praxis? Münster; Berlin.
[10] Achenbach, G. B., zit. n.: Neubauer, Patrick (2000). Schicksal und Charakter. Lebensberatung in der ‚Philosophischen Praxis‘. Hamburg. S. 35.
[11] Deleuze (1996). S. 9.
[12] Novalis (o. J.). S. 20.
[13] Deleuze (1996). S. 9.
[14] Deleuze (1996). S. 13.
[15] Vgl. Heidegger, Martin (1984). Was heißt denken? Tübingen. S. 89. Im Folgenden zitiert als „Heidegger (1984)“.
[16] Deleuze (1996). S. 9.
[17] Heidegger (1984). S. 89.
[18] Deleuze (1996). S. 13.
[19] Peukert, Helmut (1976). Wissenschaftstheorie. Handlungstheorie. Fundamentale Theologie. Düsseldorf. S. 258.

(c) Thomas Polednitschek
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