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InDebate: Derrida, Gastfreundschaft und die AfD

Veröffentlicht am 27. Juni 2016

Vondermaßen, Foto

Marcel Vondermaßen

Der Wahlerfolg der AfD in Deutschland und anderer populistischer Parteien in ganz Europa beunruhigt die politische Landschaft. Kann die Philosophie etwas zur Diskussion dieser aktuellen politischen Entwicklungen beitragen? Sie kann es[1] und, ja, sie sollte es. Insbesondere, da in der derzeitigen politischen Auseinandersetzung fast immer auf Werte und Normen Bezug genommen wird.

Die These des folgenden Beitrages lautet: „Der Begriff der ‚Gastfreundschaft‘ von Jacques Derrida ist dazu geeignet, einen neuen Blick auf die Ängste und Emotionen zu werfen, die als Grundlage für den Erfolg der AfD und ähnlicher Parteien gesehen werden.“ Der Beitrag bietet überdies Argumente für einen Lösungsansatz, der sich nicht im „Ernstnehmen der besorgten Bürger*innen“ erschöpft.

Derrida unterscheidet bei seinen Ausführungen zwei Konzepte: die unbedingte und die bedingte Gastfreundschaft[2]. Der Ansatz der bedingten Gastfreundschaft dient dabei der Problembeschreibung, während die unbedingte Gastfreundschaft Teil der Lösung sein wird. Unter der bedingten Gastfreundschaft versteht Derrida diejenige, die in der Praxis tatsächlich auftritt. Sie ist „bedingt“, da sie von einer Vielzahl an Einschränkungen gekennzeichnet ist. Je nach Kultur gibt es Regeln für Gäste, etwa die Gebräuche der Gastgeber*innen zu achten oder nicht zu lange das Gastrecht in Anspruch zu nehmen. Gleichzeitig sind Gastgeber*innen in fast allen Gesellschaften dazu verpflichtet, für die Sicherheit und das Wohlergehen der Gäste aufzukommen. In verschiedenen Kulturen können gewaltige Unterschiede zwischen den Regeln der Gastlichkeit entstehen, etwa was die Dauer von Aufenthalten oder die Rechte und Pflichten von Gästen und Gastgeber*innen angeht.

Bedingungen an die Gastfreundschaft zu knüpfen, ist für Derrida eine nachvollziehbare Praxis, um mit den Fährnissen der Situation umzugehen. Gastfreundschaft schafft eine Begegnung mit fremden Menschen. Doch Fremde sind für die Gastgeber*innen schwer einschätzbar. Sie können als Gäste eine Bereicherung darstellen, aber es besteht ebenso die Gefahr, dass die Fremden die Gastfreundschaft ausnutzen und die Gastgeber*innen und deren Besitztümer verletzen, beschädigen oder zerstören. Mit Derrida kann man sagen, dass Gastfreundschaft eine besonders intime Begegnung mit den Fremden darstellt, da die Fremden nicht im Außen verbleiben, sondern Einlass in die Gemeinschaft, das Land oder die eigenen vier Wände erhalten. Damit werden Sicherungssysteme und Abschottungsfunktionen außer Kraft gesetzt. Es entsteht eine eigene Qualität der Unsicherheit, da sich die Gastgeber*innen angreifbar, veränderbar und verwundbar machen.

Derrida lädt diese Unsicherheit nicht normativ auf. Daraus folgt: Sie kann belebend, erneuernd und damit positiv gesehen oder als bedrohlich bzw. parasitär erlebt werden oder sogar als beides. Regeln der Gastfreundschaft sollen diese Unsicherheit auf ein erträgliches Maß reduzieren.[3] Gäste werden identifiziert, entwaffnet, in speziellen Räumen untergebracht, der weitere Aufenthalt an Wohlverhalten gekoppelt etc. Durch eine Art zivilisierten Pakt[4] werden die Bedrohungsmöglichkeiten verringert, die positiven Aspekte gefördert und die völlig Fremden in berechenbarere Gäste transformiert. Daraus folgt: Es ist nicht fremdenfeindlich oder verwerflich, wenn ein Gast beim Gastgeber ein Unsicherheitsgefühl hervorbringt. Freude auf und Angst vor dem Fremden haben erst einmal den gleichen Ursprung.

Die Fremden bringen jedoch nicht nur Unsicherheit. Mit im Gepäck haben sie noch eine andere Gabe, die ich unter dem Begriff der Anerkennung zusammenfassen würde.[5] Dadurch, dass die Fremden als Gäste und nicht etwa als Eroberer*innen kommen, erkennen sie die Gastgeber*innen als diejenigen an, die die Hoheit über den Ort besitzen, an dem Gastrecht gewährt wird. Die Gäste stärken den Anspruch der Gastgeber*innen auf den Ort, aber auch deren Selbstverständnis als Hausherr*innen.[6] „Wir (Syrer*innen) kommen zu euch, in euer Land, das Land der Deutschen, das euch gehört, euch als Deutsche.“ Ein Gast stärkt somit durch sein Gast-Sein die Identität der Gastgebenden als Gastgebende. Daraus kann gefolgert werden: Es ist nicht verwunderlich, sondern sogar sehr wahrscheinlich, dass eine große Zahl an Geflüchteten im Zielland ein verstärktes Nationalbewusstsein und Wir-Gefühl auslöst. Genauso wenig ist es überraschend, wenn das erhöhte Bewusstsein einer Identität zu Kontroversen führt, was diese Identität denn ausmacht.

Durch die gesteigerte Bedeutung ergibt sich eine gesteigerte politische Brisanz dieses Themas. Menschen beginnen ihre Wahlentscheidungen davon abhängig zu machen, ob die Parteien ihre Ängste vor den Fremden und die neue Bedeutung einer nationalen Identität aufgreifen oder nicht. Dadurch, dass die CDU/CSU und die SPD nicht nur Teil der Regierung sind, sondern Kanzlerin Merkel einen bedeutenden Anteil an der Aufnahmebereitschaft Deutschlands für geflüchtete Menschen hatte, entstand ein politisches Vakuum. Es fehlte bei den im Parlament vertretenen Parteien eine politische Repräsentation für jene Menschen, die die entstehende Unsicherheit negativ empfanden und sich eine konservativ-deutsche Identität für Deutschland wünschten. Der AfD ist es gelungen, diese Melange an Motiven aufzugreifen und sich als wählbare Alternative zu einer Parteienlandschaft zu präsentieren, die mehrheitlich die Sorgen abwehrt und die Identitätsfrage nicht in Rückgriff auf die eine nationale Identität beantworten will.

Doch bedeutet das, dass wir nach Derrida die entstandenen Ressentiments und Abwehrmechanismen als quasi nicht vermeidbare Folgen hinnehmen müssen? Ja und nein:

Ja, wir müssen akzeptieren, dass eine große Zahl an Gästen Unsicherheiten hervorbringt und der Frage der eigenen Identität eine neue Dringlichkeit verleiht. Dadurch verunsicherte Menschen sind keine prinzipiellen Fremdenfeinde und müssen anders angesprochen und von letzteren unterschieden werden.

Nein, es muss nicht hingenommen werden, dass die Unsicherheiten in Ablehnung und Hass umschlagen. Die Lösung der Identitätsfrage muss kein Rückgriff auf Vorstellungen eines irgendwie „reineren“ Deutsch-Seins sein.

Derrida gibt uns einen Hinweis darauf, wie dies zu bewerkstelligen wäre. Er belässt es bei seinen Überlegungen zur Gastfreundschaft nicht mit der Beschreibung der bedingten Gastfreundschaft und den dahinterliegenden Mechanismen. Für ihn gibt es zur bedingten Gastfreundschaft zwingend den Gegenbegriff einer unbedingten Gastfreundschaft. Das Prinzip der unbedingten Gastfreundschaft „gebietet einen Empfang ohne Vorbehalt und ohne Berechnung, es gebietet, sich dem Ankömmling uneingeschränkt auszusetzen, ja es läßt uns dies sogar wünschen.“[7] Damit gemeint ist der Wegfall all der begrenzenden Regeln, die Gastfreundschaft einhegen. Keine Identifikation, keine speziellen Gasträume, keine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts, keine Restriktion der Anzahl, kein Erwarten von Dank oder einer Gegengabe, keine vorhergehende Einladung … es ist die unbedingte Öffnung für die ankommenden Fremden.

Derrida will darin keine Atopie (Idee) oder Utopie sehen.[8] Die unbedingte Gastfreundschaft erscheint als etwas wie ein Referenz- oder Kontrastpunkt, der die Bedingtheit der existierenden Konzepte von Gastfreundschaft aufzeigt. Doch ich denke er unterschätzt die politische Dynamik in dieser Frage. In der politischen Debatte wird die unbedingte Gastfreundschaft längst als Kampfbegriff und als Dystopie gegen die Gastfreundschaft ins Feld geführt („Wir können nicht alle aufnehmen!“). Ohne dass es politische Akteure gäbe, die eine unbedingte Gastfreundschaft anstreben würden, wird das Schreckgespenst einer unbedingten Gastfreundschaft genutzt, um die Bedingungen für Gastfreundschaft harscher zu gestalten oder sie ganz auszusetzen („Das Boot ist voll!“). Politische Reaktionen darauf sind fast immer reaktiv und abwehrend („Niemand will offene Grenzen für alle.“)

Doch wenn dieser Referenzpunkt negativ besetzt werden kann, ist auch eine Umkehrung möglich, wenn auch nicht einfach. Es ist Zeit, unbedingte Gastfreundschaft positiv zu besetzen. Dazu gibt es Ideen, wenn sie bisher auch nicht mit Gastfreundschaft argumentieren. Etwa aus der Politischen Philosophie das prima facie Recht auf Freizügigkeit, aus dem im zweiten Schritt eine korrespondierende Pflicht zur Gastfreundschaft erwachsen würde. Aus der Moralphilosophie, wenn aus der weltweiten Verstrickung politischer und wirtschaftlicher Beziehungen eine Verantwortung auch für die Menschen erwächst, die in diesen Verstrickungen leben. Dies sollte nicht nur im Rahmen von Asyldebatten geführt werden, sondern als Aufforderung formuliert werden, dass freie Warenströme und freie Menschenströme das Ziel einer freien Welt sein sollten. Der Liberalismus gemahnt uns, dass Menschenrechte nicht wie Bürger*innenrechte in Kategorien von Einschluss und Ausschluss gewährt werden können. Die Identifikation als Mensch ist ausreichend für die Gewährung der vollen Rechte zu jeder Zeit. Doch es gibt auch empirische Befunde, etwa dass die Begegnung mit „Fremden“ die Angst und die Abwehrreflexe gegen Zuzug abschwächen, während sich der stärkste Widerstand gegen Zuzug in Regionen entwickelt, die „fremdenunerfahren“ sind.[9]

Das Ziel muss es sein, die Dynamik umzukehren, für unbedingte Gastfreundschaft zu plädieren und die notwendige Begrenzung dem Begründungszwang zu unterwerfen. Derridas Ansatz ist stark, weil er die Begründung für die Begrenzung von Gastfreundschaft bereits mitdenkt, wertschätzt und nicht in einer idealisierenden Position verharrt. Er ist in der Lage, die Spaltung in „Gutmenschen“ und „Fremdenfeinde“ zu überwinden und gleichzeitig eine Weiterentwicklung der Werte zu befördern, denen wir uns aus guten Gründen verschrieben haben. Wir sollten die Diskussion über Innen und Außen, Deutsche und Nichtdeutsche, Asyl und Abschiebung führen, doch wir sollten es unter dem weiteren und anspruchsvolleren Begriff der Gastfreundschaft tun.

[1] Vgl. zum Beispiel: Goppel, Anna, 2015, „Was derzeit falsch läuft: Zur öffentlichen Migrationsdebatte und einem möglichen Beitrag der politischen Philosophie“, in: Zeitschrift für Praktische Philosophie, Band 2, Heft 2, S. 339-348.
[2] Vgl. Derrida, Jacques, 2001, „Von der Gastfreundschaft“, Wien, Passagen-Verlag.
[3] Derrida, Jacques, 1999, „Hospitality, justice and responsibility: a dialogue with Jacques Derrida“, in: Kearney, Richard, Dooley Mash, „Questioning Ethics – Contemporary Debates in Philosophy“, London, Routlegde, S. 65-83, hier S. 69.
[4] Derrida, Jacques, 2006, „Maschinen Papier : das Schreibmaschinenband und andere Antworten“, Wien, Passagen-Verlag, S. 251.
[5] vgl. Vondermaßen, Marcel, „Anerkennung der Anderen – Ein neuer Leitbegriff für die Politik?“, Würzburg, Ergon-Verlag, 2014.
[6] Derrida, Jacques, 2000, „Of hospitality / Anne Dufourmantelle invites Jacques Derrida to respond“, Stanford, Stanford University Press, S. 4.
[7] Derrida, Maschinen Papier, S. 251.
[8] Assheuer, Thomas, 05.03.1998 – 13:00 Uhr, „Ich mißtraue der Utopie, ich will das Un-Mögliche – Ein Gespräch mit dem Philosophen Jacques Derrida über die Intellektuellen, den Kapitalismus und die Gesetze der Gastfreundschaft“, Zeit Online, https://www.zeit.de/1998/11/titel.txt.19980305.xml (Letzter Besuch 19.06.2016).
[9] Weber, Hannes, 2016, „Mehr Zuwanderer, mehr Fremdenangst? Ein Überblick über den Forschungsstand und ein Erklärungsversuch aktueller Entwicklungen in Deutschland“, Berliner Journal für Soziologie; 2016, 101, S. 1-32.

(c) Marcel Vondermaßen

Dr. Marcel Vondermaßen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt KOPHIS des IZEW (Internationales Zentrum für Ethik in den Wissenschaften), Tübingen.

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