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Gleichberechtigung. Die ZEIT ist reif für Veränderung

Veröffentlicht am 27. Juli 2018

Die ZEIT hat die Debatte um Geschlechtergerechtigkeit und sexuelle Gewalt in einer Reihe von Artikeln wieder aufleben lassen. Leider auf eine Art und Weise, die der Debatte mehr schadet als nützt. Im Titelthema-Artikel „Der bedrohte Mann“ von Jens Jessen in der Ausgabe vom 05.04.18, auf den eine Woche später die Replik „Mann irrt“ von Bernd Ulrich folgte, gelingt es zwar, verschiedene Positionen aus dem Meinungsspektrum zur Gleichstellungsdebatte anzusprechen. Den konservativen bis antifeministischen Statements von Jessen, die befremdlich nahe an den Strohmann-Argumenten der üblichen Youtube-Antifeministen liegen (zumindest jener, die subtil genug sind, sich nicht offen für die Unterwerfung der Frau durch den Mann auszusprechen), folgt eine Replik durch Ulrich: Diese verbleibt in einer moderat-bürgerlichen, mittleren Position und versäumt es, eine deutliche Gegenposition zu entwickeln. Durch die Gegenüberstellung beider Artikel als „Titelthema“ und „Replik“ wird durch die ZEIT jedoch eine Balance zwischen zwei ähnlich von der Mitte entfernt gelagerten Haltungen, und damit eine gewisse Neutralität suggeriert. Wie im Folgenden anhand von Auszügen aus beiden Texten gezeigt werden soll, trägt dies letztlich  dazu bei, die konservative Position zu affirmieren und die Bewusstseinsbildung für die Notwendigkeit der Debatte zu untergraben.

1) „#metoo geht zu weit“ Und: „die wollen zu viel“

Jessen: „Die Frauen, die endlich befreit #MeToo twittern, mögen die Chance anonymer Anklage als Triumph feiern […], sind sich aber nicht im Klaren darüber, was die Männer daraus lernen: Die begreifen vor allem: Wir können jederzeit denunziert werden, auch ohne den kleinsten Vorfall.“ „Die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt, wenn es kein objektives, allgemeiner Vernunft zugänglicher Verfahren der Prüfung gibt, sondern alles zu einer Frage der parteilichen Perspektive erklärt wird – der männlichen oder der weiblichen.“ „Vorwürfe unsittlichen Betragens kosten Professoren den Lehrstuhl, sie bringen Künstler um das Recht, ihre Werke zu zeigen“.

Ulrich kommentiert hierzu: „Erstmals in der Geschichte der Menschheit kann nun also dem Mann etwas widerfahren, das doch bislang nur den Frauen vorbestimmt war: Er kann wegen seines Geschlechts diskriminiert und angegriffen werden, er ist unter Umständen schutzlos der Niedertracht von Frauen ausgeliefert.“ „Dass Männer ohne Beweise wegen sexueller Nötigung oder Schlimmerem ins soziale Abseits geraten können, ist lediglich eine Kehrseite eines anderen, weit häufigeren Tatbestandes, dass nämlich Frauen sexuelle Nötigung oder Schlimmeres erleben und der Mann anschließend straffrei ausgeht, weil es in der Natur der Sache liegt, das es meistens keine Beweise gibt.“

#MeToo ist zunächst der Tatsache geschuldet, dass der Nachweis einer Tat vielfach nicht möglich ist, bzw. ein Nachweis erst dann erbracht werden kann und am Körper der Opfer erbracht werden muss, wenn Schlimmeres bereits passiert ist. Daran anschließend frage ich mich, warum der Umfang der #MeToo-Welle Jessen lediglich in Bezug auf mögliche Denunziation, und vor allem auf eine Denunziation von Männern durch Frauen, beunruhigt. Ebenfalls scheint er sich an der puren Masse der Schilderungen nicht zu stören. Der Hashtag, der den Sinn und Zweck hat, den Umfang und die Allgegenwart sexualisierter Gewalt zu zeigen und der Raum geben soll, Erfahrungen empathisch und sichtbar mit anderen Betroffenen zu teilen, umfasst eben gerade nicht nur Beiträge von Frauen, sondern ebenfalls Beiträge von Männern, die sexualisierte Gewalt und übergriffiges Verhalten erleiden mussten.

Jessen impliziert in seinem Statement, dass diese Erlebnisse lediglich eine Meinungssache sind, wenn er meint, dass in #MeToo die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge verschwimmt und alles zu einer parteilichen Perspektive wird. Doch wenn der Ort der Deutungsmacht die körperlichen und psychischen Grenzen und die Sicherheit der Personen sind, die sich unter dem Hashtag beteiligen, dann liegt die Fähigkeit über und die Legitimation zu validen Aussagen eindeutig bei diesen, und eben nicht bei jenen, die ihre Kommentare lesen und finden, „dass das irgendwie zu weit geht“. Dadurch, dass Jessen die Erfahrungen sexualisierter Gewalt erscheinen lässt als durch die Verschiedenheit der Geschlechter hervorgerufene, sich von einer Neutralperspektive unterscheidende „Meinungen“, lässt er diese als wertlos gelten. Doch geht es hier gerade nicht um einen Austausch rationaler, überindividueller Argumente in einer Diskussion, sondern um den Austausch und die Öffentlichmachung individueller Erfahrungen. Ob die Vorkommnisse im einzelnen seitens der Täterperspektive eine ähnliche Schilderung erhalten würden, ist für den Sinn der Solidarisierung mit und unter den Opfern irrelevant.

Gerade bei Personen, die ihren Celebrity-Status, ihre Machtposition und ihre Unangreifbarkeit gezielt dazu nutzen, um sexuelle Übergriffe gegen Mitarbeiter*innen, Geschäftspartner*innen und anderen von ihnen abhängigen Personen zu verüben, stellt die Öffentlichmachung durch die Opfer keine überzogene Reaktion dar, sondern vielmehr einen legitimen Versuch, zukünftige Übergriffe zu verunmöglichen oder zumindest weniger wahrscheinlich zu machen. Nochmals: Bei sexueller Gewalt geht es nicht um das Geschlecht der Opfer, sondern um die Machtausübung seitens der Tatbegehenden. Und wenn sich deren eigenes Handeln rufschädigend für sie auswirkt, dann ist dies nicht den Opfern anzukreiden, die auf die öffentliche Aufklärung von Gewalttaten als gesellschaftliche Verantwortung drängen, auch wenn Jessen deren Interessen und Rechte offenbar als grundlegend niedriger einstuft als jene der „Leistungsträger“ der Gesellschaft.

Ulrich reagiert auf Jessen, indem er dies als Machtumkehr zwischen den Geschlechtern durch die Möglichkeit der Denunziation anspricht, aber er erkennt nicht, dass zum einen die Welle der Empörung lediglich prominente Personen trifft (die überwältigende Mehrheit der Gewalterfahrungen versinkt ohne rechtliche und soziale Konsequenzen in der Masse der Posts), und zum andern häufig direkt auf die Opfer zurückschlägt, die sich ihrerseits nun zusätzlich mit Vorwürfen der Denunziation auseinandersetzen müssen.

2) „Feministinnen halten alle Männer für Triebtäter“

Jessen: „In der unterstellten Kollektivverantwortung aller Männer für die Untaten jedes Einzelnen liegt etwas, das sehr wohl sprachlos machen kann. Der Feminismus hat damit eine Grenze überschritten, die den Bezirk der Menschlichkeit von der offenen Barbarei trennte.“ „Er steht unter Generalverdacht. Das ist keine Kleinigkeit. Philosophisch gesprochen wird damit die Conditio humana gekündigt, die allen Menschen ein gleiches Maß an Menschlichkeit zumisst. Wenn für Männer keine Unschuldsvermutung gilt, werden sie – nicht nur in der feministischen Theorie – zu Menschen zweiter Klasse.“

Ulrich: „Macht es uns nicht freier, ist es nicht erwachsener und auch weniger stressig, freiwillig in die Verantwortung für das Patriarchat einzutreten, als ständig alle Vorhaltungen zurückzuweisen und zu schreien ‚Ich war’s nicht, Weinstein ist es gewesen!‘?“ „Privat habe ich durchaus mit Männern über all das geredet und festgestellt, das viele ihr Leben gewissermaßen rückwärts gescrollt haben, um zu überprüfen, ob da womöglich irgendwann irgendwas nicht in Ordnung war.“ „Und wenn Frauen zuweilen in den Moralismus abdriften, so könnte es auch daran liegen, dass Männer nach wie vor die allermeisten Machträume besetzt halten. Wen die moralische Zumutung des Feminismus wirklich stört, der sollte Macht teilen.“

Jessen erklärt hier, dass es Feministinnen um den Sieg des totalitären Feminismus gehe, nicht um die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Ebenfalls suggeriert er wiederholt, dass es um eine Spaltung zwischen extremen Feministinnen und normalen Männern gehe, die durch Feministinnen vorangetrieben und verschärft werde. Eine so verblendete Falschdarstellung wird man hoffentlich selten in einem Medium der Mitte lesen können. Sie geht völlig an dem vorbei, was die feministische Bewegung tatsächlich auszeichnet: Zum einen ist sie keine homogene Bewegung und keine monolithische Denkweise, sondern vielmehr werden eine Vielzahl von Theorien, Politiken und Vertreter*innen mit dieser Bezeichnung assoziiert. Jessen macht, wie Ulrich in seiner Replik richtig bemerkt, genau das, was er den Feministinnen in ihrem Umgang mit Männern vorwirft: Er greift sich die extremsten Vertreterinnen heraus, verallgemeinert diese auf die gesamte Vielzahl der Gruppen, die sich unter der Vokabel versammeln, und spricht eine pauschale Verurteilung gegen heutige Feminismen aus. Hierbei handelt es sich um eine Taktik, die in antifeministischen Positionen regelmäßig genutzt wird, und die die Breite der Bewegung und die Verschiedenheit der in ihr vertretenen Denkweisen (liberale, sozialdemokratische, atheistische, sozialistische, religiöse, radikale, konservative und individualistische Formen) unterschlagen soll.[1] Ebenfalls unterschlägt Jessen, dass sich Feminismus nicht gegen Männer richtet. Er richtet sich vielmehr radikal gegen eine Struktur, gegen Denkweisen und Politiken, die jede Form von sexualisierter Gewalt und die unterschiedliche Verteilung von Lebenschancen qua Geschlecht verstetigen. So ist die kritische Männerforschung, die sich den spezifischen und vielfältigen sozialen Lagen und Erfahrungen von Männern widmet, aus feministischen Perspektiven mit hervorgegangen.

Jessens leidende Übertreibung, die eine Unterstellung von Kollektivschuld anprangert, lässt Ulrich darauf hinweisen, dass sich eine kritische Haltung nicht darin ausdrückt, sich per se schuldfrei zu sehen, weil man „nicht wie Weinstein“ sei. Es geht nämlich gerade nicht um die Feststellung einer Kollektivschuld und eine daran anschließende Beschämung, sondern vielmehr darum, dass Menschen dazu aufgerufen werden, zu lernen, systemisch zugeteilte Machtdividenden zu hinterfragen und zu relativieren. Es geht also vielmehr um etwas, das besser als  Kollektivverantwortung zu verstehen wäre: Es geht beispielsweise darum, die Frage „Was dürfen wir noch machen?“, die versucht, die Grenze zwischen übergriffigem Sexismus und banalem Annäherungsversuch aufzuheben, durch eine Praxis zu ersetzen, die sich der Möglichkeit ihres Abgleitens in eine potentiell gewalttätige Praxis bewusst ist und dieser Möglichkeit in jedem Moment bewusst entgegensteuert. Gerade diese ethische Komponente bleibt jedoch bei Ulrich unterbelichtet, wenn er lediglich eine kritische Selbstüberprüfung in Bezug auf Vergangenes nennt, die per se aber noch keine Rückwirkung auf ein verändertes Alltagsverhalten haben muss.

Denn in alltäglichen Situationen wird deutlich, dass sexistisches Verhalten zu einer Alltagskultur beiträgt, in der es „normal“ erscheint, die Körper- und Willensgrenzen von bestimmten Personen geringer zu schätzen: „Allein reisen. Allein auf einer Terrasse etwas trinken. Einen einsamen Weg entlang joggen. Auf einer Bank warten. […] Eine Gehaltserhöhung fordern. In all diesen banalen Alltagssituationen will ich das Recht haben, nicht belästigt zu werden. Das Recht, nicht einmal darüber nachzudenken.“ Aber „Da ist der Professor, der sich für ein Praktikum einen runter holen lässt. Der Kerl, der mich im Vorbeigehen ‚ficken will‘ und mich dann als ‚Schlampe‘“ beschimpft.“ „Ich fordere die Freiheit, dass man weder meine Haltung noch meine Kleidung, meinen Gang, die Form meines Hinterns oder die Größe meiner Brüste kommentiert. Ich beanspruche mein Recht, in Ruhe gelassen zu werden, allein sein zu dürfen, mich ohne Angst fortbewegen zu können.“[2] Leila Slimani schildert eine Erfahrung, die milliardenfach wiederkehrt in den Twitter-Botschaften von #MeToo, die solches Verhalten anprangern und nach seiner Anpassung fordern. Der Hashtag ist damit nicht nur eine Forderung nach Unterlassung von gewalttätigem, unerwünschtem und zudringlichem Verhalten, sondern ebenfalls eine Forderung nach der Neuverteilung der in der zwischenmenschlichen Begegnung entstehenden Unsicherheit, die durch die reine Potentialität von (sexualisierter) Gewalt entsteht.

Auf die Verantwortung von Männern in Bezug auf die Geschlechtergerechtigkeit hinzuweisen, bedeutet also nicht die Zuweisung von Kollektivschuld, sondern vielmehr die Zuweisung einer alltäglichen Kollektivverantwortung für eine gerechtere und sicherere Gesellschaft. Und diese Verantwortung wahrzunehmen, heißt nicht nur Übergriffe und Belästigungen zu unterlassen. Es bedeutet ebenfalls, das eigene Alltagsverhalten selbstkritisch prüfend zu untersuchen und problematisierende Rückmeldungen zu diesem nicht umgehend als Querulantentum zu missachten. Nur so kann man zu einer gesellschaftlichen Kultur beitragen, die für die Mitmenschen durch latenten, allgegenwärtigen Sexismus nicht unerträglich wird.

© Agnes Wankmüller

[1]     Thom Avella (01.08.2016): What “Questions for SJWs” Taught Me About YouTube Antifeminism; URL: https://www.youtube.com/watch?v=dbyosLN58BU; 27.06.18.
[2]     Leila Slimani (13.01.18): Leila Slimani über Sexismus; URL: http://www.spiegel.de/kultur/literatur/sexismus-und-metoo-leila-slimani-antwortet-catherine-deneuve-a-1187600.html (28.06.2018).

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