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InDebate: Warum sich eine Re-Lektüre der Werke Erich Fromms lohnt

Veröffentlicht am 31. Januar 2019

Kevin Zernickel

Der Psychoanalytiker, Sozialpsychologe und Philosoph Erich Fromm kritisierte bereits in der Mitte des 20. Jahrhunderts unseren Lebensstil als zerstörerisch. Er verlangte einen radikalen Bruch, sah darin die einzige Möglichkeit für das Fortbestehen der Menschheit. Heute, knapp 40 Jahre nach seinem Tod, hat seine Gegenwartsdiagnose keineswegs an Aktualität verloren.[1] Wir wissen heute alle, dass ein radikaler Bruch mit unserer gewohnten und allzu liebgewonnenen Lebensweise keine Option mehr darstellt, sondern eine Notwendigkeit. Denn, wenn es so weitergeht wie bisher, steht uns eine ökologische Katastrophe bevor: der Verlust unserer Lebensgrundlage. Und dennoch ändert sich im Großen und Ganzen an unserem Lebensstil nichts, beispielsweise beim Thema Fleischkonsum. Der jährlich erscheinende Fleischatlas der Heinrich-Böll-Stiftung hat ermittelt, dass der Fleischkonsum pro Kopf in Deutschland seit dem Jahr 2000 zwischen 59 und 62 kg pro Jahr weitestgehend konstant geblieben ist.[2] Mit der Unterstützung der Massentierhaltung durch den Kauf von Fleischprodukten verursachen wir nicht nur das Leid unzähliger Lebewesen, wir befeuern auch eine der Hauptursachen für die Klimakatastrophe.

In einem seiner zentralen Werke, Haben oder Sein: die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, das 1976, also vor dem Hintergrund des Kalten Krieges und der Gefahr eines Atomkrieges, erschienen ist, formulierte Fromm eine Kritik an der gegenwärtigen Situation des Menschen und bot gleichzeitig Lösungsansätze an, wie die defizitäre Individual- und Gesellschaftsstruktur verbessert werden kann. Dafür führte er die Unterscheidung zwischen der Existenzweise des Habens und der Existenzweise des Seins ein. Sie müssen verstanden werden als zwei völlig unterschiedliche Arten von Selbst- und Weltdeutungspraxis, die bestimmen, was ein Mensch denkt, fühlt und tut. Fromm definiert die Existenzweise des Habens folgendermaßen: „[In ihr] ist die Beziehung zur Welt die des Besitzergreifens und Besitzens, eine Beziehung, in der ich jedermann und alles, mich selbst eingeschlossen, zu meinem Besitz machen will“ (HS 40).

Diese Existenzweise beruht auf zwei psychologischen Ursachen, die schließlich zu der Klimakatastrophe führten. Die erste Ursache bezeichnet Fromm als radikalen Hedonismus. Unter diesem wird eine egoistische Lebenseinstellung verstanden, die darauf aus ist, die momentane Lust durch die Befriedigung jeglicher subjektiven Wünsche und Bedürfnisse zu maximieren. Die zweite psychologische Ursache ist der Glaube, dass Egoismus, Selbstsucht und Habgier, Grundpfeiler kapitalistischer Systeme, zu Frieden und Harmonie führen. Für Fromm ist Egoismus nicht bloß ein Aspekt des Verhaltens eines Menschen, er bildet vielmehr seinen Charakter (HS 19). Als Leitidee durchzieht die Bevorzugung des Selbst nicht nur bestimmte Teilbereiche des Lebens, sondern wird zur allumfassenden Lebenseinstellung. Mit der Selbstsucht geht unmittelbar Habgier einher, denn das oberste Ziel ist es, möglichst viel zu besitzen und nicht zu teilen. Eine Person in der Existenzweise des Habens weist demnach Charaktereigenschaften auf, die das egoistische Handeln auf Kosten der Natur, seiner Mitmenschen und anderer tierischer Lebewesen in Kauf nimmt. Die Ausbeutung von Tier und Umwelt kann in Anbetracht der Existenzweise des Habens verständlich gemacht werden. Es ist die Selbstsucht, die sich in den westlichen Industrienationen ausgebreitet hat und schließlich zum Verlust von Menschlichkeit und Selbstachtung führt.

Der gegenüberliegende Pol – die Existenzweise des Seins – ermöglicht es dem Menschen, aus diesem defizitären Zustand auszubrechen und seine Selbstachtung zurückzuerlangen.  Fundament dieser Lebenseinstellung ist eine altruistische Grundeinstellung. Eine Person im Seinsmodus widmet sich der Aktivität des Gebens und Sorgens für und um Andere (HS 198). Heute wird Aktivität fälschlicherweise häufig mit bloßer Geschäftigkeit verwechselt, ein „gesellschaftlich anerkanntes, zweckhaftes Verhalten, das entsprechende gesellschaftlich nützliche Veränderungen bewirkt“ (HS 112). In diesem Verständnis von Aktivität wird nur auf das Verhalten einer Person eingegangen, ohne die dahinterliegenden Gründe der Handlung zu berücksichtigen. Somit ist eine Person, die geleitet von Sorgen und gesellschaftlichen Konventionen ihren Alltag durchlebt, im heute üblichen Verständnis, aktiv und produktiv, doch tatsächlich passiv und unproduktiv. Denn Aktivität geht immer mit produktivem Tätigsein einher, dem produktiv-kreativen Gebrauch der menschlichen Kräfte, wodurch sich der Mensch als handelndes Subjekt erfährt. Dabei spielt es keine Rolle, ob eine äußerlich wahrnehmbare Veränderung erzielt wird oder nicht. In diesem Zusammenhang ermuntert Fromm zu einer täglichen Meditationspraxis, die Ausdruck des produktiven Tätigseins ist und schließlich die Existenzweise des Seins fördert.

Des Weiteren streben Menschen im Seinsmodus nicht nach der Erfüllung jeglicher Wünsche und Bedürfnisse, die teilweise auf irrationalen Leidenschaften und Fiktionen beruhen, die die Gesellschaft schafft, um sich selbst zu stabilisieren. Eine Person im Seinsmodus ist sich sowohl der kulturellen Bedingtheit der Bedürfnisse bewusst als auch der Tatsache, dass keine endgültige Zufriedenheit durch das Stillen jeglicher Bedürfnisse erreicht werden kann. Daher ist sie vielmehr darauf bedacht, bewusst zu konsumieren und auf Ausbeutung jeglicher Art zu verzichten. Die Existenzweise des Seins tauscht somit den radikalen Hedonismus mit dem radikalen Humanismus und ermöglicht so einen adäquaten Umgang mit sich und der Umwelt. Wie sich die jeweilige Existenzweise bemerkbar macht, verdeutlicht Fromm anhand von acht Beispielen der alltäglichen Erfahrung. Hierdurch wird der Leser indirekt dazu aufgefordert, sich einer ehrlichen Selbsteinschätzung zu unterziehen, sich zu fragen, wie er*sie eigentlich liest, liebt oder Autorität ausübt.

„Wir sind eine Gesellschaft notorisch unglücklicher Menschen: einsam, von Ängsten gequält, deprimiert, destruktiv, abhängig – jene Menschen, die froh sind, wenn es ihnen gelingt, jene Zeit »totzuschlagen«, die sie ständig einzusparen suchen“ (HS 17). Bei der Flut an Informationen, die tagtäglich auf uns einprasseln, bleiben Fromms Aussagen in Erinnerung, schreien nach Veränderung, sprechen das aus, was wir eigentlich längst wissen. Es ist daher an der Zeit, Erich Fromms Werke einer Re-Lektüre zu unterziehen.[3]

Haben oder Sein hilft uns, die Verhaltensweisen des Menschen besser zu verstehen. Doch Fromm verharrt nicht auf einer rein negativ-destruktiven Gegenwartsdiagnose. Es werden Lösungswege dargeboten, auf deren Grundlage sich konkrete Handlungsanweisungen ableiten lassen, die in den Alltag implementiert werden können. Seine theoretischen Ausarbeitungen sollten demnach nicht nur auf der Verstandesebene des Lesers verweilen, denn „von der Praxis losgelöste Einsicht ist wirkungslos“ (HS 207). Sie müssen durch konkrete Verhaltensänderungen in die Praxis umgesetzt werden. Dementsprechend ist jeder selbst für sich, seine Mitmenschen und die Umwelt verantwortlich. Ein bloßes Zurücklehnen mit dem Gedanken „die Politiker*innen werden es schon richten“ reicht nicht aus. Nicht auf institutionelle Eingriffe zu warten, sondern sich selbst zu ändern, ist eines der schwierigsten Unterfangen schlechthin, doch ist es dringend notwendig.

 

Literaturverzeichnis

Die Internationale Erich Fromm Gesellschaft: https://www.fromm-gesellschaft.eu/index.php/de/1
Fleischatlas 2018: Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Heinrich-Böll-Stiftung. S 13. https://www.boell.de/sites/default/files/fleischatlas_2018_iii_web.pdf?dimension1=ds_fleischatlas_2018
Fromm, Erich (2018): Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft. München (Dt. Verlag-Anst.). Kürzel HS.
McLaughlin, Neil: How to Become a Forgotten Intellectual: Intellectual Movements and the Rise and Fall of Erich Fromm, in: Sociological Forum 13, 1998, S. 215-246.
Zernickel, Kevin (2018): Philosophie als Lebensform bei Erich Fromm.

© Kevin Zernickel

Kevin Zernickel B.A. (Philosophie und Englisch an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster), Praktikant am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.

[1] Nichtsdestotrotz verschwand Fromm ab den 1960er Jahren aus dem Blickfeld der Wissenschaften, hauptsächlich weil er nicht mehr in den Zeitgeist des aufsteigenden Poststrukturalismus passte, siehe: McLaughlin, Neil: How to Become a Forgotten Intellectual: Intellectual Movements and the Rise and Fall of Erich Fromm, in: Sociological Forum 13, 1998, S. 215-246.
[2] Fleischatlas 2018: Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel. Heinrich-Böll-Stiftung. S. 13, https://www.boell.de/sites/default/files/fleischatlas_2018_iii_web.pdf?dimension1=ds_fleischatlas_2018
[3] Anfangen kann man mit diesem sehenswerten Vortrag von Fromm über den modernen Menschen und seine Zukunft. https://www.youtube.com/watch?v=pvcJFROk7HQ

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2 Kommentare

  1. Ich denke, die Gedanken Fromms bedürfen einer Modernisierung im Zeitalter der Digitalisierung und Vernetzung. Haben und Besitzen ist nicht mehr zwingend erforderlich, um die Ego-Bedürfnisse zu befriedigen. Es geht viel mehr darum, „jemand zu sein“, bzw. „Bedeutung zu haben“ – und das materielle Raffen von Gütern ist dafür nicht mehr zwingend erforderlich.

    Das nur mal so als Inspiration! Es ist ja nicht anzunehmen, dass Menschen sich in ihrer Selbstsucht und Gier nach dem guten Leben grundsätzlich ändern. Wenn das aber nicht mehr unbedingt durch ressourcenverschleissendes physisch-materielles Anhäufen von Besitz passieren muss, liegt darin ja doch eine Chance!

    • Danke für den Gedankengang. Ich stimme dir zu, dass nicht nur das Verlangen nach materiellem Besitz von Gütern, sondern auch der immaterielle Besitz von Persönlichkeitsmerkmalen, Beziehungen und Erlebnissen in unserem Kulturkreis vorwiegend vorzufinden ist. Ich bezweifle jedoch, dass das Streben nach einem guten Leben in Kombination mit der Existenzweise des Habens in Einklang gebracht werden kann. Denn, in dieser Lebensweise wird versucht, Besitz (ob materiell oder immateriell) immer weiter anzuhäufen. Sich nicht zufriedenzugeben mit dem was man hat, neidisch zu sein, mit denen, die mehr haben und sich überlegen zu fühlen bei Personen, die weniger haben sind Charakterdispositionen, die nicht förderlich für das eigene Wohlbefinden sind.
      Ob durch den Wandel der Gier vom Materiellen zum Immateriellen eine Chance für die Klimakatastrophe liegt schließe ich zwar nicht aus, doch Zufriedenheit stellt sich dadurch sicherlich nicht ein.

Beitragsthemen: Klima

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