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Kritik im Ungefähren. Gedanken zu Thomas Bauers Lob der Ambiguität

Veröffentlicht am 9. September 2019

Entgegen der Beschwörung einer zunehmenden Pluralität diagnostiziert der Islamwissenschaftler und Arabist Thomas Bauer in seinem vielbeachteten Essay Die Vereindeutigung der Welt den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt in modernen westlichen Gesellschaften. Das, was sich beispielsweise als Multikulturalität gibt, ist für Bauer nur eine »Scheinvielfalt«, kulturelle Diversifizierung bloß eine flache Vermassung von Inhalten und die Fülle des Konsumangebots eine austauschbare Ware. Der Begriff, den Bauer für seine Analyse in Anschlag bringt, ist »Ambiguität«. Zunächst zielt er damit auf die Ebene der Bedeutung ab. Ambiguität beschreibt den Umstand, dass ein Gegenstand, eine Person oder eine Situation nicht eindeutig zu bestimmen ist. Entgegen der epistemischen Binsenwahrheit, die diese Uneindeutigkeit primär als Wissensdefizit beschreibt und auf die Endlichkeit, Fehlbarkeit oder Perspektivität menschlicher Erkenntnisse zurückführt, denkt Bauer Ambiguität grundlegender: Wirklichkeit ist in einem starken Sinne vieldeutig. Es handelt sich also nicht um eine defizitäre Ambiguität, die als provisorischer Zustand zu lesen wäre und hinter der immer noch eine regulative Idee der Eindeutigkeit stünde. Ebenso wenig geht es Bauer um einen schlechten Ausdruck oder Äquivokation, also um Mehrdeutigkeiten, die zu tilgen wären. Ambiguität wird vielmehr verstanden als hermeneutisches Grundprinzip, das Sinn und Offenheit erst ermöglicht und damit letztlich existenzielle Züge in sich trägt. Schließlich kann Ambiguität niemals völlig vermieden werden, denn gemäß des von Bauer eingeführten »Ambiguitäts-Erhaltungs-Gesetzes« erzeugt jeder Versuch, Eindeutigkeit herzustellen, neue Formen der Ambiguität. Ambiguität ist ein labiler, aber nicht vollständig zu überwindender Zustand. Allerdings – und hier folgt Bauer gewissen Einsichten aus der Psychologie – liege es in der Natur des Menschen, wenn möglich, Ambiguität zu meiden. Wir tendieren sozusagen zu einer »Ambiguitätsintoleranz«. Die Ambiguitätstoleranz dagegen, wie sie Bauer fordert, stünde dann für eine Haltung, die die Spannungen, die aus der inhärent mehrdeutigen Wirklichkeit und den zum Teil widersprüchlichen Perspektiven bestehen, aushält.

Die Hauptthese, die über verschiedenste Motive variiert wird, ist nun: Im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften würden moderne westliche Gesellschaften eine vergleichsweise hohe Ambiguitätsintoleranz aufweisen, die zu einer Vereindeutigung in allen Lebensbereichen führe. Aus der erstarkenden Ambiguitätsintoleranz resultierten zwei für die Moderne typische Verhaltensweisen. Entweder verliere sich der Mensch in einer indifferenten postmodernen Ironie, die jeglicher Bedeutungszuschreibung gleichgültig gegenübersteht, oder er verhärte sich in Fundamentalismen, die nur noch eine exkludierende Bedeutung zulassen können.

Exemplarisch überträgt Bauer diesen Gedanken auf die Sphäre der gegenwärtigen Kunst, in der sich ihm zufolge zwei dominierende Stränge beobachten lassen. Auf der einen Seite finde sich ein durch technologische Entwicklungen immer stärker werdender Realismus, der vom Schwarz-weiß-Film ohne Ton, über den Farbfernseher hin zur 3D-Brille verläuft. Zielpunkt scheint für Bauer die totale Virtualität zu sein, die als Kopie der Wirklichkeit jeden semantischen Überschuss herauskürze und die Kunst auf eine Ebene des Dokumentarischen reduziere. Auf der anderen Seite zeige sich in der modernen Kunst ein Zug zur Abstraktion, der, als Indifferenz gegenüber jeglicher Bedeutung in die totale Beliebigkeit abrutsche. Dies erkläre nach Bauer auch, warum um diese sinnentleerten Formen immer größer werdende Erläuterungen, gewissermaßen ästhetische »Beipackzettel«, platziert werden müssen. Ohne sie würden die abstrakten Formspielereien ins Leere laufen. In Verlängerung dieser Deutung liest Bauer dann auch gegenwärtige Formen politischer Kunst, die auf das Bedeutungsvakuum reagieren, indem sie sich einer eindeutigen politischen Agenda verschreiben. (Allerdings muss erwähnt werden, dass Bauer sich nicht per se gegen politische Kunst ausspricht, sie aber durchaus als Symptom ambiguitätsintoleranter Gesellschaften versteht).

Aufs engste verflochten sei diese Entwicklung mit dem grassierenden »Authentizitätswahn« – dieser sei fatal, denn für Bauer ist »Authentizität […] das Gegenteil von Kultur«. Doch die medienhistorische Herleitung, die Bauer hierfür entwickelt, verengt den Diskurs über Kunst, da dieser einen vulgären Begriff von Authentizität als Strohmann einsetzt. Insofern nämlich diese als »Identität mit sich selbst verstanden wird«, schließt er Individualismus mit Authentizität kurz und reduziert sie auf einen statischen Zustand der Korrespondenz. Dieser Authentizitätsbegriff hat die Übereinstimmung von Künstler*in und Ausdruck zum Ziel. Hiermit würden sich die Kriterien der Kunst auf eine rein produktionsästhetische Dimension verengen und schließlich die technologische Forcierung realistischer, d.h. »authentischer«, »echter« Formen in allen Bereichen der Kultur antreiben. Kunst würde allein nach diesem Kriterium bemessen, worin sich Form und Inhalt verquicken. Als Authentisch gilt, was realistisch ist, so Bauers Gleichung. Dieser Zug hin zu einem »immer größeren Realismus« verdränge klassische, in sich höchst artifizielle und eben ambige Formen wie die Oper oder das Theater. Das gelobte Land echter, ambiger Kunst liegt für Bauer irgendwo zwischen den Polen »fundamentalistischer Eindeutigkeit« und »postmoderner Beliebigkeit«. Subtile Formen der Ambiguität, wie sie noch in der barocken Oper oder der klassischen arabischen Dichtung vorzufinden seien, ermöglichen noch – und hier klingt Bauer ironischerweise wie ein waschechter Kantianer – ein freies Spiel der Bedeutung.

Hinter diesen Beschreibungen, die durchaus einen wahren Kern treffen, steht eine problematische Annahme. Mit der Diagnose, dass der Begriff der Authentizität durchaus zu dem (Un)Wort des popkulturellen Feuilletons geworden sei, liegt Bauer dabei gar nicht so falsch. Allerdings übersieht er, dass der Diskurs um die Authentizität – mit durchaus modernen Konzeptionen der Autor*innenschaft, des Genies oder der Kreativität – ja selber reflexiv auf künstlerischer als auch theoretischer Ebene eingeholt wurde und wird. Denn nicht allein die Ausdrucksformen und die Medialität der Kunst haben sich verändert, sondern auch der ganze ästhetische Diskurs. Über Bauers holzschnittartige Paradigmen der Darstellung und des Ausdrucks ist es ein Leichtes, in dem Authentizitätsbegriff eine schlechte Verschaltung von Form und Inhalt zu erkennen. Doch dabei bleibt Kunst nicht stehen. Vielmehr scheint sich die moderne Kunst gerade in der Spannung von symbolischer Formung, authentischer Darstellung und echtem Ausdruck zu bewegen. Der Realismus moderner Popkultur beispielsweise überdreht sich schon längst ins Hyper-Reale und enthält somit in seinem dialektischen Umschlag gerade jene Ambiguität, die ihr Bauer abspricht. Ähnliche Momente finden sich in der gegenwärtigen Literatur unter dem Begriff der Autofiktion. Hier werden ganz bewusst Authentizitätseffekte durch ihre offensichtliche Verwendung dekonstruiert.

Auch Abstraktionen der modernen Kunst sind nicht einfach als Indifferenz gegenüber jeglicher Bedeutung zu verstehen, die zum reinen Formalismus oder zum eklektizistischen Spiel verkommen sind. Die moderne abstrakte Kunst reagierte auch auf die historischen Zäsuren des 20. Jahrhunderts. Sich als Künstler*in mit einer radikalen Infragestellung jeder Sinnhaftigkeit zu beschäftigen, kann auch bedeuten, die Undarstellbarkeit selbst künstlerisch zu verarbeiten. Die von Bauer beklagte Indifferenz in der späten Moderne steht also auch für eine Kultur, in der die Sinnfrage auf zutiefst aporetische Weise zum Skandalon geworden ist.

Seiner Profession entsprechend wählt Bauer für seine Kritik bewusst die Außenperspektive, indem er gedanklich den »Umweg« über den Nahen Osten wählt, um so gängige Selbstdeutungen westlicher moderner Gesellschaften zu unterlaufen. Die Stärken seines Langessays tauchen dort auf, wo Bauer ein Gegennarrativ entwirft. Beispielsweise wenn er den religiösen Fundamentalismus als modernes Phänomen ausweist und damit die Phrase »zurück in das Mittelalter« als falsche Projektion der Aufklärung entlarvt. Die Überheblichkeit des modernen europäischen Menschen wird gebrochen durch die historische Relativierung und kulturelle Dezentrierung. Doch Bauer bettet diese kritischen Überlegungen in keine Theorie ein. Im Extrem vertauscht er lediglich die Vorzeichen. Es beschleicht einen das Gefühl, dass sich Bauer eine erneute Verzauberung der Welt herbeiwünscht, in der alle Dinge wieder ihren symbolischen Glanz zurückerhalten und aus den Fängen der modernen instrumentellen Vernunft befreit werden. Die Kritik an der Moderne wird zu einer kulturpessimistischen Verklärung vormoderner Zeiten, in denen vor der Ambiguität der Lebensweisen stumm gestaunt wurde. Unklar bleibt daher auch immer wieder, inwiefern die kritisierte Ambiguitätsintoleranz bestimmter Zeiten und Regionen als Ursache oder Effekt der modernen Vereindeutigungen zu lesen wären. Vor allem geht so die Option unter, dass die Ambiguitätsintoleranz gerade deswegen zunimmt, weil wir in einer fragmentierten und pluralisierten Gesellschaft leben und wir – wie es jüngst Isolde Charim beschrieb – nur noch ein Weniger-Ich sind, dessen Identität prekär geworden ist. All diese Pluralitäten sind für Bauer nur ein schwaches Abbild jener vormodernen Multikulturalität, die sich vormals über den ganzen eurasischen Kontinent zog – bis auf den abendländischen, christlich-jüdischen Monolith versteht sich.

Der Erfolg seines Essays liegt sicher darin, dass Bauer es schafft, verschiedene problematische Tendenzen zu identifizieren, die einen Nerv treffen. In rhapsodischer Aufzählung stolpert er von Talkshows über moderne Kunst zum Tomaten-Diktat Monsantos. Doch dabei ist nicht ganz klar, ob die gewählten Beispiele als Argumente eingesetzt werden oder lediglich seine Thesen veranschaulichen. Für ersteres wirken sie oft zu beliebig und partikular, als dass sie ohne weiteres auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen übertragen werden könnten. Fürs zweite entwickelt Bauer schlicht keine ausgearbeiteten Argumente. Dass am Ende Kulturkritik, Kapitalismuskritik, Globalisierungskritik und Modernisierungskritik irgendwie alle zusammenhängen, ist trivial – viel wichtiger wäre es aber, die verschiedenen Momente und Entwicklungen zu unterscheiden oder – wo sinnvoll – aufeinander zu beziehen.

Das grundsätzliche Problem liegt in Bauers Terminologie selbst. Indem er in dem Begriff der Ambiguität Vielfalt und Mehrdeutigkeit in eins setzt, vermischt er die qualitative und quantitative Ebene. Bezogen auf Vielfalt spricht er beispielsweise von der Mannigfaltigkeit der Arten und ihrer Bedrohung durch rücksichtsloses Handeln von Unternehmen. Aber dabei ist völlig unklar, was dies mit Ambiguitätsintoleranz zu tun haben soll. Eine Andeutung findet sich zwar in der von Bauer beklagten „Kästchenbildung“, der Pluralisierung und Diversifizierung, in der lediglich die Anzahl der Kategorien zunimmt, ohne dass die begriffliche Struktur sozialer Wahrnehmung selbst aufgebrochen wird. Doch hier erscheint die numerische Vielfalt gerade wieder als negativer Abstoßungspunkt, ohne zu klären, was für einen positiven, ambigen Vielfaltsbegriff Bauer dagegenhalten kann.

Und genau darin zeigt sich die ganze Misere. Solange der Schlüsselbegriff, der alle Phänomene gedanklich klammern und erklären soll – eben die Ambiguität selber –, nicht sauber entwickelt wird, droht der Gedanke ins Beliebige zu zerfransen. Bei aller Sympathie für sein Lob auf die Ambiguität verfängt sich Bauer ob der Vielfalt der betrachteten Phänomene letztlich in seinen eigenen Begrifflichkeiten. Vielleicht würde Bauers Plädoyer für die Ambiguität dieser gerechter werden, wenn sie – ausnahmsweise versteht sich – eindeutiger wäre.

Literatur
Bauer, Thomas (2018): Die Vereindeutigung der Welt: Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt. Reclam Verlag, Stuttgart.

© Marvin Dreiwes

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