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In Depth – shortread: In was für einer Welt leben wir eigentlich? Überlegungen zur „Rückkehr zur Normalität“

Veröffentlicht am 17. Juni 2021

Hannah Feiler

„Wann kehren wir zur Normalität zurück?“, „Wir sind in der neuen[1] Normalität angekommen“, „Die neue Normalität ist digital“. So oder so ähnlich lauteten und lauten in den letzten Monaten Überschriften von Artikeln in ganz unterschiedlichen Medien. Neben Diskussionen über die Vor- und Nachteile des Homeoffice[2] [3] gibt es medizinische Einschätzungen darüber, ob wir auch nach Abschluss der Impfkampagne weiterhin in öffentlichen Verkehrsmitteln oder beim Einkaufen einen Mund-Nasen-Schutz tragen sollten.

„Normalität“ ist das Schlagwort der Corona-Pandemie.

Neben all diesen Stimmen ist in zahlreichen Artikeln die Rede von einer „Rückkehr zur Normalität“[4] [5]. Mal neidisch[6] beim Blick auf mögliche Privilegien von Geimpften, mal als Setzung, die die Forderung zum Ausdruck bringt, auch an die Wirtschaft zu denken oder als Feststellung – ganz so, als sei nichts geschehen und man könne „nach Corona“ einfach weitermachen wie bisher.[7]

Die „Normalität“ stellt in all diesen Aussagen und Diskussionen den Bezugspunkt dar, ohne dass genauer bestimmt wird, was damit gemeint ist. Der Begriff bleibt in der Regel unterbestimmt und wird als Synonym für die Zeit vor Beginn der Pandemie verwendet.[8] Damit scheint vielfach eine Sehnsucht nach Sicherheit, Planbarkeit oder nach klaren und überschaubaren Verhältnissen verbunden zu sein. Diese Interpretation der „Normalität“[9] zeugt von einer privilegierten Perspektive.[10] In Kombination mit den Begriffen „Krise“ und „Ausnahmezustand“ suggeriert die erwünschte „Rückkehr zur Normalität“, dass dieses Vorher besser war. Schaut man sich die beschworene Normalität jedoch genauer an, stellt man fest: Besonders erstrebens- und erhaltenswert ist sie nicht. Warum also zu etwas zurückkehren, was bereits vor der Pandemie überarbeitungsbedürftig war – und wie ist die Realität dieser „Normalität“ beschaffen?

Es geht mir in diesem Text um die Bedeutungsebenen des Begriffs „Normalität“ und die Bezugsrahmen, die impliziert sind und dadurch eine bestimmte Vorstellung von Normalität in den Vordergrund rücken. Mit „Normalität“ scheint ein bestimmter Fall gesellschaftlicher Ordnung gemeint zu sein, eine spezifische Vorstellung davon, wie die Realität beschaffen sein muss, um als „normal“ anerkannt zu werden. Zu welcher „Normalität“ soll also zurückgekehrt werden? Wessen Lebensrealität findet sich in dieser Forderung wieder – und welche Lebensrealitäten waren zwar normal im Sinne von real, aber alles andere als wünschenswert? Was impliziert der Begriff „Normalität“ und wen oder was schließt er aus? „Kann „Normalität“ tatsächlich mit „gut“ bzw. „richtig“ gleichgesetzt werden? Welche Narrative werden hier wirksam?

Um der Beantwortung dieser Fragen näher zu kommen, muss zunächst geklärt werden, was unter dem Begriff „Normalität“ zu verstehen ist. Im Anschluss werde ich Perspektiven auf „Normalität“ kurz skizzieren, um zu zeigen, dass „normal“, sofern dies als wertender Begriff verwendet wird, Ausschlüsse produziert. Schließlich werde ich unter Rückbezug auf die Analyse Eva von Redeckers zeigen, was impliziert wird, wenn man sich auf die „Normalität vor Corona“ bezieht.

Normalität – Zur Begriffsgeschichte und -verwendung

Etymologisch[11] gesehen leitet sich „Normalität“ vom Altgriechischen φύσις (phýsis) ab und bezieht sich zunächst auf den gesunden bzw. „naturgemäßen“ Zustand des Körpers. Auch in der lateinischen Übersetzung zu „norma“ (wörtlich: „Maß“ oder „Richtschnur“) bleibt die Verbindung zum „Naturgemäßen“ oder „Natürlichen“ erhalten, auch wenn der Begriff zunächst im Bereich der Architektur zur Anwendung kam. Hier ist zudem impliziert, dass die Natur niemals gleichförmig oder regelmäßig ist. Die Abweichungen an sich sind bereits Teil der Normalität. Neben dem Gesundheitswesen bzw. philosophischen Schriften über den Körper lässt sich die Wirkung des Begriffs in Architektur, Gesetzgebung sowie dem Bildungswesen nachvollziehen.

„Normalität“ ist sowohl normativ als auch deskriptiv wirksam und kann somit als moralische Kategorie betrachtet werden. Letzteres findet sich auch heute noch im Sprachverständnis wieder, wenn im alltagssprachlichen Ausdruck „normal“ mit „gut“, „angemessen“ oder „richtig“ gleichgesetzt wird – und Abweichungen von diesem Verständnis entsprechende negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Insofern wirkt die Zuschreibung von „Normalität“ wie ein Rahmen, der (gesellschaftlich) erwünschte Verhaltensweisen begrenzt.

Für das heutige alltagssprachliche Verständnis stellt der Soziologe Johannes Stehr fest, dass „Normalität […] dabei meist als Negation, als Feststellung von Abweichung, zur Sprache“ kommt.

„Die vermeintlich eindeutige Unterscheidung zwischen Normalität und Abweichung gehört zum Repertoire des so genannten „gesunden Menschenverstands“. Normalität und Abweichung werden als Gegensätze betrachtet, die zudem als Merkmale und Eigenschaften bestimmter Menschen und ihrer Handlungen behauptet werden.“[12]

„Normalität“ ist nach Stehr also das, was als Maßstab, als Mittelwert bzw. Durchschnitt gilt. Um eine Abweichung als solche bezeichnen zu können, muss zuvor feststehen, was als Vergleichswert, als „normal“ gilt – und somit zur wirksamen Norm wird. Wie die antike Verwendungsweise in juristischen Kontexten nahelegt, sind „Normen“ an Gesetze gebunden bzw. sind es Gesetze, die Normen schaffen, formulieren und bestätigen. So gesehen ist die Gesetzgebung ein Instrument, mit dem sich „Normalität“ gestalten lässt. Stehr führt noch weitere Möglichkeiten der Gestaltung aus:

„Diese Auseinandersetzungen [um die Deutungshoheit im Zusammenhang mit Normalität und Abweichung, Anm. H.F.] können darum kreisen, eine Kategorie der Abweichung (über die Strategien der Problematisierung, Skandalisierung und Moralisierung) neu zu etablieren bzw. eine bereits existente Abweichungskategorie (über die Strategien der Entmoralisierung und Normalisierung) abzuschaffen, oder die Zuständigkeit für ein bereits von anderen Akteuren oder Institutionen anerkanntes Problem für sich selbst zu reklamieren (Umdefinition von Abweichungsformen).“[13]

„Normalität“ kann demnach nicht als etwas Selbstverständliches oder „Natürliches“ betrachtet werden, sondern ist als etwas Gemachtes, Konstruiertes, Gestaltetes – und somit Gestaltbares – anzusehen. Ist etwas, eine Verhaltensweise, ein körperlicher Zustand o.Ä., erst einmal als „Normalität“ anerkannt, wird es gewissermaßen unsichtbar – die anzustrebende Norm, die nicht weiter hinterfragt werden muss.

Normative Normalität

Auch wenn es das alltagssprachliche Verständnis suggeriert, ist „Normalität“ weder wertfrei noch „natürlich“. Bei der Erzeugung von „Normalität“ handelt sich vielmehr um eine gesellschaftliche Praxis und somit ist sie etwas sozial Konstruiertes, also Veränderbares. Das Herstellen von „Normalität“ unterliegt bestimmten Normierungsvorgängen, die sowohl aktiv als auch passiv ablaufen. Als „normal“ in diesem Sinne gilt dann das, was nicht auffällt und nicht erklärungsbedürftig ist.

Die Aushandlungsprozesse dessen, was innerhalb einer Gesellschaft als „normal“ anerkannt wird, können unterschiedliche Formen annehmen, z. B. Gesetzgebungsverfahren, zivilgesellschaftliches Engagement, akademische und mediale Diskurse. Sie beeinflussen und durchdringen sich gegenseitig. „Normalität“ ist also ein „Nicht-Begriff“, eine Hülle ohne Inhalt, die das scheinbar Selbstverständliche in einer Gesellschaft bezeichnet – eben das, was nicht hinterfragt werden muss und nur durch das Auftreten einer Abweichung sichtbar wird. Aus solchen Zusammenstößen von „Normalität“ und „Abweichung“ entstehen politische Auseinandersetzungen, in deren Verlauf möglicherweise ein neues Verständnis von „Normalität“ in den betreffenden Diskurs und Lebensbereich einkehrt. Die Herstellung von „Normalität“ in diesem Sinne ist eine Auseinandersetzung, ein Streit um Deutungshoheit und kann, mit Jacques Rancière gesprochen, als ein politischer Vorgang betrachtet werden, der eine „Neuaufteilung des Sinnlichen“[14] vornimmt. Die Zugangsvoraussetzungen sind jedoch ungleich verteilt. Die Seite, auf der man sich selbst bei dieser Einteilung befindet, markiert einen Unterschied ums Ganze, denn wer als „normal“ angesehen wird, dem wird automatisch die Deutungshoheit zugeschrieben. „Normalität“ kann also aus unterschiedlichen Perspektiven sehr unterschiedliche Lebensrealitäten erzeugen, sodass die eigene Realität zwar normal im Sinne von gewohnt und alltäglich erscheint, aus einer anderen Perspektive jedoch als eine Abweichung und folglich als nicht normal markiert wird: Nicht jede Normalität ist in diesem Sinne normal.[15] „Denn die Gestaltung von Zuschreibungskriterien hat immer auch etwas damit zu tun, welche Vorstellung sich eine Gemeinschaft von Verhalten macht, das als Handlung gelten soll. […] Was wir als Handlung bestimmen, hängt maßgeblich davon ab, wer wir sein wollen oder glauben sein zu sollen“, heißt es bei Christoph Möllers.[16] „Normalität“ oder vielmehr das, was in einer Gesellschaft oder Gruppe als normal angenommen wird, wird je unterschiedlich erfahren. Treffen unterschiedliche Normalitätswahrnehmungen im selben Raum aufeinander, kommt es zu Erschütterungen in der eigenen Wahrnehmung: Durch die Erfahrung, dass man selbst in einem Raum (als anders markiert) auffällt, wird ein Bruch in der scheinbar objektiv überprüfbaren Wahrnehmung der Normalität spürbar: die einen nehmen einen Einbruch in ihre Normalität wahr, die anderen bekommen zu spüren, dass sie eine Abweichung von dieser Normalität darstellen. Die Deutungshoheit über die Situation und über die Benennung von „Normalität“ und „Abweichung“ sind zu oft eindeutig, denn sie orientiert sich an gesellschaftlichen Machtverhältnissen. Und auch wenn sich diese verändern und verschieben, lässt sich für die „Normalität“ in Deutschland im Jahr 2021 feststellen, dass sie weiß, heterosexuell, männlich, der Mittelschicht zugehörig ist. Dabei steht nicht zur Debatte, dass die Realität zweifelsfrei weitaus vielschichtiger ist. Dennoch entfalten die genannten Kategorien bzw. Marker eine Wirkmacht von großer Reichweite, wenn es um Sichtbarkeit oder Chancengleichheit geht.

An den erwähnten Differenzen können sich strukturelle Probleme wie Rassismus oder Sexismus zeigen. Sie wirken ent-subjektivierend, setzen einen objektivierenden Prozess in Gang, der viel zu oft unbewusst auf Seiten der Privilegierten, also derjenigen, die scheinbar „normalerweise“ in diesen Raum gehören oder denen diese Zugehörigkeit wie selbstverständlich zugeschrieben wird. Sara Ahmed beschreibt diesen Vorgang in ihrem Essay „A phenomenology of whiteness“, indem sie aufzeigt, dass weiß als „Normalfall“ angenommen wird und die Erfahrung einer rassifizierten Person in weißen Räumen eine unterbrochene Erfahrung ist:

„For bodies that are not extended by the skin of the social, bodily movement is not so easy. Such bodies are stopped, where the stopping is an action that creates its own impressions. Who are you? Why are you here? What are you doing? Each question, when asked, is a kind of stopping device: you are stopped by being asked the question, just as asking the question requires that you be stopped. A phenomenology of ‘being stopped’ might take us in a different direction than one that begins with motility, with a body that ‘can do’ by flowing into space.“[17]

Vor diesem Hintergrund muss Rassismus als Unterbrechung der grundsätzlichen Erfahrung eines „ich kann“ gedeutet werden. Um die Struktur sichtbar zu machen, die Erfahrungen des „ich kann nicht“ verstärkt hervorbringt und sie zudem nur bestimmten Körpern zuschreibt, müssen wir den Blick auch und vor allem auf die Farbe richten, die keine sein will und auf die damit einhergehenden (privilegierten) Erfahrungen – und somit gleichzeitig auf das Ausbleiben unterbrochener Erfahrungen.

Kommen wir noch einmal zurück zu den Überlegungen zur Bedeutung von „Normalität“: Durch die Grenzziehung zwischen „Normalität“ und „Abweichung“ werden explizit Ausschlüsse produziert: Ausschlüsse von Gruppen oder Verhaltensweisen durch entsprechende Gesetzgebung oder implizite Ausschlüsse durch soziale Praktiken (bspw. racial profiling bei Polizeikontrollen; Entscheidungen für die Neubesetzung von Vorstandsposten großer Unternehmen oder Zusammensetzungen von Redaktionen, Jurys und anderen Entscheidungsgremien).

Gleichzeitig nivelliert „Normalität“ Unterschiede und Abstufungen: Sie umfasst auch Extreme, bezieht sie ein und gleicht sie so aus, dass die Mitte aus ihnen das ist, was wir „Normalität“ nennen. Es entsteht ein dynamischer Durchschnittswert. Eine Änderung der Bezugsrahmen ermöglicht folglich auch eine Änderung dessen, was wir als Normalität ansehen. Aber welche Bezugsrahmen dienen als Bezugspunkte für die sehnsüchtige Forderung nach einer „Rückkehr zur Normalität“?

Bestandsaufnahme: Welche Realität ist normal?

Kehren wir zurück zur Ausgangsfrage: Welche Normalität ist gemeint, wenn von einer „Rückkehr zur Normalität“[18] gesprochen wird? Mal wird dabei die Forderung mit der Aufhebung der Schutzmaßnahmen im Zusammenhang mit der Pandemie gleichgesetzt[19], mal bleibt es bei einer sehnsüchtig-inhaltsleeren Phrase.

Was aber wird impliziert, wenn seit Beginn der Pandemie in verschiedenen Medien von „Normalität“ (jeweils vor oder nach Corona) gesprochen wird? Was gilt in unserer Gesellschaft als normal? In was für einer Welt leb(t)en wir eigentlich?

Die Philosophin Eva von Redecker zeichnet in ihrem im Herbst 2020 erschienenen Buch „Revolution für das Leben“[20] ein düsteres Bild des gesellschaftlichen Istzustands – des Zustands, der scheinbar vielen nach wie vor als „normal“ und somit erstrebenswert gilt. Sie formuliert eine umfassende Kapitalismuskritik und bezieht dabei nicht nur ökonomische Missstände ein, sondern markiert auch gesellschaftspolitische Felder, auf denen es zwar zivilgesellschaftliche Forderungen und Aktivismus gibt (sie nennt etwa die Klimabewegung oder Engagement gegen Rassismus und (Polizei-) Gewalt wie Black Lives Matter oder Ni una menos), auf denen ansonsten jedoch seit Jahren der Status quo verwaltet zu werden scheint. Diese Kritik dient ihr als Ausgangspunkt und Anlass für ihre Theorie einer „Revolution für das Leben“, deren Ansätze sie weltweit in Form von Widerstand gegen zerstörerische und ausbeuterische Praxen sieht, die hauptsächlich der Gewinnmaximierung, nicht jedoch dem Erhalt gemeinsamer Lebensgrundlagen dienen. „Unter den Bedingungen einer globalen Pandemie wird dieser Kampf greifbarer und allgegenwärtiger. Er wird auch verzweifelter. Ganze Sektoren der Lohnarbeit entpuppen sich nämlich als Lebenszerstörung.“[21]

Durch die Pandemie verschärfen sich Probleme, die schon lange bestehen, werden wie unter einem Brennglas sichtbar. Irrsinn und Absurditäten rein ökonomischer Logiken, die sicher nicht auf das Wohl der Menschen abzielen, sondern nur von Profitgier bestimmt werden, zeigen sich ebenso wie die vielzitierten Grenzen des Wachstums.

Von Redecker beschreibt eine Realität, in der rassistische, antisemitische und misogyne Übergriffe, Polizeigewalt, rechtsextrem motivierte Anschläge wie etwa der vom 19.02.2020 in Hanau ebenso dazu gehören wie laxe Maßnahmen für den Klimaschutz. Die Aufzählung ließe sich beliebig erweitern.

Von Redecker skandalisiert die Normalität dieser Verhältnisse, zeigt Alternativen auf und nennt Akteur*innen, für die diese Form der Normalität eine Abweichung von einem wünschenswerten Zustand darstellt. Als Gegenwelt zu der spätkapitalistischen Realität, in der wir leben, entwirft sie eine Welt, in der der Erhalt von und die Sorge um die gemeinsamen Lebensgrundlagen – und um ein soziales Miteinander – als Entscheidungs- und Handlungsgrundlagen gelten.

Was von Redecker vorschlägt, ist eine realutopische Umdeutung der gegenwärtigen Verhältnisse. Sie analysiert den destruktiven Status quo, beobachtet bestehende Tendenzen diesen zu verändern und denkt konsequent in Richtung einer „neuen Gemeinschaft“ oder eines „neuen geteilten Imaginären“ weiter.

„Die Revolution für das Leben erwächst aus dem, was Arendt immer wieder ‚das Wunder des Handelns‘ genannt hat. Aber sie ist keine Wiederverzauberung der Welt. Sie ist deren Wiederannahme. Die menschliche Natur und Phantasie erlauben beim Aufgreifen von Regenerationszyklen eine unvergleichliche Beweglichkeit. Man kann sich allen möglichen Zusammenhängen widmen. Wirklich: allen möglichen. Ich rede hier viel von Bäumen, aber wir können auch bei Stadtteilbibliotheken, Espresso-Kollektiven und Magnetschwebebahnen einsetzen. Wichtig ist nur, dass sich in der Revolution für das Leben die fatalen Raster auflösen, die uns an rasendes, totes Holz gebunden haben.“[22]

Zurück in die Zukunft?

Wir haben gesehen, dass „Normalität“ weder ein objektiver noch wertfreier Begriff ist, sondern sich vielmehr auf die Deutungshoheit innerhalb eines Bezugsrahmens bezieht. Insofern ist er immer schon mit impliziten Vorstellungen und Erwartungen aufgeladen, die je nach Perspektive verschiedene Realitäten erzeugen. Wirft man einen Blick auf das, was innerhalb einer Gesellschaft als „normal“ gilt, ergibt sich ein Bild der herrschenden Machtstrukturen.

Bezüglich des Wunsches nach einer „Rückkehr zur Normalität“ lässt sich feststellen, dass diese Sehnsucht mehrere Ebenen impliziert. Da ist das, was Einzelne als ihre persönliche Normalität sehen und nach der sie sich sehnen. Dazu gehört das Verfolgen privater Interessen, Treffen mit Freund*innen und Familie, Freizeitbeschäftigungen. Hinzu kommt das, was als gesellschaftlich gewünschte Normalität gilt, wie ungehinderter Zugang zu Bildung und Gesundheit. Schließlich gibt es noch die negativen Aspekte, die zu unserer gesellschaftlichen Realität gehören und die ich oben mit Rückbezug auf von Redecker beschrieben habe (von einer Krise zur nächsten; Klimawandel, Kapitalismus, zunehmend erstarkende Rechte …). Während die ersten beiden Wunschkategorien legitime und nachvollziehbare Wünsche beinhalten, führt die dritte Kategorie deutlich vor Augen, was durch das reine Wunschdenken verdeckt wird: die hässlichen Seiten dessen, was wir als „Normalität“ hinnehmen. Der Erhalt dieser Aspekte führt die einseitige Perspektive vor Augen: „Normalität“ impliziert, wie ich versucht habe zu zeigen, eine bestimmte Erwartungshaltung und den (unbewussten) Wunsch nach Machterhalt. So nachvollziehbar der Wunsch nach der „Rückkehr zur Normalität“ ist, wenn es um die Sehnsucht nach der selbstverständlichen Umarmung von Freund*innen oder Familienmitgliedern, das Wahrnehmen von Kulturangeboten oder unbeschränkte Ausflugsmöglichkeiten handelt, enthält die unreflektierte Verwendung dieses Begriffs immer schon etwas Reaktionäres, das jedoch von der vermeintlich „eigentlichen“ Bedeutung verdeckt wird: Sie (re-)produziert systematisch Ausschlüsse, denn das, was hier immer mit aufgerufen wird, ist eine sexistische, rassistische, umweltzerstörerische (schlicht lebensfeindliche) Realität. Wie wünschenswert kann das sein? Die Herausforderung besteht folglich in der Antwort auf die Frage nach der konkreten Ausgestaltung. Für von Redecker sind solche Antworten in der „in den Zwischenräumen bereits angebrochene[n] Revolution“[23] zu finden. Denn „wir brauchen einen großen Knall, um vom Hier in ein anderes Jetzt zu kommen.“[24] Mit diesem Ansatz eröffnet sie Möglichkeiten, wie eine „neue Normalität“ herzustellen wäre, ohne einer Krise-als-Chance-Rhetorik zu verfallen. Dazu bedarf es jedoch einer Anerkennung der Realität der Krise, die über die Trauer einer vergangenen „Normalität“ hinausgeht, sowie einer Anerkennung der Tatsache, dass die Pandemie unsere Gesellschaften bereits verändert hat und weiter verändern wird. In welche Richtung diese Veränderungen sich entwickeln, ist kontingent. Das Anstreben einer pluralisierten Realutopie wäre jedoch allemal wünschenswerter als ein reaktionäres Beharren auf einer „Normalität“, über die ausschließlich eine privilegierte Personengruppe entscheidet.

© Hannah Feiler

Hannah Feiler M.A. studierte Philosophie und Theater in Hildesheim und Montpellier. Zurzeit verfolgt sie ein Promotionsprojekt am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim und forscht in diesem Rahmen zu möglichen Verbindungen zwischen Philosophie, Politik und Tanz. Darüber hinaus wirkte sie an verschiedenen Theaterprojekten mit, u.a. am Format Theatrales Philosophieren in Hamburg. Derzeit ist sie als Produktionsleitung und Projektkoordinatorin für die Compagnie Fredeweß tätig.


[1]          Der Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits hat den Begriff der „neuen Normalität“ bzw. „new Normal“ vor einigen Jahren in Bezug auf die Politik Donald Trumps geprägt. Die Formulierung wird seitdem von österreichischen und deutschen Politiker*innen verwendet. Auf diesen Begriff und seine Implikationen werde ich hier nicht weiter eingehen. Vgl. dazu: https://www.heise.de/tp/features/Die-neue-Normalitaet-Gewoehnt-Euch-dran-4717934.html (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[2]         https://www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/kommentare/Kommentar-Digital-ist-die-neue-Normalitaet,corona6770.html (abgerufen am 23.5.2021).
[3]          https://www.humanresourcesmanager.de/news/corona-krise-alarmzustand-oder-neue-normalitaet.html (abgerufen am 23.5.2021).
[4]          https://www.n-tv.de/politik/Braun-Dann-kehren-wir-zur-Normalitaet-zurueck-article22407123.html (abgerufen am 23.5.2021).
[5]          https://www.rnd.de/gesundheit/eine-neue-normalitat-HDOJAJBBTZHZHBKHX54LII4FTI.html (abgerufen am 23.5.2021).
[6]          https://www.tagesspiegel.de/politik/wenn-freiheit-neidisch-macht-die-rueckkehr-zur-normalitaet-wird-alles-andere-als-einfach/27132688.html (abgerufen am 23.5.2021).
[7]          Ich gebe nicht für jeden dieser Artikel eine Quelle an, da es mir nicht um eine Diskursanalyse oder eine Untersuchung der Verwendung des Begriffs „Normalität“ im Zuge der Corona-Berichterstattung geht. Die Beobachtung einer vermehrten Verwendung der Phrase „Rückkehr zur Normalität“ dient lediglich als Ausgangspunkt und Anlass meiner Überlegungen.
[8]          vgl. z. B. https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-impfstoffe-erlauben-keine-schnelle-rueckkehr.676.de.html?dram:article_id=488822 (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[9]          vgl. https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/corona-tagebuch-alle-reden-von-back-to-normal-100.html (zuletzt abgerufen am 23.5.2021).
[10]        Auch dieser Text ist aus einer privilegierten Perspektive geschrieben: Ich bin eine weiße Akademikerin, able-bodied, mit einem verlässlichen sozialen Netzwerk, einer festen Arbeitsstelle und einem sicheren Wohnort – Voraussetzungen, die es mir ermöglichen oder zumindest erleichtern, diesen Text zu schreiben.
[11]        Vgl. Ritter, Henning Hanns / Kudlien, Fridolf: „Normal, Normalität“, in: Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie / Bd. 6 Mo – O, S. 920-930.
[12]        Stehr, Johannes: „Normalität und Abweichung“, in: Albert Scherr (Hrsg.): Soziologische Basics. Eine Einführung für pädagogische und soziale Berufe, Wiesbaden 2013, S. 191.
[13]        Stehr: „Normalität und Abweichung“, S. 193.
[14]        Vgl. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin 2008.
[15]        Innerhalb dessen, was als normal angesehen wird, können unterschiedliche Normen wirksam sein. Darauf werde ich hier nicht weiter eingehen.
[16]        Möllers, Christoph: Die Möglichkeit der Normen. Über eine Praxis jenseits von Moralität und Kausalität, Berlin 2015, S. 33.
[17]        Ahmed, Sara: „A phenomenology of whiteness“, in: Feminist Theory 2007 8, S. 161. (online abrufbar hier: https://journals.sagepub.com/doi/abs/10.1177/1464700107078139).
[18]        https://www.rnd.de/gesundheit/warten-auf-den-corona-impfstoff-und-die-normalitat-zuruck-ins-leben-aber-wann-CXORZL2EHFDFLAX4DCWV2L6QJM.html  (abgerufen am 23.5.2021).
[19]        https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-impfstoffe-erlauben-keine-schnelle-rueckkehr.676.de.html?dram:article_id=488822 https://www.deutschlandfunk.de/coronavirus-impfstoffe-erlauben-keine-schnelle-rueckkehr.676.de.html?dram:article_id=488822.
[20]        von Redecker, Eva: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen, Frankfurt a.M. 2020.
[21]        von Redecker: Revolution für das Leben, S. 10.
[22]        von Redecker: Revolution für das Leben, S. 155 f. (Hervorhebung H.F.)
[23]        von Redecker: Revolution für das Leben, S. 15.
[24]        von Redecker: Revolution für das Leben, S. 16.


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