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Schwerpunktbeitrag: Entweder – Oder. Zum 200. Geburtstag von Sören Kierkegaard

Veröffentlicht am 6. Mai 2013

„Wie eine einsame Tanne, vereinzelt, abgeschlossen und nach dem Höheren gerichtet, stehe ich da, werfe keine Schatten, und nur die Waldtaube baut ihr Nest in meinen Zweigen“; das schrieb Sören Kierkegaard, der berühmteste dänische Existenz- und Dialektik-Philosoph und Existenz- und Dialektik-Theologe über sich selbst, dessen Geburtstag sich am 5. Mai zum 200. Male jährt. Darin klingen die wichtigsten Themen seines umfangreichen Lebenswerkes verschlüsselt und doch erkennbar an: Die Rolle des Einzelnen, nicht des „Einzigen“ und auch nicht nur eines selbstischen Individuums im Angesicht des „Höheren“, jenes Gottes also, zu dem sich der Einzelne in der Gleichzeitigkeit verhält; die existentielle „Geworfenheit“ und damit Verantwortung eines immer in der Entscheidung stehenden Selbst; die Schattenlosigkeit eines Denkers, der eben kein System, keine „Schule“, keinen „Ismus“ schaffen möchte und keine korrumpierenden Mächte zu akzeptieren gewillt ist, sondern den denkenden Menschen in die Schranken von Situation und Entscheidung fordert. Innerhalb einer Schaffensperiode von gerade einmal 12 Jahren schrieb Sören Kierkegaard unablässig: 15 Foliobände, zahlreiche nachgelassene Schriften und Tagebücher; und doch blieb er zu Lebzeiten einsam, wenngleich umstritten beachtet. Er hatte sich fast nur Feinde gemacht in seinem kleinen Land, weil er keine Kompromisse eingehen konnte und wollte: Entweder ein Leben mit Gott oder eben ein Leben ohne Gott. Eines seiner Hauptwerke trägt den Titel „Entweder – Oder“.
Aber in den Zweigen seiner einsamen Tanne lebt eine Waldtaube, die sich eben nicht auf Kosten anderer in den Himmel schwingt. Friedrich Nietzsche, jener ebenfalls räsonierende und resignierende Einzelne, den Kierkegaard allerdings nie getroffen hat, sieht seine einsame Tanne am Abgrund, wo niemand mehr Gast sein möchte, nur ein schadenfroher Raubvogel vielleicht. Der Ohnmacht seines „Übermenschen“ tritt bei Kierkegaard die Allmacht des mit den suchenden Menschen gleichzeitig gewordenen Christus gegenüber. In der Selbstsetzung des Menschen in seinen Gott ereignet sich seine Menschwerdung, und zwar korporativ für ihn selbst und für „sein ganzes Geschlecht“. In seinem Tod 1855 schließlich versuchte Sören Kierkegaard, die Welt sogar zu überleben und den Akt der Transzendenz existenziell, also ohne händchenhaltende Begleitung zu leisten; der Alleingang eben eines Einzelnen.
Es sind mindestens zwei Richtungen, in welche Kierkegaards Wegweisung auch nach 200 Jahren zu führen scheint: seine Umdeutung der christlichen Botschaft von der Kirchlichkeit zum gelebten Christsein einerseits und sein existentielles, ironisierendes Denken weg von der idealistischen Spekulation und Analyse zu einem Menschsein in und aus der dialektischen Synthese. Er begann seine schriftstellerische Laufbahn mit einer Doktorarbeit zum „Begriff der Ironie mit ständiger Beziehung auf Sokrates“.
Die Christenheit hat im Verlauf ihrer Geschichte sich selbst und das Christentum verloren; es gilt, die Christenheit wieder zu christianisieren, und zwar durch die christliche Existenz des Einzelnen, also nicht über die kirchlichen Massen, sondern dadurch, dass der Christ mit seinem Christus gleichzeitig wird. So könnte man in aller Kürze seine Grundposition in der „Einübung im Christentum“ und im „Buch über Adler“ beschreiben. Der Einzelne ist in existentielle Subjektivität gerufen, in seinem jeweilig einzigartigen „Kairos“, im erkannten richtigen Augenblick. Deshalb hieß die letzte Zeitschrift aus seiner Feder, in der er vor allem mit seiner dänischen Kirche abzurechnen versuchte, „der Augenblick“. Dieser „einzelne Mensch“ ist jedoch nicht losgelöst von den anderen Menschen, sondern „zugleich das ganze Geschlecht“, also wie Adam und Christus mitmenschlich eingebunden nach dem Urbild des „wo zwei oder drei in meinem Namen beisammen sind“.
Kierkegaard bedauert keineswegs die summarischen Kirchenaustritte oder den Priestermangel; im Gegenteil. Die christliche Gemeinde der wenigen „zwei oder drei“ wird gebildet aus dem Zusammenwirken von Einzelnen in der Gleichzeitigkeit mit dem menschgewordenen Gott; und dabei kommt es nicht auf die Menge der „Einzelnen“ an. Deshalb sind Christenheit und Christentum eben auch nicht identisch. Christentum wird durch die Entscheidung im Glauben ggf. auch quia absurdum gebildet, also durch das Wagnis, durch den angstbewussten Sprung in die Arme des unverfügbaren Gottes. Die damit verbundene existentielle Krise ist für den eigentlich absurden „Sprung“ hinein in die unverdiente Gnade konstitutiv. Solche Glaubenssache des Einzelnen kann von der Theologie als Wissenschaft nicht erfasst werden und auch nicht von der Pfarrerkirche mit Examen und Pensionsberechtigung oder von einer Kirche als Dienstleistungsanstalt. Es wäre nicht wünschenswert, wenn „wir alle Pfarrer wären“; denn Pfarrer brauchen Examen, aber keine Berufung. Das ist auch der Grund, warum dieser theologische Einzelne zum Ende seines Lebens aus der dänischen Staatskirche austritt.
Das Bindeglied zwischen diesem existenztheologischen Ansatz und der von ihm begründeten Existenzphilosophie ist das „Selbst, das sich zu sich selbst verhält; das Verhältnis ist nicht das Selbst, sondern dass das Verhältnis sich zu sich selbst verhält.“ Indem es sich zu sich selbst verhält, kann es sich auch zu einem anderen verhalten. Hinter dem Selbst aber steht die Macht, die das Selbst setzt. So gibt es also ein endliches und ein ewiges Selbst; wenn der Mensch eines davon verspielt, geht er seines „Menschentums“ verlustig; dann gerät er in Verzweiflung bzw. in die „Krankheit zum Tode“, wie eine weitere seiner bedeutenden Schriften überschrieben ist. Und das Bindeglied zum Anderen ist vor allem die Sprache als dialogische Bestimmung des Geistes; wohlgemerkt nicht das „Wortemachen“, also das „Worten“, sondern das „Antworten“ ist Dialog. Sprechen und Gesprochen-werden rufen das Selbst, den Geist, die Wahrheit hervor.
Die zweite Richtung, auf die uns Kierkegaard „aufmerksam“ macht, ist jene Denkweise, die wir unter dem Stichwort der Existenzphilosophie kennen, und die von Dänemark aus vor allem Deutschland (Heidegger, Jaspers, Wust) und Frankreich (Sartre, Marcel, Camus) erfasst hat. Sie besagt, dass sich die Wahrheit nicht „objektiv“ erkennen lässt, sondern mit Herz und Intellekt von der ganzen Persönlichkeit des jeweils Einzelnen, von jenem, der „bei seinem Namen gerufen“ wurde in der Ver-Antwortung vor seinem Schöpfer und dem ganzen Geschlecht. Seine Identität ist die Über-Ein-Stimmung mit sich selbst.
Der Mensch ist eben eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit, Zeitlichkeit und Ewigkeit, Freiheit und Notwendigkeit, Ungewissheit und Wagnis. Kierkegaard thematisiert diese Synthese sogar als eine Art Wegbeschreibung, in deren Mitte die „Angst“ steht, nicht als Bange-Sein, sondern als jenes Gefühl, das ihn bei der Entdeckung seiner selbst befällt, erschreckend und anziehend zugleich. Diese Angst ist die Möglichkeit der Freiheit innerhalb der Spannungsbögen von Freiheit und Notwendigkeit. Die zeitgenössische sogn. „Psychologie“ ist gemessen daran lediglich eine Verhaltenslehre, aber eben keine Seelenlehre. Ähnliche Verhaltenslehren unterschiedlicher Professionen haben deshalb die Zerstörung von Religion und Ethik mit begründet; sie definierten zwar viele moderne Freiheiten, haben jedoch alle innere Freiheit und damit auch Ver-Antwortung verloren.
Kierkegaard formuliert zwar seine „existentielle Stellungnahme“ zur Welt über die Synthese von Freiheit und Notwendigkeit. Aber er bedenkt dabei nicht das „Und“; das blieb dann erst der dialogischen Philosophie eines Levinás, eines Rosenzweig und eines Buber vorbehalten; seine Forderung nach einem Leben in der Gleichzeitigkeit mit Jesus dem Christus sucht nach den Möglichkeiten einer Co-Existenz mit Gott. Nur so kann der Mensch letztlich Subjekt seines eigenen Handelns werden, aber immer nur als Einzelner – nicht vereinzelt, nicht vereinsamt, aber als Einzelner im Gebet beispielsweise oder auch im Streitgespräch mit Gott. Von diesem Ausgangspunkt aus könnte Kierkegaard wieder zum Impulsgeber für das kontroverstheologische und ökumenische Gespräch werden: von der theologischen Universitätsdisziplin zur existenziell begründeten Verantwortung und Entscheidung, von den dialektischen und diskursiven Polen zu einem gelebten „Und“.
Bei den diesjährigen Jubiläen und Gedenkfeiern um Giuseppe Verdi und Richard Wagner scheinen nicht nur die Völkerschlacht bei Leipzig, sondern auch dieser große Denker, Sören Kierkegaard, aus dem Blickfeld zu geraten. Dabei könnten sich beispielsweise der Übergang von Josef Ratzinger zu Jorge Bergoglio, wie auch der Abschied von den auslaufenden „Ismen“ des Kommunismus, Kapitalismus, Materialismus, Idealismus und Liberalismus bei ihm bedienen. Kierkegaards „Einzelner“ tritt sogar an gegen den solipsistischen „Einzigen“ Max Stirners, welcher in Gestalten von Führern, Diktatoren, Funktionären und Amtsträgern bis heute fröhliche Urstände feiert; und das lässt zusammen mit Sören Kierkegaard weiterhin hoffen.

Prof. Dr. Franco Rest, Prof. em. für Erziehungswissenschaften, Sozialphilosophie/ Sozialethik an der Fachhochschule Dortmund. Nähere Informationen finden Sie unter https://www.angewandte-sozialwissenschaften.fh-dortmund.de/rest/

Die pdf-Version des Beitrags zum Download finden Sie hier: 03 Franco Rest, Kierkegaard

(c) Franco Rest

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