Versuch über die Aktualität von Hans Blumenbergs philosophischer Anthropologie vor dem Hintergrund paläoanthropologischer und kognitionswissenschaftlicher Episteme
Anna Sophie Reuter
1 Einleitende Worte
„Der Mensch ist das Tier, das einen aufgerichteten Gang hat.“[1] Auf dieser zunächst einfachen, an eine Formulierung Herders angelehnten, Feststellung fußt Hans Blumenbergs philosophische Anthropologie, wenn er den aufrechten Gang für die Entwicklung und Eigenart des Menschen als entscheidend klassifiziert.[2] Zugleich beschreibt er den Menschen als ein Mängelwesen, das sich selbst nur deshalb an die Spitze der Evolution setzen kann, da „jeder vermeintliche Fortschritt der Entwicklung nicht ein Superadditum, sondern die Lösung einer akuten Schwierigkeit der Selbsterhaltung gewesen ist“[3].
Aufrechter Gang, die damit einhergehende Veränderung der Perspektive sowie die Bedürftigkeit, sich in einer spezifischen Umwelt zurechtzufinden, sind allerdings nicht nur Aspekte von Blumenbergs Überlegungen hinsichtlich der Genese des Menschen, sondern koinzidieren mit aktuellen kognitionswissenschaftlichen und paläoanthropologischen Epistemenen. Diese transdiziplinäre Nähe zu Kognitionswissenschaft und Paläoanthropologie macht Blumenbergs philosophische Anthropologie in den Momenten seiner Ausführungen interessant, in denen er für einen Werkzeug- sowie metaphorischen Charakter der Sprache argumentiert: als jenes Mängelwesen benötigt der Mensch sprachliche Konstrukte, um seine Wirklichkeit zu gestalten; dabei präfigurieren Überzeugungen (in Form von Metaphern und Mythen), wie die Welt wahrgenommen wird. Ähnliche Thesen lassen sich in der Extended Mind-Theorie von Andy Clark und David Chalmers finden, da auch sie davon ausgehen, dass Überzeugungen einen aktiven Einfluss auf die Wahrnehmung und Gestaltung der Umwelt ausüben. Unter anderem diese Theorie wiederum spielt eine Rolle in der Interpretation archäologischer Artefakte und paläoanthropologischer Erkenntnisse. So plädiert Ben Jeffares dafür, dass die Bipedität des Australopithecus, der wie der heute lebende Mensch zu den Hominiden gezählt wird, eine physiologische Veränderung darstellte, die umfassende Konsequenzen für seine Kognition mit sich brachte[4], womit sich der Kreis zu Blumenberg schließen ließe.
Dabei muss jedoch einerseits berücksichtigt werden, dass Blumenbergs Kenntnisstand der Wissenschaften sich auf dem der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts befindet und er darüber hinaus zusätzlich Theorien miteinbezieht, die damals mehrere Jahrzehnte alt waren, und dass er andererseits eine generalisierende Anthropogenese aufgrund dieser wissenschaftlichen Episteme entwickelt. Insofern verstehen sich die folgenden Überlegungen nicht als ein Korrektiv zu Blumenbergs an manchen Stellen überholten Paradigmen, sondern vielmehr als eine skizzenhafte Engführung seiner philosophischen Anthropologie mit Ideen der zeitgenössischen.
2 Blumenbergs Anthropologie und Metaphorologie
2.1 actio per distans
Blumenberg definiert den Menschen als ein „Subjekt der actio per distans“[5] und gelangt zu der Hypothese, dass der „Vorläufer des Menschen“ wegen seiner Fähigkeit zum aufrechten Gang Angreifern gegenüber einen Vorteil besitzt, da er die „vorderen Extremitäten mit dem Zweck der Verteidigung durch den Wurf“ einsetzen kann.[6] Wichtig ist an dieser Stelle nicht, inwiefern sich seine Hypothese im Hinblick auf paläoanthropologische Erkenntnisse verifizieren lässt, sondern dass diese Annahme einen zentralen Stellenwert in seiner Beschreibung des Menschen einnimmt. So ist die actio per distans für ihn „spezifisches Radikal des menschlichen Leistungskomplexes“[7]. Mit der Distanz sowohl zum Angreifer wie zur Beute und dem bewussten Einsetzen von Wurfwaffen sowie deren Herstellung schaffe sich der Mensch einen Vorsprung gegenüber dem Selektionsdruck und mache aus der Not seine Lösung. Er verallgemeinert damit einen Entwicklungsprozess, der sich über Millionen von Jahren entwickelt haben könnte, und konzentriert sich auf das angenommene Ergebnis dieses Prozesses. Die Konsequenz daraus lautet, dass sich antizipierendes Denken über das Hier und Jetzt der gegebenen Situation hinaus entwickelte:
„Allem zuvorkommen, womit handgemein zu werden fällig werden könnte, bedeutet vor allem, das eigene Handeln im Horizont der Möglichkeit zu lokalisieren. Das aber heißt, daß die Anschauung durch das Denken verdrängt wird. Die akuten Situationen müssen bewältigt werden, bevor sie eintreten – also auch, ohne daß sie eintreten, schließlich auch und gerade, damit sie nicht eintreten. Der Mensch lebt aus der Sicherheit der räumlichen und zeitlichen Entfernung dessen, was ihm zustoßen kann, schließlich und am Ende mit dem Versuch, diese Entfernung absolut zu machen.“[8]
Die Distanz zum anderen und zu etwas anderem als sich selbst wird in Blumenbergs Anthropogenese durch den aufrechten Gang und der damit veränderten Perspektive ermöglicht, das heißt, durch das Gewahrwerden eines Horizonts. Felix Heidenreich resümiert Blumenbergs Umgang mit Erkenntnissen der Paläoanthropologie:
„[A]us der konkreten biologischen Fähigkeit zu actio per distans folgt nach Blumenberg eine epigenetische Entwicklung weiter Distanzierungsleistungen. Da der Mensch auf Distanz töten kann, kann er es sich leisten, zu zögern. Afferenz und Efferenz, sinnlicher Eindruck und körperliche Reaktion müssen dann nicht mehr in einem instinktiven, direkten Verhältnis zueinander stehen, sondern können durch das Moment der Reflexion unterbrochen werden. Aus der Distanzfähigkeit zum biologischen Gegner oder zum Opfertier erwächst folglich die Möglichkeit zur Selbstdistanznahme.“[9]
Die Möglichkeit, die eigene Umwelt optisch anders zu erschließen als es die Quadrupedie erlaubt, führt dazu, „den weite[n] Raum der Steppe“, wie Blumenberg schreibt,
„nach Entfernung und damit Vorwarnzeiten abschätzend [zu gliedern und] so wird diejenige Zeitspanne erworben, die einem Verhalten seine Stelle gewährt, das für uns nach Überlegung und Entscheidungsfindung aussieht.“[10]
Mit der actio per distans geht die Fähigkeit einher, präsumtiv, antizipatorisch und provisorisch zu agieren; das bedeutet auch, Abwesendes als anwesend zu imaginieren und anders herum Anwesendes als abwesend – und damit sei die Voraussetzung zum Begriff gegeben. Denn die Leistung des Begriffs beruht darauf, einen abwesenden Gegenstand als anwesend und verfügbar anzubieten. Damit rekurriert Blumenberg auf basale linguistische Annahmen hinsichtlich des Verweischarakters der Sprache, um sie für seine Anthropogenese produktiv zu machen.[11] Erst der Begriff, als kognitive Manifestation des Eingriffs in die Wirklichkeit, „fängt den Zugriff der selektiven Mechanismen auf das organische System selbst ab“[12].
2.2 Metaphors we live by
Der „Situationssprung“[13], den der Blumenberg’sche Vormensch vollzog, als er sein Habitat wechselte und sich somit eines – genauer: seines – Horizonts bewusst wurde, und die damit zusammenhängende Unangepasstheit an eine neue Umwelt sind der Ausgangspunkt des Begriffs. Eng mit dem Begriff verwandt ist jedoch auch die Metapher, „weil sie […] in der Ursprungssphäre des Begriffs beheimatet ist“[14]. Begriff und Metapher als sprachliche Artefakte spielen für die Genese des Menschen insofern eine Rolle, als dass sie die Wirklichkeitsauffassung strukturieren und diese Leistung im Laufe der Entwicklung beibehalten haben. So plädiert Blumenberg für eine Metaphorologie als Subdisziplin der Philosophie, da Gebrauch und Umformung von spezifischen Metaphern (beispielsweise der des Lichts) Wandlungen des Welt- und Selbstverständnisses indizieren. Grundstein dieser Metaphorologie bildet die Annahme, Begriffe der philosophischen Terminologie seien nicht klar definiert, sondern vielmehr Bestandteil eines nicht genau abgesteckten metaphorischen Feldes. Daher wendet er sich gegen die Vorstellung, „der philosophische Logos haben den vorphilosophischen Mythos ›überwunden‹“[15]. Obschon nicht mehr primär auf Geschichten und Erzählungen zurückgegriffen wird, um essentielle Fragen des menschlichen Lebens zu klären, bedient sich eine philosophische, dem Logos verpflichtete, Sprache Bildern, um abstrakte Ideen zu illustrieren. Bewegt sich die philosophische Terminologie im Rahmen einer derartigen Sprache – im „weiten[n] Feld mythischer Transformationen“[16] –, schlägt sich dies in „einer vielgestaltigen Metaphorik“ nieder.[17] Während Blumenberg Begriffe als das Instrumentarium beschreibt, das vor dem Zugriff der Selektion zu schützen vermag und die sich in der philosophischen Sprache per definitionem als starr erweisen, sind es Metaphern, die einen Blick auf die „Substrukturen des Denkens“[18] gewähren können. Blumenberg gehört damit zu den Vertretern einer Metapherntheorie, die die Metapher nicht als bloße rhetorische Figur oder Substitut eines äquivalenten begrifflichen Ausdrucks verstehen, sondern ihr eine kognitive Leistung zusprechen.
3 Blumenberg extended
Blumenberg macht den Vormenschen als Wesen der Distanz emphatisch, das aufgrund der durch die veränderte Umwelt induzierten physischen Veränderung schließlich eine Form der Selbst- und Fremderfahrung entwickeln und so zum Begriff kommen kann. Sprache wird dabei vor allem als Mittel zum Umgang mit der Umwelt problematisiert. Damit ist jedoch nicht allein die materielle Umwelt in Form von Gelände, Beute und Angreifern anderer Art gemeint, sondern auch Artgenossen. Wenn er schreibt, dass der Mensch als „animal symbolicum […] ein auf Einsparung von Konfrontation mit der Wirklichkeit […] angelegtes Wesen“[19] ist, dann gehört zu dieser Wirklichkeit auch der Andere. Mittels Sprache können Situationen simuliert werden, in denen Handlungen vorweggenommen und Emotionen stabilisiert werden.[20] Rhetorisch und thematisch bewegt sich Blumenberg damit in ähnlichen Gegenden wie moderne Philosoph*innen. So argumentiert Kim Sterelny dafür, dass der vergleichsweise späte Zeitpunkt, an dem Menschen anfingen „to [act] like humans“, mit einer Steigerung der Komplexität des Kooperationsverhaltens einherging:
„[A]s the economic organization of forager lives changed, they evolved a set of social tools for limiting conflict costs: (1) an elaborated kinship system; (2) explicit norms; (3) rituals, ceremonies, myths.“[21]
„Einsparung von Konfrontation“ beziehungsweise „limiting conflict costs“ resultiert sowohl in Blumenbergs als auch in Sterelnys Argumentation in der Nutzung von (proto-sprachlichen) Symbolen.
Auch hinsichtlich seiner Begriffs-Theorie findet Blumenbergs spekulative Anthropologie neue Resonanz, insbesondere im Bereich der Extended Mind-Theorien der Kognitionswissenschaft: Shaun Gallagher sieht ähnlich wie Blumenberg eine Korrelation zwischen der Entwicklung zur Bipedie und der Fähigkeit, sich die eigene Umwelt begrifflich verständlich zu machen. Er rekapituliert „embodied approaches to cognition“ in Bezug auf den aufrechten Gang, und welche Implikationen dies für den Erwerb von Vernunft hat.[22] Denn Vertreter der Extended Mind-Theorien wie Clark und Chalmers gehen davon aus, dass Kognition keine rein interne Leistung des Gehirns ist, sondern:
„[They] involve resources and elements that are external to the neuronal structures of the brain, and in some cases external to the organism. The use of these external resources shapes cognitive processes.“[23]
Damit erfahren die materielle und soziale Umwelt des Menschen, seine Werkzeuge und Technologien eine erhöhte Aufmerksamkeit. Eine klare Grenze zwischen Geist und Welt zu ziehen, erscheint sodann weder sinnvoll noch angemessen; der Umwelt wird in Bezug auf Kognitionsprozesse eine aktive Rolle zugesprochen.[24] Auf diese Ideen rekurrierend erläutert Gallagher die Interdependenzen zwischen der zur Bipedie sich entwickelnden Physis und der Veränderung kognitiver Prozesse: „With these changes what counts as the world is redefined since such changes bring along changes in what we can see and what we can grasp.“[25] Das entspricht nicht nur insofern Blumenbergs Anthropologie, als dass es eben jene Interdependenzen emphatisch macht, sondern auch indem es rhetorisch aufgreift, was Blumenberg suggeriert: im englischen to grasp wie im deutschen begreifen ist die Polyvalenz des manuellen Greifens und kognitiven Begreifens enthalten. Folgerichtig beschäftigt sich Gallagher daher ebenso wie Blumenberg mit der Hand – oder vielmehr mit den kognitiven Kapazitäten, die sich daraus ergeben, sobald die oberen Extremitäten nicht mehr zur Fortbewegung nötig, sondern beim Laufen frei sind.[26] Blumenberg leitet daraus die Notwendigkeit des Begriffs als das „Residuum des manuellen Eingreifens in die Wirklichkeit“[27] ab, um die Neigung des Menschen, Wissen über sich selbst erlangen zu wollen, zu erläutern und somit seine Metaphorologie als Teilgebiet der philosophischen Anthropologie zu etablieren. Er statuiert:
„Der Absolutismus der Wirklichkeit […] bedeutet, daß der Mensch die Bedingung seiner Existenz annähernd nicht in der Hand hatte und, was wichtiger ist, schlechthin nicht in seiner Hand glaubte.“[28]
In der Blumenberg’schen Logik ist „etwas in der Hand zu haben“ nicht nur Metapher für Handlungskontrolle und Verstehen, sondern Indiz für die menschliche Entwicklung, die derartige sprachliche Leistungen erst initiieren konnte. Dass es sinnvoll ist, sich insbesondere in der Philosophie mit derartigen Korrelationen von Körper und Geist zu beschäftigen, scheint Gallagher ebenfalls zu erkennen, wenn er schreibt: [I]n the history of philosophy hands are inserted here and there to provide a firm grasp on some important philosophical notions.[29]
Blumenbergs Extrapolation des Zusammenhangs von Hand und Begriff wird in seiner Radikalität zwar nicht von aktuellen Extended Mind-Theorien gespiegelt und doch gibt es Parallelen zwischen seiner Metaphorologie und Clarks und Chalmers’ Theorie. Wenn Blumenberg postuliert, es sind Metaphern, anhand derer sich die „Wandlung des Welt- und Selbstverständnisses“[30] ablesen lässt, weist er ihnen als eine bestimmte Form der Sprache einen ähnlichen für Kognition konstitutiven Charakter zu wie es Clark und Chalmers tun. Auch sie gehen davon aus, dass Sprache nicht bloß Spiegel innerer mentaler Vorgänge ist, sondern ein Werkzeug,
„whose role is to extend cognition in ways that on-board devices cannot. Indeed, it may be that the intellectual explosion in recent evolutionary time is due as much to this linguistically-enabled extension of cognition as to any independent development in our inner cognitive resources.“[31]
Clark und Chalmers vertreten in „The Extended Mind“ die Position, dass Kognitionsprozesse sich nicht in einem abgeschlossenen Geist abspielen, sondern an „external entit[ies]“[32], wie Notizbücher, delegiert werden können. Ob jemand davon überzeugt ist, zu wissen, wo ein bestimmter Ort ist, ohne ein Notizbuch mit dieser Information konsultieren zu müssen, oder ob jemand zunächst in einem derartigen Notizbuch nachschlägt, überzeugt davon, dass die dort angegebene Information stimmt, ist für Clark und Chalmers insofern dasselbe, als dass das Ergebnis identisch ist.[33] Überzeugungen hinsichtlich des Status’ der Umwelt sind keine Produkte interner Kognitionsprozesse, sondern, Clark und Chalmers zufolge, verbunden mit externen Einheiten, „creating a coupled system that can be seen as a cognitive system in its own right“[34]. Ausschlaggebend für dieses „coupling“ ist dabei Sprache. Blumenberg, Clark und Chalmers gehen dementsprechend alle davon aus, dass Sprache als Werkzeug einen Bezug zur äußeren Welt herstellt, der präfiguriert, wie wir sie wahrnehmen. Der Philosoph und Kulturanthropologe Ben Jeffares greift diese Gedanken auf und verweist in einem selbstreflexiven Gestus darauf, solche alternativen Kognitionsmodelle bei der Interpretation archäologischer Artefakte zu berücksichtigen: „It is […] important to note that changes in our understanding of the modern contemporary cognition will change our understanding of the cognitive past.“[35] Im selben Paper, in dem Jeffares für die Implementierung moderner Kognitionstheorien plädiert, stellt er die Entwicklung zum aufrechten Gang der Australopithecinen als „major cognitive leap“[36], das heißt als wichtigen Faktor zur Menschwerdung, in den Fokus. Neue Kognitionstheorien nutzend, um die Hominiden des Pliozän zu verstehen, macht Jeffares deutlich, dass der Übergang zur Bipedalität die Möglichkeiten der kognitiven Beschäftigung mit der Umwelt veränderte.[37] Damit bestätigt er Blumenbergs Auslegung des anthropologischen Kenntnisstands seiner Zeit und bietet aus einer aktuellen philosophisch-wissenschaftlichen Perspektive Gründe, Blumenbergs philosophische Anthropologie weiterhin zu berücksichtigen.
Jeffares weist zwar darauf hin, dass es noch keine hinreichenden Erklärungen gibt, warum genau Australopithecinen zum aufrechten Gang wechselten, sucht aber dennoch zu erläutern, dass „the ability to exploit the potentially more open habitats of Eastern and Southern Africa in the Pliocene“ eine Schlüsselrolle dafür spielte.[38] Das bedeutet, die These Blumenbergs, der Ursprung des Menschen sei mit dem Gewinn von Distanz verbunden,[39] bestätigt Jeffares. Denn er argumentiert ebenfalls dahingehend, dass es plausibel ist anzunehmen, dass die kognitiven Fähigkeiten der Australopithecinen mit der Entfernung, die sie aufgrund der Bipedie zurücklegen können, in engem Zusammenhang stehen.[40] Der dadurch entstehende Raum- und Zeitgewinn ist sowohl für Jeffares als auch für Blumenberg signifikant, da er Voraussetzung dafür ist, die Umwelt anders wahrzunehmen: So kann sie für die eigenen Bedürfnisse strukturiert und unabhängig von der direkten Landschaft genutzt werden. „Temporal depth of planning“ und „tactical decision“[41] gehören nun zum Fähigkeitenrepertoire der Australopithecinen. Auf die Veränderung der Perspektive durch den aufrechten Gang hingegen geht Jeffares nur in einer Fußnote ein:
„Even more speculatively, the change in posture from quadruped to biped also changes the visual relationship with the environment. Upright hominins monitor a subtly different world than their quadruped kin. […] How much this change in monitoring shapes cognition is unclear. […] But it is an area worth studying.“[42]
Ein Gebiet, das Blumenberg längst als der Beschäftigung würdig erkannte, da für ihn Sichtbarkeit ein weiteres entscheidendes Fatum in der Entwicklungsgeschichte ist.[43] Der sensorische Vorteil der Selbstaufrichtung besteht nicht nur in der Wahrnehmung des Horizonts, sondern in der des Selbst: „Selbstbewußtsein entsteht aus der Entdeckung der Visibilität in ihrer raumzeitlichen Konsistenz.“[44]
Wichtig für Blumenbergs Anthropogenese, für sein Verständnis von Selbstbewusstsein und auch von Vernunft ist die Idee, dass die physische Entwicklung des Menschen die kognitive indiziert. So kann beispielsweise von der rein körperlichen Fähigkeit, einen Gegenstand zu greifen, über einen langen Zeitraum hinweg die Fähigkeit zum kognitiven Begreifen abstrahiert werden. [45] Mit derartigen Thesen bewegt sich Blumenberg in grundsätzlich ähnlichen Sphären wie diejenigen Philosoph*innen und Paläoanthropolog*innen, die unter Berücksichtigung des Körperlichen Kognitionstheorien entwickeln.
4 Fazit
Wenn sich, wie diese Überlegungen veranschaulichen sollen, herausstellt, dass Blumenbergs philosophische Anthropologie in den Grundannahmen bezüglich der Evolution zum Menschen aus heutiger Perspektive haltbar ist, dann erscheint es sinnvoll, im Rahmen philosophischer Kognitionstheorien seine Thesen zu evaluieren. Dabei sollte allerdings nicht außer Acht gelassen werden, dass Blumenbergs Anthropologie teilweise pauschalisierend und mittlerweile veraltet anmuten mag. So vertritt er evolutionstheoretisch eine Art savannah hypothesis, die für seine Argumentation notwendig ist, um den Habitatswechsel von bewaldetem Gelände zu freien Steppen heranzuziehen und den Menschen als Distanzwesen zu erläutern, die nach aktuellem Kenntnisstand aber obsolet ist. Seine Anthropologie ist daher aus paläoanthropologischer oder generell naturwissenschaftlicher Perspektive zu ungenau. Doch Blumenbergs Schriften zeugen von einer Materialfülle, die sich unterschiedlichster Disziplinen bedient. Das heißt, er steht für ein transdisziplinäres Arbeiten ein, das in die Philosophie Episteme anderer Bereiche einschließen möchte, um ein möglichst adäquates Bild des Menschen und seiner Menschwerdung zu erlangen. Anthropologie im Blumenberg’schen Sinne ist eine „Hermeneutik der Selbsterkenntnis, das Lesen des Textes, das Entziffern der Symbole, in denen sich das Ich gegen seine eigenen Widerstände lesbar machen will.“[46]
Im Rahmen dieser Ausführungen kann nur angerissen werden, dass Blumenberg bereits vor der Etablierung von Extended Mind-Theorien Thesen vorstellte, die darauf hinaus laufen, die kognitive Entwicklung des Menschen in Korrelation zu seiner Physis zu analysieren. Nun gilt es nicht, zu überprüfen, inwiefern jene Thesen noch valide sind, sondern ob sie weiterhin einen Anstoß bieten, Theorien darüber aufzustellen, wie so etwas wie Geist oder Vernunft entstanden ist. Diese Vernunft ist für Blumenberg zwar Wesensmerkmal des Menschen, aber nur zufällig; eine Kompensationsleistung des Vormenschen,
„die letzte Ausflucht und der verzweifelte Kunstgriff dieses organischen Systems […], um mit den Widrigkeiten einer ihm entstandenen lebensbedrohlichen Sackgasse seiner Daseinsbedingungen fertig zu werden.“[47]
Sie ist keine Leistung, die den Menschen plötzlich aus seiner evolutionären Unmündigkeit befreien konnte, sondern eine weitere mühsam erworbene Fähigkeit, sich einer widrigen Umwelt gegenüber zu behaupten und sich selbst zu erhalten. Wie der Begriff und die Metapher lässt sich Vernunft nur anthropogenetisch verstehen – und schließlich nur vor dem Hintergrund der Frage, was der Mensch glaubt, von sich wissen zu können. Dies wiederum legitimiert den Versuch, sich mit diversen Manifestationen der Selbsterkenntnis zu beschäftigen.
Literaturverzeichnis
Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990.
Blumenberg, Hans: Beschreibung des Menschen. Hrsg.: Manfred Sommer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.
Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“. In: Ders.: Ästhetische und metaphorologische Schriften. Hrsg.: Haverkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 139-171.
Blumenberg, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1998.
Blumenberg, Hans: Theorie der Unbegrifflichkeit. Hrsg: Anselm Haverkamp. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
Clark, Andy, and David Chalmers: „The Extended Mind“. Analysis (1998) 58, S. 7-19. http://www.jstor.org/stable/3328150.
Gallagher, Shaun: Enactivist Interventions. Rethinking the mind. Oxford: University Press 2017.
Heidenreich, Felix: Mensch und Moderne bei Blumenberg. München: Wilhelm Fink 2005.
Jeffares, Ben: „Back to Australopithecus: Utilizing New Theories of Cognition to Understand the Pliocene Hominins“. Biological Theory (2014) 9, S. 4-15. https://doi.org/10.1007/s13752-013-0146-7.
Sterelny, Kim: „A Paleolithic Reciprocation Crisis: Symbols, Signals, and Norms“. Biological Theory (2014) 9:65-77. https://doi.org/10.1007/s13752-013-0143-x.
© Anna S. Reuter
Anna S. Reuter studiert im Master Philosophie an der Goethe Universität Frankfurt am Main, nachdem sie dort ihren Bachelorabschluss in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft machte. Zu ihren Interessenschwerpunkten gehören insbesondere das Verhältnis von (Dynamiken der) Sprache und der (Be)Gründung von Realitäten sowie die Auseinandersetzung mit Theorien zur Kognition entlang der Grenze zwischen Philosophie / Literaturtheorie einerseits und Naturwissenschaften andererseits.
[1] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 518.
[2] Vgl. ebd.
[3] Ebd., S. 523.
[4] Vgl. Jeffares: Back to Australopithecus: Utilizing New Theories of Cognition to Understand the Pliocene Hominins, S. 4.
[5] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 592.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 575.
[8] Ebd., S. 593.
[9] Heidenreich: Mensch und Moderne bei Hans Blumenberg, S. 37.
[10] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 558f.
[11]Wie essentiell es für Blumenberg ist, sich bei der Entwicklung des Menschen mit dem Begriff auseinanderzusetzen, wird noch einmal deutlich, wenn man folgenden Passus berücksichtigt: „Jede Anthropologie muß wenigstens eine Möglichkeit anbieten, innerhalb ihrer Erklärungsleistungen auch dies zu verstehen, wie der Mensch auf den Begriff gekommen sein könnte, um durch ihn auf ganz anderes zu kommen. Es genügt nicht, eine schöpferische Urleistung des Menschen zu nennen. Es muß gezeigt werden, in welcher Situation der Begriff dem Menschen einen wesentlichen Schritt der Sicherung seines Daseins ermöglichte. Dabei ist zu beachten, daß das Tier-Mensch-Übergangsfeld begrenzt wird durch die Fähigkeit des tool using als Basisleistung und die des tool making als Spitzenleistung.“ (Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 535.)
[12] Ebd., S. 539.
[13] Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 10.
[14] Blumenberg: Theorie der Unbegrifflichkeit, S. 28.
[15] Blumenberg, Hans: Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, S. 139.
[16] Ebd.
[17] Vgl. ebd.
[18] Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 13.
[19] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 614.
[20] Vgl. ebd.
[21] Sterelny: A Paleolithic Reciprocation Crisis: Symbols, Signals, and Norms, S. 71.
[22] Vgl. Gallagher: Enactivist Interventions, S. 164.
[23] Jeffares: Back to Australopithecus: Utilizing New Theories of Cognition to Understand the Pliocene Hominins, S. 5.
[24] Vgl. Clark/Chalmers: The Extended Mind, S. 7.
[25] Gallagher: Enactivist Interventions, S. 167.
[26] Vgl. ebd., S. 174.
[27] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 599.
[28] Blumenberg: Arbeit am Mythos, S. 11.
[29] Gallagher: Enactivist Intentions, S. 175 [Hervorhebung AR].
[30] Blumenberg: Licht als Metapher der Wahrheit, S. 140.
[31] Clark/Chalmers: The Extended Mind, S. 18.
[32] Ebd., S. 8.
[33] Vgl. ebd., S. 13: „In both cases the information is reliably there when needed, available to consciousness and available to guide action, in just the way that we expect a belief to be.“
[34] Ebd., S. 8.
[35] Jeffares: Back to Australopithecus: Utilizing New Theories of Cognition to Understand the Pliocene Hominins, S. 14.
[36] Ebd., S. 4.
[37] Vgl. ebd., S. 6.
[38] Ebd., S. 9.
[39] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 608.
[40] Vgl. Jeffares: Back to Australopithecus: Utilizing New Theories of Cognition to Understand the Pliocene Hominins, S. 11.
[41] Vgl. ebd.
[42] Ebd.
[43] Vgl. Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 777.
[44] Ebd., S. 803.
[45] Vgl. dazu auch: Johnson, Mark: Embodied, Mind, Meaning, and Reasoning. How our bodies give rise to understanding. Chicago: The University of Chicago Press 2017, S. 15: „[W]e [Johnson and Lakoff] discovered that the source domains of common cross-cultural metaphor systems are typically based on our sensory, motor, affective, and interpersonal experiences and cognitive capacities, all of which involve our embodiment. In other words, metaphors are shaped by the nature of our bodies and brains as we engage our physical and social environments.“
[46] Blumenberg: Beschreibung des Menschen, S. 526.
[47] Ebd., S. 520.
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