InDepth – shortread: Unsichere Mathematik. Der Grundlagenstreit und seine Problematik

Paulina Brause

Mit Bezug auf die Mathematik sagte Bertrand Russel einst: „Seit man begonnen hat, die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.“[1]  Gleichwohl genießt die Mathematik seit jeher ein hohes Ansehen in unserer Gesellschaft, da sie mit ihrer Objektivität und ihrer (scheinbar) widerspruchsfreien Struktur ein Idealbild von Wissenschaft verkörpert. Nicht ohne Grund basieren viele weitere Wissenschaftsgebiete auf den Grundlagen der Mathematik, denn ob etwa die Turbinen eines Flugzeugs die zum Abheben nötige Schubkraft erzeugen, lässt sich einfach berechnen. Klare Regeln – in Beweisführung, wie auch in Berechnung – führen zum Ergebnis. Kein Wunder also, dass wir uns auf die Mathematik verlassen, sie hat uns in ihrer Anwendbarkeit niemals enttäuscht.
Bei genauerer Betrachtung müssen wir uns allerdings von diesem Ideal verabschieden und Bertrand Russell Gehör schenken. Denn so klar die Mathematik in ihrer Anwendung auch zu sein scheint, so uneinig sind sich Mathematiker*innen und Philosoph*innen seit Jahrtausenden über ihre Art und ihre Beschaffenheit.

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InDepth – longread: Vom Defizitmodell des Menschen zur digitalen Humanität. Was unterscheidet Menschen von Künstlicher Intelligenz?

Prof. Dr. Ulrich Hemel

Anwendungen Künstlicher Intelligenz (KI) prägen längst unseren Alltag, häufig unerkannt. KI erleichtert den Alltag, ermöglicht aber auch Machtmissbrauch und Manipulation. Wir haben als Gesellschaft darüber hinaus längst gelernt, schwache KI von starker KI zu unterscheiden. Auch in der Politik ist die Regelbedürftigkeit von KI-Anwendungen angekommen. Beispielsweise hat die EU hat in der Zwischenzeit Risikoklassen von KI-Anwendungen formuliert (European Commission, 2019). Grundsätzlich ist die Erfahrung, dass neue technologische Entwicklungen auch Risiken und Gefährdungen nach sich ziehen, nicht neu.
Über technische und politische Fragen hinaus wird ein entscheidender Punkt häufig unterschätzt. Dabei geht es um die Auswirkungen einer neuen Technologie auf das menschliche Selbstbild. Die Frage einer selbstreflexiven Vorstellung des Menschen von sich selbst in Reaktion auf technische Entwicklungen ist bislang jedoch eher ein blinder Fleck der Philosophie. Aus diesem Grund soll hier die Frage nach der Abgrenzung zwischen Menschen und Künstlicher Intelligenz im Vordergrund stehen.

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InDepth – longread: Wider die Ironie. Mit Christoph Schlingensief

Anne Specht

Kein Ausspruch Schlingensiefs wäre anlässlich seines heutigen Geburtstages treffender als dieser: „Ich bin nicht der geworden, der ich sein wollte.“[1] Ein Mann, der so vieles war: Regisseur, Parteigründer, Talkmaster, Aktionskünstler und schlussendlich Krebskranker. Bis zu seinem frühen Tod im Alter von 49 Jahren regte Schlingensief Debatten an, löste Empörung aus, ließ die Grenzen dessen, was Kunst ist, bzw. zu sein hat, hinter sich. Die Dynamik der Auseinandersetzung mit seiner Person war wesentlich von der Frage motiviert, ob er sich dabei mit Inhalten auseinandersetze oder nur ein neues Medium zur Selbstdarstellung und öffentlichen Provokation ausprobiere. Jene Kontroverse lädt zur Diskussion eines philosophisch oft bemühten Begriffs ein. Denn wer Uneindeutigkeit und Vielseitigkeit als Wendigkeit deutet, bemüht das Bild der Ironie. Dies wird zur Anklage, wenn unterstellt wird, dass Ironiker*innen jede aufrichtige Einsicht zu ihrer Person verwehrten. Eine Weigerung, die die emotionale Rezeption Schlingensiefs erklären könnte – sofern er als Ironiker begriffen werden kann?

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InDepth – shortread: »Sie können diese Überschrift in 5 Sekunden überspringen« Zur Dialektik des Skippens.

Marvin Dreiwes

Technik steht uns nicht einfach in ihrer Materialität verheißungsvoll oder bedrohlich gegenüber. Eine philosophische Auseinandersetzung mit Technik muss gleichermaßen fragen, wie unsere praktischen Vollzüge immer schon »technisiert« sind, also Praxis selbst ein technisches Moment innewohnt. Ausgehend von diesem Gedanken werde ich im Folgenden die Praxis des Skippens als eine dialektisch verfasste Kulturtechnik untersuchen[1] Wenn vom Skippen als einer Kulturtechnik die Rede ist, geht es nicht bloß um einzelne Praktiken, die im Umgang mit einzelnen Artefakten in spezifischen Situationen auftauchen. Die Rede von einer Kulturtechnik zielt auf die Frage ab, wie eine Praxis umgreifend den praktischen Umgang mit und den Zugriff auf Welt, somit also Weltverhältnisse prägt. Diese Überlegungen schließen an Benjamins Gedanken an, die er in seinem Kunstwerkaufsatz entwickelt. Für Benjamin ist Wahrnehmung nicht natürlich und unveränderlich, sondern trägt einen historischen Index, sie ist »geschichtlich bedingt« (Benjamin 1963:14). Von Interesse für Benjamin waren bekanntermaßen die neuen Reproduktionsmöglichkeiten der Fotografie und des Films, die in Folge technischer Innovation ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auftraten. Diese machten nicht nur eine Neubestimmung dessen notwendig, was als »Kunst« galt, sondern veränderten auf eine fundamentale Weise, die Art wie überhaupt wahrgenommen und schließlich gehandelt wurde. Entscheidend ist dabei die Annahme, dass Technologien unsere Wahrnehmung und damit unsere Weltverhältnisse selbst strukturieren und formen können.[2] Genau gefasst lautet daher die Frage: Wie strukturieren und modifizieren technologisch bedingte Praktiken wie das Skippen die Praxisformen von Subjekten?

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