Es hieße heute erneut die Verletzlichkeit und das Versprechen der Demokratie zu denken, an die Derrida gemahnt hat.[1]
Die Demokratie, darauf hat Derrida hingewiesen, ist stets in irgendeiner Form bedroht. Diese Bedrohung ist nichts, das ihr einfach äußerlich wäre, sondern sie gehört zum Wesen der Demokratie selbst, oder besser: sie gehört zur Demokratie, da diese gerade eines eigenen und bestimmten Wesens ermangelt. Darüber nachzudenken, wie die Demokratie aussehen soll, gehört selbst zum demokratischen Prozess. Zur Demokratie gehört das Recht, sie selbst zur Debatte zu stellen, insbesondere ihre gegebene Form. So ist die Demokratie Gegenstand ihrer eigenen Aushandlung, sie ist eine Form der Selbstreflexion oder Kritik.
Damit zeichnet sie sich durch eine wesensmäßige Unbestimmtheit und Offenheit aus, sie ist durch und durch historisch, das heißt: nichts anderes als ihre im Wandel begriffene Formgebung. Mit Derrida gesehen liegt darin zugleich ein emanzipatorisches Versprechen und eine große Zerbrechlichkeit. Die Demokratie ist unabgeschlossen, das heißt: sie schließt sich nicht ab gegen Veränderung, gegen den Einspruch im Namen einer besseren Demokratie, gegen das Fremde und Andere. Darin ist sie entschieden antitotalitär. Sie ist eine Politik für jeden, das heißt nicht: für jeden Gleichen, sondern für irgendjemanden, egal, wer er ist.
Eine kommende Demokratie
Aber sie ist damit auch stets im Werden begriffen, eine „kommende Demokratie“, die nie ganz da ist, da sie immer entstehen muss. Mit anderen Worten: Es ist stets ein Einsatz für mehr Demokratie nötig, denn gerade darin besteht die Aufgabe, die die Demokratie uns stellt. So gesehen ist ihr Movens der Abstand, der sie von sich selbst trennt, die Unabgeschlossenheit und Fehlbarkeit der bestehenden Ordnung und die daraus erwachsende unendliche Aufgabe der Kritik und der Herstellung einer Demokratie, die diesen Namen verdiente. Ihr eignet folglich ein innerer Agonismus. Eine Demokratie, die im stillschweigenden Konsens zum Stillstand käme und nun selbstgenügsam in sich verharrte, erhielte letztlich doch wieder totalitäre Züge. Die Demokratie ist also, mit Derrida gesehen, zutiefst prekär. Nichts in ihrer Struktur kann verhindern, dass antidemokratische Ideen sich auf demokratischem Wege durchsetzen, oder dass etwa Feinde der Demokratie sich zur Wahl stellen – und gewinnen, wie dies 1933 geschah. Die Unterbindung dieser Möglichkeit erfordert den Einsatz undemokratischer Mittel, die die Demokratie dem angleichen, vor dem sie sie schützen wollen, wie etwa 1992 in Algerien, als die Wahl abgebrochen wurde, da die Antidemokraten sie für sich zu entscheiden drohten. Dies ist das der Demokratie immanente Dilemma, die Möglichkeit, mit der sie stets zu ringen hat, und die Herausforderung, die sie uns stellt.
Es gibt hier keine richtige Entscheidung. Doch für Derrida ist gerade dieses Dilemma das Initiationsmoment demokratischer Verantwortung. Die Widersprüchlichkeit und Bodenlosigkeit der Demokratie übereignet sie der Verantwortung eines jeden, für sie einzustehen: Sie kennzeichnet die Demokratie als eine ethische Aufgabe, der wir uns stellen müssen, ohne je zu wissen, ob wir ihr gewachsen sein werden. So heißt es bei Derrida:
„Ich glaube immer noch, daß diese Unentscheidbarkeit, welche die Demokratie ebenso einräumt wie die Freiheit selbst, die einzige radikale Entscheidungsmöglichkeit darstellt, die einzige Möglichkeit […], das Ankommen des Ankommenden, […] geschehen zu lassen oder […] als Geschehen zuzulassen. Sie eröffnet also bereits, für wen auch immer, eine gänzlich zweideutige und beunruhigende Erfahrung der Freiheit, bedroht und bedrohlich, wenn sie in ihrem ‚Vielleicht‘ verbleibt, und verbunden mit einer Verantwortung, die jedes Maß übersteigt und der sich niemand entziehen kann.“
Derrida, Schurken, S. 131.
[1] Bei diesem Text handelt es sich um einen Impuls, der am 10. November 2023 bei der Veranstaltung „Die Erde brennt! – Die Demokratie brennt!“ im Kulturzentrum Pavillon Hannover vorgetragen wurde.
Ich beziehe mich darin auf die Überlegungen zur Demokratie, die Jacques Derrida bspw. in ders., Schurken. Zwei Essays über die Vernunft [2003], übersetzt von H. Brühmann, Frankfurt a. M. 2006, oder ders., Politik der Freundschaft [1994], übersetzt von S. Lorenzer, Frankfurt a. M. 2002, ausgeführt hat. Vgl. dazu auch Reinhard Heil, Andreas Hetzel, „Die unendliche Aufgabe – Perspektiven und Grenzen radikaler Demokratie“, in: dies. (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, S. 7–23.
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