Eike Brock
Mario Vargas LLosa, seines Zeichens Literaturnobelpreisträger von 2010, hat jüngst ein zugleich zähnefletschendes und schwanzeinziehendes (mithin ein attackierendes und resignierendes bzw. ein kulturkritisches und kulturpessimistisches [1]) Buch vorgelegt, darin er eine Generalabrechnung mit der heutigen Kultur vornimmt – bzw. mit dem, was derzeit unter dem Namen ‚Kultur‘ firmiert. Das Werk ist in Deutschland unter dem (womöglich nicht allzu glücklichen) Titel erschienen Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (im Original: La civilización del espectáculo). Es handelt sich um einen Essayband, der sich ausgehend von einem in der Einleitung und in den ersten beiden Kapiteln entwickelten starken, aristokratischen Kulturbegriff in vier weiteren Kapiteln an den Themenfeldern ‚Erziehung‘, ‚Erotik‘, ‚Politik‘ und ‚Religion’ abarbeitet. In einem Schlussgedanken befasst sich der Autor schließlich mit den kulturellen Folgen der sogenannten ‚digitalen Revolution‘. Wollte man Llosas Vorwurf gegenüber der rezenten Kultur, die in seinen Augen nichts anderes ist als Unkultur (bzw. kulturlos vgl. S. 10, zu ihrem Wertungsraster vgl. S. 46), auf einen Begriff bringen, so ließe sich das durchaus bewerkstelligen. Llosas Verdikt lautet: Die Gegenwartskultur ist verkommen, weil sie frivol ist. Der Begriff ‚Frivolität‘ ist von zentraler Bedeutung für das Verständnis des Buches, weswegen Llosa größten Wert darauf legt, seine Leser darüber in Kenntnis zu setzen, was er im Sinn hat, wenn er vom Frivolen spricht: „Das Frivole besteht darin, sich auf einen kopfstehenden oder aus dem Gleichgewicht geratenen Wertekatalog zu stützen, wo die Form wichtiger ist als der Inhalt, der Schein wichtiger als das Sein und wo die Chuzpe und die Attitüde – die Darstellung – an die Stelle von Gedanken und Gefühlen treten.“ Mit Frivolität ist in aller Kürze gemeint: „eine Art, die Welt zu verstehen, das Leben, wonach alles Schein ist, also Theater, also Spiel und Vergnügen“ (S. 50). – Soweit zu Llosas Verständnis von Unkultur.
Dieser Unkultur setzt der Autor nun einen Kulturbegriff entgegen, der, ich sagte es bereits, zum einen stark und zum anderen aristokratisch ist. Darüber hinaus haftet ihm etwas Heroisches an. Stark ist er, insofern er relativ deutlich ist. Stark und aristokratisch ist er, indem er exkludiert. Stark, aristokratisch und heroisch ist er endlich, wenn anders Kultur, zumal auf dem prekären Feld des Existenziellen, Wesentliches leisten kann und soll.
Beginnen wir unsere nähere Betrachtung bei der Deutlichkeit. Llosa schreibt, er verstehe Kultur „als autonome Wirklichkeit, wozu Vorstellungen, ethische und ästhetische Werte ebenso gehören wie Werte der Kunst, die mit allen übrigen gesellschaftlichen Ereignissen interagieren und nicht bloß Reflexe sind, sondern am Beginn sozialer, ökonomischer, politischer und selbst religiöser Phänomene stehen“ (S. 23). Auf den ersten Blick scheint diese Bestimmung, so viel sei zugegeben, alles andere als deutlich. Indes, die Deutlichkeit ist relativer Natur. Wir begreifen sie qua Vergleich, wenn wir das in Augenschein nehmen, wovon Llosa sich abgrenzt. Es ist dies der alles vereinnahmende Kulturbegriff der Kulturanthropologie und -soziologie, die sich, nicht zuletzt unter dem Diktat der Political Correctness, bemüßigt fühlt, Kultur als Summe schlechterdings aller Lebensäußerungen jedweder Zivilisation zu definieren. Wertungen werden dabei peinlich vermieden, so dass am Ende alles gleichwertig ist. Anders ausgedrückt: Alles gilt gleich viel, alles ist gleichermaßen gültig, was wiederum in einer kierkegaard’schen Zuspitzung („heirate oder heirate nicht, du wirst beides bereuen“[2]) den Schluss zulässt: Alles ist belanglos (gleichgültig).
Wiederholt beklagt Llosa den Verlust objektiver Bewertungskriterien. Wir leben, meint der Schriftsteller, in einer Ära des Werte- und eben auch des Kulturrelativismus. Solchem Relativismus setzt Llosa die alte – vielen zeitgenössischen Stimmen zufolge eher noch: altbackene – Idee eines Kulturkanons entgegen, der, indem er exklusiv ist, naturgemäß exkludiert. Wahre Kultur in Llosas Sinne ist also einzig und allein die Hochkultur, gelegen auf einem Hochplateau des Geistes und der Kreativität. Wer sie erreichen will, muss entsprechend hoch hinaus. Er muss einen mitunter auch steinigen Aufstieg bewältigen. Kultur ist etwas, das sich der Einzelne erarbeiten muss. Dabei ist Llosa, der sich als leidenschaftlicher Kämpfer für die Demokratie versteht, wichtig zu betonen, dass nicht vom gesellschaftlichen Stand abhängt, wer die heiligen Hallen der Kultur erreicht, sondern vom Willen und der Fähigkeit des Einzelnen, sich hinaufzuschwingen. Auf diese Weise wird Kultur zu einer Lebensaufgabe; und wer nicht bereit ist, sich auch mit Komplexem und schwer Verständlichem auseinanderzusetzen, bleibt eben kulturlos. Wie für so Vieles im Leben gilt auch und vielleicht gerade für die Kultur: Ohne Fleiß kein Preis. Unterdessen wird der kulturgestählte Mensch für seine Mühen reichlich entlohnt. Denn Kultur ist von erheblicher existenzieller Bedeutung und versorgt den kultivierten Menschen mit einem existenziellen Rüstzeug, das ihn befähigt, sein Leben zu meistern, ohne die Augen vor dessen Abgründen verschließen zu müssen. Die großen Werke der Menschheit schotten ihren Blick keineswegs vor den Schattenseiten des Daseins ab: vor Not, Elend und Endlichkeit. Gerade weil sie so weit in die Tiefe hinabsteigen, können sie schließlich in die von ihnen erreichte gewaltige Höhe wachsen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie dem Abgründigen standhalten, ja sogar es in etwas Schönes zu verwandeln (zu transfigurieren) wissen: in Literatur, bildende Kunst, Philosophie usw. – kurz gesagt: in Kultur. Bei der Beschäftigung mit Werken der Hochkultur wird der einzelne Mensch radikal auf sich zurückgeworfen, und zwar sowohl wegen des Inhalts der entsprechenden Werke als auch wegen der geistigen und empathischen Anstrengung, die sie ihm abverlangen. Derart eröffnet die Hochkultur dem Einzelnen aber auch die Möglichkeit, seinerseits zu wachsen.
Llosa betont ausdrücklich, wie sehr der Mensch irgendeiner Form der Spiritualität bedarf, um mit der möglichen Absurdität des Lebens fertig zu werden (vgl. zumal S. 179ff.). In einer säkularisierten Gesellschaft steht der Nihilismus als, wie Nietzsche formuliert, der „unheimlichste aller Gäste“ [3] immer schon in Lauerstellung vor der Tür. Wir versuchen ihm heute den Eintritt zu verwehren, indem wir ihn verleugnen. Dabei setzen wir, ebenso wie Nietzsches berühmt-berüchtigter letzter Mensch (auf den, obschon es doch so nahe läge, Llosa nicht zu sprechen kommt), auf die Trumpfkarte der Behaglichkeit. Beschenkt mit einem nie dagewesenen hohen Lebensstandard (das gilt freilich für die westliche Kultur), können wir es uns leisten, einer Kultur zu frönen, die sich weitgehend dem Amüsement und dem Spektakel verschrieben hat (vgl. S. 58). Während die Hochkultur auf Konfrontationskurs geht, weicht die zeitgenössische ‚Flachkultur‘ dem agonalen Charakter des Lebens weiträumig aus. Sie ist im Kern ein einziges Ausweich- und Ablenkungsmanöver. Einen wirklichen Schutz gegen den Nihilismus bzw. die nihilistische Verzweiflung bietet sie unterdessen nicht. Denn sie selbst ist, mag sie auch bekleidet mit sirenenhaftem Glanz und Glitter (also in einer bestechenden und bestechen wollenden äußeren Form) daherkommen, von innen hohl. Vor diesem Hintergrund hält Llosa fest: „Die Kultur des Seichten und des Flitters, des Klamauks und der Pose, reicht nicht aus, um die Gewissheiten und Legenden, Mysterien und Rituale der Religion zu ersetzen“ (S. 42). Und später im Buch heißt es: „Die Kultur sollte das Vakuum, das die Religion hinterlassen hat, ausfüllen. Nur wird das nicht geschehen, solange sie ihre Verantwortung verrät, allein nach dem Gefälligen schielt, sich den dringendsten Problemen verweigert und zur bloßen Unterhaltung wird“ (S. 159).
Die Kultur hat also eine Verantwortung, der sie sich entzieht, wenn sie ins Frivole abgleitet. Diese Verantwortung besteht aber darin, einen moralisch und ästhetisch bewehrten Orientierungsrahmen zu bieten für ein Leben im Zeichen einer auf Mündigkeit bauenden Freiheit, die scharf unterschieden werden muss von frivoler Beliebigkeit.
Nun ist auf Llosas Buch ein regelrechter Hagel an Kritik niedergegangen. Unter anderem heißt es, der Autor sei mit seinen mittlerweile siebenundsiebzig Jahren einfach aus der Zeit gefallen und verwerfe weniger etwas Verwerfliches als vielmehr das, was er nicht (mehr) verstehe. Auch heißt es, er habe seine besten Tage als Schriftsteller hinter sich, was er freilich nicht einsehen wolle, also verfalle er darauf – frei nach Adalbert von Chamisso –, den Teufel allzu schwarz zu malen, wo doch ein gutes Grau genügt hätte [4]. Mit anderen Worten: Llosa übertreibe maßlos und zwar aufgrund von Ressentiment. Ein alter verbitterter Mann versuche noch einmal verzweifelt, die Feder in ein Schwert zu verwandeln, woran er sich jedoch verhebe. Wenn aber ein Zahnloser versucht, Zähne zu zeigen, sind Lacher vorprogrammiert, die er jedenfalls nicht auf seiner Seite haben wird.
Doch frage ich mich, ob einem nicht womöglich doch das Lachen im Halse stecken bleiben könnte, wenn richtig ist, dass unser (säkulares) Zeitalter durch existenziale Unsicherheit bestimmt ist, vor deren Hintergrund die große Wahlfreiheit, die wir genießen, sich vielfach als „burden of choice“[5] entpuppt, wie Hubert Dreyfus und Sean Dorrance Kelly in ihrem gemeinsam verfassten Buch All Things Shinning behaupten. Der in säkularen Zeiten so beliebte Gedanke, „Kultur als Heilmittel gegen Lebensprobleme einzusetzen“[6], verlöre nämlich erheblich an Plausibilität, wenn ausgerechnet jene Form der Kultur, die sich durch ein hohes Maß an sinnstiftender und orientierungsbietender Kraft auszeichnet, im Niedergang begriffen wäre.
[1] Die ‚schwanzeinziehende bzw. pessimistische Seite des Buches kulminiert in LLosas Bekenntnis, an der Zukunft nicht mehr interessiert zu sein, weil er sich von ihr nur wenig, oder besser: nur wenig Gutes, erwartet: „Ich gestehe, dass ich wenig neugierig bin auf ein Zukunft, an die ich, so wie die Dinge stehen, immer weniger glaube“ (Llosa, Mario Vargas: Alles Boulevard. Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst, Frankfurt/M 2013, S. 217. Im Folgenden im Fließtext nur mit Seitenangabe zitiert).
[2] Kierkegaard, Sören: Entweder Oder I, Gesammelte Werke, Abt. 1, Düsseldorf / Köln 1956, S. 41.
[3] Vgl. Nietzsche, Friedrich, Nachlass, KSA XII, S. 125.
[4] So lautet Chamissos Rat an Arthur Schopenhauer, der darüber verbittert war, dass man ihn nirgends zum Professor ernennen wollte. Vgl. Safranski, Rüdiger: Schopenhauer und die wilden Jahre der Philosophie. Eine Biographie, 2. Aufl., Frankfurt/M 2002, S. 412f.
[5] Dreyfus, Hubert; Kelly, Sean Dorrance: All Things Shining. Reading the Western Classics to Find Meaning in a Secular Age, New York 2011, S. 5 et passim.
[6] de Botton, Alain: Religion für Atheisten. Vom Nutzen der Religion für das Leben, Frankfurt/M 2013, S. 158
Eike Brock ist seit 1. Oktober 2013 Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Nähere Informationen finden Sie hier.
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