Ein Protest, der darauf abzielt, Israel das Existenzrecht abzusprechen und der zu neuen Terrorwellen in Israel auffordert, ist antisemitisch. Die auf dem Campus der Freien Universität Berlin gerufenen Parolen bedürfen zu ihrem Verständnis keiner differenzierten Ausdeutung. Wer Ohren hat, der höre. Wer Augen hat, der sehe. Und widerstehe.
Antisemitismus ist „kein Objekt für eine Übung in Rücksichtnahme“[2]. Es gilt, sich ihm entschieden in den Weg zu stellen. Was das bedeutet, kann von Theodor W. Adorno gelernt werden. Seine Philosophie nach Auschwitz steht in klarem Kontrast zu dem offenen Brief der Lehrenden. Für Adorno war es offensichtlich, dass angesichts von Antisemitismus umgehend zu handeln sei: „Einmal bin ich an einer Gruppe von Chauffeuren vorbeigekommen, die damals in dem Pool für die amerikanische Besatzungsmacht beschäftigt waren. Sie schimpften untereinander wüst auf die Juden. Ich ging zum nächsten Schutzmann und ließ sie verhaften.“[3] Adorno wies in diesem Zusammenhang darauf hin, dass der Kampf gegen Antisemit*innen beides erfordert: „Schocktherapie“ und „moralische Kraft“.[4] Es komme darauf an, sich ohne Angst zu widersetzen und dann argumentativ zu reagieren. Jedes Zurückweichen fördere das Entstehen autoritärer Charaktere. Schwäche helfe den „Vorurteilsvollen“.[5]
Aber: Mit „Strafwut“ zu reagieren, ist Adorno zufolge keine Lösung und darüber hinaus „ekelhaft“.[6] Nicht der Einsatz von Polizei während der Aktion auf dem Campus der FU Berlin ist zu beanstanden. Kritisch zu fragen ist aber, ob sich in der exekutierten Polizeigewalt eine „Strafwut“ offenbart, die als inhuman abgelehnt werden muss.
Anstatt das „Pseudo-Rebellische“[7] eines solchen Protests zu kritisieren, weil er den Morden der Hamas gegenüber indifferent bleibt und sich vor den Hamas-Mördern duckt, fordern Lehrende der Freien Universität Berlin und der Humboldt-Universität den Schutz „unsere[r] Studierenden“[8]. Die Solidarität, die diesen protestierenden Studierenden durch die Lehrenden zugesprochen wurde, fragt augenscheinlich nicht danach, was dieser Protest mit denjenigen Studierenden macht, für die diese angemahnte Solidarität nicht gilt. Sie haben nicht nachgedacht, welche Viktimisierungen ein solches Schreiben zur Folge haben kann, vor allem im Blick auf jüdische Studierende. Die Aussage „unsere Studierenden“ beruht auf Ausschluss. Kritische Theorie nach Auschwitz hilft, Formen des Ausschlusses und der Stigmatisierung aufzudecken. Der offene Brief offenbart eine halbierte, exklusive Solidarität.
Johann Baptist Metz mahnte: „Israel – ein Staat als Haus gegen den Tod“[9]. Israel dürfe nicht von einem zweiten Tod heimgesucht werden.[10] Hiervon schweigt der Brief wortreich.
„Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit.“[11] An diese Erkenntnis Adornos anknüpfend, stellte Metz die Forderung auf, nicht im eigenen Leid steckenzubleiben, sondern zum Leid der Anderen vorzustoßen, „bereit zu sein, auch die Leiden der anderen, die Leiden der bisherigen Feinde nicht zu vergessen und bei dem eigenen politischen Handeln in Betracht zu ziehen“[12]. Hier wäre endlich anzusetzen, „damit es anders anfängt zwischen […] beiden“[13] – den Israelis und Palästinenser*innen.
© Jürgen Manemann
[1] Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten, in: https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSfVy2D5Xy_DMiaMx2TsE7YediR6qifxoLDP1zIjKzEl9t1LWw/viewform (zuletzt aufgerufen am 15.05.2024).
[2] J. P. Reemtsma, Nachwort, in: Th. W. Adorno, Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, Berlin 2024, 59-86, 82.
[3] Th. W. Adorno, Antisemitismus, 49.
[4] Ebd., 50.
[5] Ebd.
[6] Ebd.
[7] Ebd., 35.
[8] Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten.
[9] J. B. Metz, Ein Haus gegen den Tod, in: H. Lutterbach/J. Manemann (Hg.), Religion und Terror. Stimmen zum 11. September aus Christentum, Islam und Judentum, Münster 2002, 2-4, 2.
[10] Vgl. J. B. Metz, Haus gegen Tod, 3.
[11] Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 31982, S. 299.
[12] J. B. Metz, Haus gegen Tod, 4.
[13] H. Domin, Abel steh auf, in: dies., „Ich will Dich“. Gedichte, Frankfurt a.M. 1995.
Lieber Jürgen,
dein Einspruch gegen das „Statement von Lehrenden an Berliner Universitäten“ ist ebenso klärend wie notwendig. Dieses Statement beruft sich zwar auf das demokratische Recht der Versammlungs- und Meinungsfreiheit, bringt jedoch den spezifischen Charakter moderne Universitäten nicht zur Sprache. Denn Universitäten wurden – trotz ihrer neoliberalen Deformation seit den neunziger Jahren (1) – von Beginn an als Orte der Aufklärung und gewaltfreien Kommunikation konzipiert. Die Besetzung von Universitätsinstituten bzw. des Universitätscampus mag als politischer Protest verstanden werden, sie widerstreitet jedoch dem eigentlichen Auftrag moderner Universitäten. Denn diese sind nicht der Ort, um Meinungen zu Gehör zu bringen, sondern sie kritisch zu reflektieren. Meinungen mag es viele geben, wie jede Polit-Talkshow demonstriert: ‚Was sagen Sie dazu, wenn…‘. Universitäten jedoch führen ihre Auseinandersetzungen mit Argumenten: ‚Welche vernünftigen Gründe lassen sich anführen, wenn…‘ Argumentative Begründungen sind nicht ohne Anstrengung des Begriffs zu haben und es gibt nicht beliebig viele.
Die Verfasser des „Statements“ haben durchaus Recht, wenn sie erklären, der aktuelle politische Protest setze nicht voraus, „auf Dialog ausgerichtet“ zu sein. Aber genau deshalb gehört er nicht an eine Universität, die aus dem Geist eines kritischen Dialogs lebt. Institutsbesetzungen (das Wort ‚Besetzung‘ kann seine Nähe zu ‚Besatzung‘ nicht verleugnen) sind Machtdemonstrationen, die eine „dialogische und gewaltfreie Lösung“, die die Verfasser des „Statements“ einfordern, unterlaufen. Universitäten als Orte gewaltfreier Kommunikation haben dagegen keine Handhabe. Gerade deshalb bedürfen sie eines besonderen Schutzes. Daher ist, wie du schreibst, „der Einsatz von Polizei während der Aktion auf dem Campus der FU Berlin nicht zu beanstanden“. Doch bleibt kritisch nachzufragen, „ob sich in der exekutierten Polizeigewalt eine ‚Strafwut‘ offenbart“, die abzulehnen ist.
Demokratische Institutionen bleiben ohne rechtsstaatlichen Rückhalt schutzlos und zerbrechlich. Das gilt vor allem dann, wenn ihre Beschädigung sich von innen vollzieht, sich also deren eigener Legitimationsformen bedient. Dass man sich demokratischer Strukturen und Verfahrensweisen bedienen kann, um die Demokratie von innen zu beschädigen, demonstrieren derzeit neofaschistische Parteien und Verbände. Kein Demokrat kann diesem Missbrauch zustimmen, sondern setzt darauf, dass dem Staat das Recht und die Möglichkeiten zustehen, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Auch Universitäten muss dieses Recht zugesprochen werden, wenn sie als Orte kritischer Aufklärung missbraucht werden. Selbstverständlich darf nicht jeden Teilnehmer von Protestcamps als Neofaschist diskreditiert werden. Aber dass sich hinter den Parolen (zumindest eines Teils) der Protestierenden antisemitische Einstellungen breitmachen, darf nicht unwidersprochen bleiben. Darüber aber schweigt sich das „Statement“ beredt aus. Die Irrationalität des Antisemitismus hat in Aufklärungsinstitutionen wie der Universität nichts zu suchen. Denn „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ ist, wie Adorno zu bedenken gab, „potentiell bedrohlicher denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie.“ (2) Solche Einsichten der (vor allem frühen) Kritischen Theorie sollten den Verfassern des „Statements“ zu denken geben.
(1) Ludwig A. Pongratz: Bildung im Bermuda-Dreieck. Eine Kritik der Bildungsreform, Paderborn 2009
(2) Theodor W. Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Eingriffe: Neun kritische Modelle, rankfurt/Main 1963, S. 126
Lieber Wilfried, vielen Dank für Deinen Widerspruch – wobei ich gar nicht sicher bin, ob es sich um einen solchen handelt. Erstens, Art. 5 GG gilt nicht für Antisemitismus, auch nicht für Rassismus etc. – hier geht es nicht um Meinungen. Dafür dürfen keine Räume freigegeben werden. Antisemitische Parolen sollten auf einem Uni-Campus oder anderswo nicht geduldet werden. Zweitens, ich spreche mich mit Adorno aber auch gegen „Strafwut“ aus. Und um Strafwut könnte es sich bei dem Polizeieinsatz auf dem Campus der FU gehandelt haben. Das wäre dann zu kritisieren!
Lieber Jürgen, hier stimme ich nicht mit Dir überein. Wenn an die Stelle der scharfen Kritik an der Empathielosigkeit gegenüber dem angegriffenen Israel der autoritativ herbeigerufene Polizeiknüppel tritt, dann ist schon zu fragen, ob Art. 5 GG noch und wenn ja welche Geltung haben soll. Scharfe Diskussion statt Polizeieinsatz!