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Schwerpunktbeitrag: Hundert Jahre Leipziger Nachtgespräch. Philosophie und Religion im Dialog

Veröffentlicht am 8. Juli 2013

„Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an. Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel, dem Hades seinen Pesthauch zu nehmen, des vermisst sich die Philosophie.“ So beginnt das 1921 erstmals erschienene Hauptwerk des bedeutendsten jüdischen Philosophen der sog. Neuzeit, Franz Rosenzweig, der „Stern der Erlösung“. Und dann endet dieses Werk: „Vertrauen wagt jeden Augenblick zur Wahrheit Wahrlich zu sagen. Einfältig wandeln mit deinem Gott – die Worte stehen über dem Tod, dem Tor, das aus dem geheimnisvoll-wunderbaren Leuchten des göttlichen Heiligtums, darin kein Mensch leben kann, herausführt. Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tores? Du weißt es nicht? Ins Leben.“ Zwischen dem „vom Tode“ und „ins Leben“ legt Rosenzweig weit vor Heidegger seine Abkehr von einer Philosophie der eigengesetzlichen Logik hin zu einem wahrhaft existentiellen, weil an der Sprache orientierten Denken dar; logische Kategorien werden von „grammatikalischen“ abgelöst, welche sich im dialogischen Sprechen realisieren.
Diese Abkehr vom Idealismus folgt der Todeserfahrung, durch welche der Denkende das „System“ hinter sich lässt und wird in einer Philosophie der Liebe und der Tat verifiziert. Er befreit so nicht nur sich selbst, sondern auch Gott und die Welt; denn diese drei sind nun nicht mehr nur geisterzeugte Systemteile, sondern dem existentiellen, „außerdenklichen“ Erfahren zugängliche Wirklichkeiten. Die Frage nach dem „Was“ des Vorfindlichen wird von der Frage „Wie“ abgelöst und aus der je verschiedenen Sichtweise des Denkenden auch unterschiedlich beantwortet. Das „Neue Denken“ stellt den Denkenden und also nicht mehr das Gedachte in den Mittelpunkt.
Aber all das benötigte einen schmerzlichen Weg, der für Rosenzweig nicht mit Hegel begann, obwohl er seine Dissertation „Hegel und der Staat“ gerade um diesen kreisen lässt; vielmehr startete Rosenzweig diesbezüglich bei einem nächtlichen Gespräch unter Freunden, bei welchem diese ebenfalls durch Schrecken hindurch gehen mussten – vielleicht weniger existentiell, aber ebenso nachhaltig.
Dieses Gespräch fand in der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1913 im Haus der Familie Ehrenberg auf der Bismarckstraße in Leipzig statt. Die Teilnehmenden waren junge (zwischen 25 und 30 Jahre alte) Geistesarbeiter unterschiedlicher Fächer, aber alle mit einer jüdischen Wurzel; unter ihnen ragen neben Franz Rosenzweig vor allem drei Persönlichkeiten heraus: Hans Ehrenberg hatte Rechts- und Staatswissenschaft studiert, seine erste Promotion in der Nationalökonomie über die Lage der Hüttenarbeiter im Ruhrgebiet und eine zweite philosophische über „Kants mathematische Grundsätze der reinen Naturwissenschaft“ geschrieben, war 1909 zum Christentum konvertiert und hatte eine Privatdozentur für Philosophie in Heidelberg inne. Eugen Rosenstock war 1913 nach einer Dissertation über „Landfriedensgerichte und Provinzialversammlungen vom 9. bis 12. Jahrhundert“ Privatdozent für Rechtsgeschichte an der Universität Leipzig; er war 1905 zum Christentum konvertiert. Rudolf Ehrenberg wurde als Sohn eines jüdischen Vaters und einer christlichen Mutter bereits nach der Geburt lutherisch getauft, habilitierte zu „Quellenversuchen an der Warmblüterniere“, war also zum Gesprächszeitpunkt Biologe, Physiologe und Arzt. Ob weitere Personen an dem Gespräch teilnahmen, ist nicht überliefert, aber auch nicht ausgeschlossen.
Die Inhalte und der Gesprächsverlauf sind nicht überliefert; wohl aber gibt es in Briefen und Tagebuchnotizen Hinweise. Vor allem aber ist die Wirkung des Gesprächs bekannt, die das Leben der Beteiligten nachhaltig beeinflusste, ja vielleicht sogar änderte. Hans Ehrenberg beschreitet den im Ungefähren bereits begonnenen Weg zur Theologie, so dass er später zu einem der bedeutenden Theologen der Bekennenden Kirche werden kann. Rudolf Ehrenberg durchmengt nach dem Gespräch zunehmend seine biologische Wissenschaft mit geisteswissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Elementen bis hin zu seinem theologischen Hauptwerk „Ebr.10,25. Ein Schicksal in Predigten“ von 1920. Eugen Rosenstock verlässt seine Konzentration auf die Rechtsgeschichte und beginnt sein Lebenswerk im Bereich multidimensionaler Soziologie und Sprachphilosophie; zugleich begibt er sich ab 1916 zusammen mit seiner Frau Margrit Huessy in einen religionsphilosophischen Diskurs mit Franz Rosenzweig zum Verhältnis von Judentum und Christentum, obwohl oder auch weil dies im Leipziger Nachtgespräch nur beiläufig und am Rande Gegenstand war.
Besonders aber bei Franz Rosenzweig hinterlässt das Gespräch existentielle Spuren, ohne die sein weiteres Lebenswerk kaum zu verstehen wäre, von seinen Aufsätzen „Zeit ist’s“ (1917) und „Atheistische Theologie“ (1914) über den „Stern der Erlösung“ bis hin zur Bibelübersetzung zusammen mit Martin Buber. Die Doppelseitigkeit des Verhältnisses des Menschen zum Absoluten, bei dem einerseits dieses den Menschen und andererseits der Mensch das Absolute „hat“, ist im Leipziger Nachtgespräch verwurzelt. Franz Rosenzweig befand sich auf dem Weg aus einem assimilierten Judentum heraus zur Konversion, hatte offensichtlich mit Hans und Rudolf Ehrenberg darüber gesprochen und letzteren sogar zum Taufpaten erwählt. Die Konversion seines Vetters und Freundes Hans Ehrenberg zum Christentum hatte er sogar ausdrücklich gegenüber seinen Eltern verteidigt. Nun aber begegnet er in Eugen Rosenstock einem dynamischen Gesprächspartner, der ihn mit seinem philosophischen Relativismus und mit dem spekulativen Idealismus auflaufen lässt, und von ihm eine klare Glaubensentscheidung auf der Grundlage der Offenbarungsreligion verlangt, also auch die Bekehrung zum Christentum. Deshalb entschließt Franz Rosenzweig sich eben nicht aus der Position des philosophisch geschulten Heiden, sondern eines gläubigen Juden zum Christentum zu finden; und auf diesem Weg findet er im Oktober 1913 tatsächlich zum Judentum. Und diesen Schritt möchte er von Seiten seiner christlichen Freunde auch „theoretisch“ anerkannt wissen.
Warum, so fragt er sich, sollte ein Jude durch den Sohn zum Vater gelangen wollen, wenn er doch als Jude bereits im Vertragsverhältnis mit Gott, bereits beim Vater ist? Das Christliche schien ihm durchaus historisch und kulturell so attraktiv, dass dafür vielleicht die jüdische Wurzel abgeschnitten werden könnte. Aber diese Wurzel, das Aufzugebende, wollte er wissend und nicht dumpf hinter sich lassen. Und je mehr bei ihm das Wissen wächst, umso stärker schwindet die Notwendigkeit der Konversion; stattdessen entdeckt er so etwas wie eine Konvergenz: Die Juden sind beim Vater, die anderen brauchen dafür den Sohn; und am Ende der Tage wird der Sohn aufhören, der Sohn und das Volk aufhören, erwählt zu sein. Dann entfallen auch die „-tümer“ und die „ismen“; denn es wird keinen Unterschied geben im Sein bei Gott, ob christlich, jüdisch oder anders.
Das alles deutete sich im Nachtgespräch an, welches wohl mit einem Streit um Selma Lagerlöf begann, wie sich Franz Rosenzweig später (1917) erinnert. Da entdeckt ein Priester die Inschrift in der Krone einer fehlerlosen Jesuskindkopie, die da lautet Mein Reich ist nur von dieser Welt; und dann verdammt er in heiligem Zorn das Volk, das unwissentlich einen anderen als diesen Jesus Christus angebetet hatte. Lagerlöf suchte nach einem friedlichen Ausgleich von Gegensätzen, die sich erst in einem höheren Blick versöhnen lassen; die Nöte der Menschen sind letztlich dem Vernunftsweg unzugänglich und der falsche Christus ist eben eine Kopie des wahren. Der Roman endet mit dem Satz: „Niemand kann die Menschen von ihren Leiden erlösen, aber viel wird dem vergeben werden, der ihnen neuen Mut gibt, diese Leiden zu ertragen“. Aber Erlösung kann doch aus dem Blickwinkel der relativistisch und vernünftig Geleiteten (wie Franz Rosenzweig im Gespräch) nur gemessen an den Tatsächlichkeiten und an der Wirklichkeit erfolgen. Die christlich Geleiteten (wie Eugen Rosenstock) gehen jedoch davon aus, dass Erlösung allenfalls vom Menschgewordenen kommen könnte und in Gebet und Gottesdienst realisiert werden müsse. Das aber erschütterte Franz Rosenzweig so sehr, dass er sich aus der Bahn geworfen, „auf den Mund geschlagen“ und sogar Selbstmordgedanken fühlte und seinen „Browning aus der Schreibtischschieblade nahm“.
Eine sicher im Nachtgespräch angesprochene Thematik war die Gegenüberstellung von Synagoge (gebrochener Stab, verbundene Augen, verlorene Krone) und Kirche (triumphal, mit Krone und Zepter, offen in die Welt schauend), wie sie in Portalen vieler mittelalterlicher Kirchen zu finden sind. Seit 1913 kehren diese Gegenbilder und mit ihnen der Anspruch der christlichen Staatsreligion seit dem Mailänder Toleranzprotokoll des Jahres 313 bei Franz Rosenzweig wieder: War es ein Abfall vom wahren Glauben oder sein Sieg? Die verschlossenen Augen der Synagoga werden ihm zum Zeichen eines Blicks nach Innen und der gebrochene Stab zum jüdischen Gegenüber zur Weltverliebtheit der Christen. Das Nachtgespräch beendet für die Teilnehmenden die Geschichte der Judenmission und eröffnet den religiösen Dialog, in dessen Mittelpunkt nicht die ausgleichenden Gemeinsamkeiten, sondern das Aushalten des Trennenden steht. Deshalb kritisiert Franz Rosenzweig seit 1919 auch und gerade Lessings „Nathan den Weisen“, welcher die Toleranz auf das nur Menschliche aufbaut, und kann das vereinnahmende Drängen Eugen Rosenstocks kaum ertragen. In Gottes Heilsplan sind eben Synagoge und Kirche gemeinsam vorgesehen, und sie brauchen einander getrennt.
Ein Thema des Nachtgespräches dürfte auch die Gestalt des Einzelnen vor Gott und des „Sprungs in den Glauben“ auf der Grundlage der Philosophie Sören Kierkegaards gewesen sein, wie es Eugen Rosenstock ausdrücklich benennt, obwohl Franz Rosenzweig diese Thematik ausdrücklich nicht im Nachtgespräch verankert wissen will. Dieser Unterschied ist wohl dem jeweiligen existentiellen Topos im Jahre 1913 geschuldet: Kierkegaard als Projektionsfläche oder als Überforderung. Wenngleich die Menschen in ihren „-tümern“ verankert sind, müssen sie voreinander gerade dazu ihr je eigenes „Amen“ sagen; denn niemand besitzt die Wahrheit, weil nur Gott die Wahrheit ist.
Eugen Rosenstock und Franz Rosenzweig beabsichtigten, aus ihrer je eigenen Sicht, das Leipziger Nachtgespräch irgendwann einmal zu rekonstruieren; aber dazu kam es nie. Doch die damals geübte dialogische Streitkultur sollten wir dankbar aufgreifen.

Buchhinweis: F. Rest: Gottes Plan mit den Menschen. Historischer Roman zum Leipziger Religionsgespräch aus dem Jahr 1913, Münster: LIT-Verlag 2013
(ISBN 978-3-643-12204-9).

Prof. Dr. Franco Rest, Prof. em. für Erziehungswissenschaften, Sozialphilosophie/ Sozialethik an der Fachhochschule Dortmund.
Nähere Informationen finden Sie unter
https://www.angewandte-sozialwissenschaften.fh-dortmund.de/rest/

© Franco Rest

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