Neulich beim Elternsprechtag berichtete mir die Lehrerin, dass die Schüler regelmäßig den Unterricht störten. Verwundert fragte ich, wie es komme, dass nur die Schüler störten, und nicht auch die Schülerinnen. Tatsächlich war es aber ein Missverständnis. Wie die Lehrerin mir erklärte, waren die Schülerinnen im Ausdruck ›Schüler‹ »mitgemeint«. Zuerst war ich erleichtert. Alle störten den Unterricht, also war wohl doch keine Gender-Indoktrinierung zu befürchten. Dann aber wich meine Erleichterung erneuter Empörung. Wenn die Lehrerin nicht nur die als männlich definierten Kinder gemeint hatte, warum hatte sie dann nicht die sprachlich eindeutige Form ›Schüler*innen‹ benutzt? Wozu diese unnötige Konfusion – und das von einer Deutschlehrerin!
Vor einer Weile schrieb ich eine Parodie, die seitenlang so weiterging.
Das übliche Lamento gegen das ›Gendern‹ umzudrehen, hat etwas Befriedigendes. Aber die Polemik erschöpft sich schnell. Zu schwach ist die Position derjenigen, die die deutsche Sprache gegen das ›Gendern‹ zu verteidigen meinen. Es ist ein formalistisches Manöver, Genus und Gender zu völlig distinkten Phänomenen zu (v)erklären. Das vorgeblich generische Maskulinum macht Frauen und nicht-binäre Menschen im Sprechen und Denken unsichtbar. Dass dieser Umstand in einem Wechselverhältnis mit weiteren marginalisierenden Praktiken steht, liegt ebenso auf der Hand.
Implikationen bezüglich des sozialen Geschlechts sichtbar zu machen, ist kein »Genderwahn«. Eine treffende Bezeichnung wäre dies hingegen dafür, dass unsere Sprache in beinahe jedem Satz Informationen über Gender mitliefert. Folglich ›gendern‹ gerade diejenigen, die maskuline Formen in generischer Absicht nutzen. Sie nämlich verwenden für Aussagen, die nicht nur Männer betreffen sollen, eine Form, die nachweislich eben so verstanden wird.
Was die generischen Maskulinist*innen ihren Kritiker*innen unterstellen, tun sie also selbst. Indem sie ihre fixen Ideen von korrekter Sprache gegen das reale Sprachverständnis durchsetzen wollen, hängen sie einem weltfremden Idealismus an. Sie selbst sind es, die ihre Partikularinteressen für das Allgemeine ausgeben. Und sie sind es, die bei diesem Thema emotional überreagieren, um dann auch noch rhetorisch zu fragen, ob wir denn keine wichtigeren Probleme hätten. Auch ihre Verfolgungsphantasien darf man als Projektionen verstehen. Wenn sie sich einbilden, mit einem Fuß im Umerziehungslager zu stehen, ahnt man, was sie gerne mit uns machen würden.
Polemik und Parodie sind naheliegende Reaktionen darauf. Zurückschlagen ist legitim. Besser ist aber vielleicht zurücktreten.
Treten wir also einen Schritt zurück. Lassen wir für einen Moment Fragen der Ungerechtigkeit bzw. der sozialen Irrationalität beiseite und schauen bloß auf den Aspekt der sprachlichen Präzision. Selbst wenn der faktische Sprachgebrauch so wäre, dass mit ›Schülern‹ nicht nur die männlichen, sondern alle Schüler*innen gemeint wären: eine solche Sprache wäre ärmer an Ausdrucksmöglichkeiten als eine, die über ein Mittel wie das Gendersternchen verfügt. In letzterer nämlich lassen sich mit demselben (oder geringfügig höherem) Aufwand erheblich mehr Informationen vermitteln – insofern ist sie effizienter. Zwei männliche Kinder werden als ›zwei Schüler‹ bezeichnet, zwei weibliche als ›zwei Schülerinnen‹, eine in dieser Hinsicht gemischte Gruppe als ›zwei Schüler*innen‹.
Der Gewinn an sprachlicher Effizienz zieht allerdings Schwierigkeiten nach sich. Nicht mit jedem Satz will man Informationen über das Geschlecht der betreffenden Personen mitliefern; vielleicht sollte man das sogar nie wollen. Bei allen Vorteilen zementiert die sprachliche Reform in gewisser Weise das Problem, auf das sie antwortet. Das Problem beschränkt sich eben nicht darauf, dass die – unabhängig vom jeweiligen Inhalt – ständig mitgelieferten Informationen über das Geschlecht der beschriebenen Menschen unpräzise oder irreführend sind. Es fängt schon bei dem Umstand an, dass überhaupt Informationen über diesen – und nur diesen – Aspekt mitgeliefert werden. Damit wird unterstellt, das Geschlecht eines Menschen sei das Wichtigste, was man über ihn wissen kann.
Oder über sie. Dass wir zu diesem Nachschub genötigt sind, macht deutlich: das angeblich generische Maskulinum ist kein aussichtsreicher Weg, um die Verbindung von grammatischem und sozialem Geschlecht zu kappen. Tatsächlich tut auch das Gendersternchen das nicht – jedenfalls dann nicht, wenn es zur Präzisierung verwendet wird und nicht selbst wiederum konsequent generisch. Die Präzisierung (wie sie oben von der fiktiven Lehrerin eingefordert wird) macht den faktisch bestehenden Zusammenhang von grammatischem und sozialem Geschlecht sichtbar: Schülerinnen sind Mädchen, Schüler Jungen. Der Ausdruck ›Schüler*innen‹ würde aber nicht für eine Gruppe verwendet, deren Mitglieder ausdrücklich und ausschließlich als Mädchen (oder ausdrücklich und ausschließlich als Jungen) bezeichnet werden sollen. Somit wird explizit gemacht, dass das grammatische Maskulinum Männer bezeichnet und nicht alle. Das scheinbar Allgemeine in dieser Weise als tatsächlich Partikulares erkennbar zu machen, dürfte ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zu einer wirklich genderneutralen Sprache sein.
Will man es ohne diesen Zwischenschritt versuchen, dann bietet sich das generische Femininum an, d.h. der Gebrauch von grammatisch femininen Formen selbst dort, wo ausschließlich von Männern die Rede ist. Das generische Femininum ist nicht mit dem falschen Universalismus des generischen Maskulinums belastet. Deshalb ist es ein Lackmustest dafür, ob es jemandem mit der Trennung von Genus und Gender ernst ist. Wer angesichts dieser Option das generische Maskulinum vorzieht, muss andere Motive haben.
Einen Nachteil haben konsequent generische Formen allerdings. Wir verlieren (diesseits des expliziten Hinweises) die Möglichkeit, benennen zu können, dass z.B. eine Gruppe von Politikern allzu oft eben eine rein männliche war. In solchen Fällen von ›Politikerinnen‹ oder ›Politiker*innen‹ zu sprechen, wäre nicht nur unpräzise, sondern tendenziell beschönigend.
Umgekehrt laufen präzisierende Sprachreformen Gefahr, den Zusammenhang von Genus und Gender nicht nur zu explizieren, sondern damit zugleich festzuschreiben. Mit der explizierenden Festschreibung wird dasjenige getilgt, worauf die Verteidiger*innen des herkömmlichen Sprachgebrauchs ihr Argument aufbauen: dieser lasse gerade durch fehlende Präzision Raum für die Differenz von Genus und Gender.
Um diese Differenz zur Geltung zu bringen, ist wie gesagt das generische Femininum am besten geeignet. Wenn schon eine hinsichtlich des Genus ambivalente Form, dann doch lieber eine, die mit der historisch wirksamen Engführung von Männlichkeit und Allgemeinheit bricht. Gerade in diesem Bruch mit der Sprachgeschichte zeigt sich aber auch ein Problem. So geringfügig auch immer die Ambivalenz war, auf die sich die konservative Seite beruft, wenn sie auf dem generischen Charakter des grammatischen Maskulinums beharrt – der letzte Rest dieser Ambivalenz fällt mit der Neuregelung weg. Durch die Einübung der neuen Regel wird rückwirkend noch eindeutiger, als es ohnehin schon war, dass nur junge Männer gemeint sind, wo von zwei Schülern die Rede ist. Hier liegt vielleicht der rationale Kern des Unbehagens an gendergerechten Schreibweisen.
Wäre es möglich gewesen, das generische Maskulinum so zu reformieren, dass tatsächlich alle »mitgemeint« sind? Von Georg Lukács gibt es einen Text mit dem schönen Titel »Rosa Luxemburg als Marxist«. Das klingt heute – hundert Jahre später – ein wenig schräg. Lukács hingegen wäre es vermutlich kontraproduktiv erschienen, just in dem Moment, wo Frauen als Marxisten auftreten, den Namen der Kategorie zu ändern. Luxemburg als ›Marxistin‹ zu bezeichnen, hätte sie nicht, wie intendiert, in eine Reihe mit Marx und Lenin gestellt, sondern gewissermaßen eine Frauenliga des Marxismus eröffnet. ›Marxist*in‹ wäre eine bessere Lösung gewesen, hätte jedoch ebenfalls die Kontinuität, um die es Lukács ging, unter Vorbehalt gestellt. Denn zumindest in allen früheren Texten waren Luxemburgs marxistische Vorgänger und Zeitgenossen ja nicht als ›Marxist*innen‹ bezeichnet worden.
Das Problem ist und bleibt also die zugrundeliegende Selbstverständlichkeit, dass Professoren, Ärzte, Marxisten ohnehin Männer seien. Frauen wie Luxemburg erschütterten diese Grundannahme. In dieser Situation weiterhin das ›generische‹ Maskulinum zu verwenden, hätte jene scheinbare Selbstverständlichkeit vielleicht auch im Rückblick noch weiter erodieren können. Vielleicht wäre das generische Maskulinum dann wirklich generisch geworden. Allerdings sollte man bei solchen Spekulationen über alternative historische Verläufe nicht vergessen, dass eben dies nicht passiert ist. Viele Jahrzehnte lang hielt sich das generische Maskulinum ja, ohne dass es je wirklich generisch verstanden wurde.
Dennoch zeigt sich hier eine zusätzliche Ebene, die vermutlich zur Erklärung beiträgt, warum Menschen ihr Herz an das generische Maskulinum hängen – als hätten wir keine echten Probleme! Auf der ersten Ebene gibt es die stets vorgebrachten Gründe erster Ordnung: die angebliche Autorität angeblich natürlich gewachsener Sprache, ästhetische Vorlieben in Bezug auf die Gestalt von Wörtern, Zweifel an dem empirischen Befund, dass das »Mitmeinen« eine Illusion ist – bis hin zu Zweifeln daran, ob das reale Sprachverständnis für präskriptive Regeln überhaupt relevant sei.
Für sich genommen ist keiner dieser Gründe überzeugend. Deshalb ist es instruktiv, die zweite Ebene in den Blick zu nehmen: eben den beschriebenen Mechanismus rückwirkender Vereindeutigung. Die Sprachreform beseitigt die verbliebene Ambivalenz des generischen Maskulinums und damit noch den letzten rationalen Grund für die konservative Position. Der einmal eingeschlagene Weg schafft Tatsachen. Die Situation wird derart verändert, dass die Frage in Zukunft nicht noch einmal auf Basis derselben Gründe diskutiert werden kann. Diese Tendenz zur Unumkehrbarkeit erklärt vielleicht, warum über diese Frage so vehement gestritten wird. Und über viele andere: denn in sozialem Wandel geht es nie bloß darum, gegebene Probleme zu überwinden. Vielmehr erscheinen die Probleme erst auf der Grundlage bestimmter Interpretationen. Im Streit darum, worin genau das Problem besteht und welche Lösungen in Frage kommen, werden die Deutungsrahmen implizit immer mitverhandelt. Deshalb sollte man sich den politischen Streit um gesellschaftliche Richtungsentscheidungen nicht zu harmlos vorstellen. Wo es nicht nur um den Austausch von Argumenten erster Ordnung geht, droht die andere Position die eigene nicht bloß zu überstimmen, sondern zu untergraben.
Was aber hilft dieser Schritt auf die Metaebene? Einerseits nicht viel, denn das Untergraben der unterlegenen Position ist in sozialem Wandel unausweichlich. Es gewissermaßen aus Rücksicht zu unterlassen, ist keine Option. Gesellschaftlicher Wandel geht mit hermeneutischen Brüchen einher, die uns fortan vom Vergangenen trennen. Gerade dies eröffnet andererseits die Perspektive auf eine zukünftige Welt, in der gar nicht mehr verständlich wäre, worum es in den Debatten um Gender und Sprache überhaupt ging. In einer solchen Welt wäre kaum noch nachvollziehbar, dass die Sprache überhaupt jemals ihrer bloßen Form nach Informationen über Gender transportiert hat. Das Ziel einer solchen Welt ist vermutlich weniger umstritten als der Weg dahin – und als die Einschätzung, wie weit wir von ihm entfernt sind. Vielleicht kann das Zurücktreten also helfen, es sich mit dem Zurückschlagen nicht zu einfach zu machen.
© Robert Ziegelmann M.A.
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