Maria-Sibylla Lotter
Man kann sich schwer vorstellen, wie das menschliche Zusammenleben funktionieren könnte ohne geregelte Praktiken zur Bewältigung von Verletzungen, Schäden und Missachtungen, die Menschen einander absichtlich oder unabsichtlich zufügen, kurz: ohne Verantwortung. Menschen erwarten von einander, Rede zu Antwort zu stehen, wenn sie gewisse Dinge getan haben, die Fragen aufwerfen; damit sind auch gewisse normative Erwartungen verbunden wie die, sich zu entschuldigen, aber auch Maßnahmen der Wiedergutmachung oder Bestrafung. Auch wenn es nicht in allen Sprachen ein spezielles Wort für Verantwortung gibt, existieren solche Praktiken in allen Kulturen.
Gleichwohl wird immer wieder die Frage aufgeworfen, ob Verantwortungszuschreibungen überhaupt legitim sind. Diese Frage ist nicht mit der Überlegung zu verwechseln, ob im konkreten Fall angemessen wäre oder nicht, sich für etwas zu entschuldigen und Kompensation anzubieten oder es richtig und gerecht ist, die Person xy für diese Handlung oder ihre Folgen in dieser Weise zur Verantwortung zu ziehen. Solche Überlegungen gehören strukturell zur Praxis der Verantwortung, die ja nicht als Automatismus abläuft, sondern stets hinterfragt werden kann. Die Frage, ob Verantwortungszuschreibungen überhaupt legitim sind, geht jedoch nicht von dieser in der Praxis verankerten Skepsis aus, sondern von allgemeinen theoretischen Überlegungen. Sie bezieht sich auf die philosophische Interpretation des Menschen als eines Subjekts der Zurechnung von Handlungen, dem Eigenschaften wie Autonomie, Willensfreiheit und Vernunft zugeschrieben werden. Mit diesem Gedanken verbindet sich ein erheblicher Kulturstolz, denn man betrachtet ihn als moralischen Fortschritt; Menschen für Dinge zur Verantwortung zu ziehen, für die sie persönlich nichts können, gilt umgekehrt als primitives vormodernes Denken. Da sich im Gefolge geisteswissenschaftlicher Diskussionen die Überzeugung verbreitet hat, wir lebten in einer sogenannten Postmoderne, die nicht mehr an dieses Subjekt und seine Schuldfähigkeit glaubt, ist die Verantwortung heute einer zunehmenden theoretischen Skepsis und Kritik ausgesetzt. Die einen sind der Überzeugung, dass unsere Glaube an die Verantwortlichkeit unentbehrlich für das Sozialleben ist, aber leider auf einer Annahme gründet, die erwiesenermaßen falsch ist, da die Hirnforschung gezeigt habe, dass unser Hirn und nicht wir die Entscheidungen treffen. Andere begreifen die Zuschreibung und Selbstzuschreibung von Verantwortlichkeit als eine „begriffliche Gewalt“ der gesellschaftlichen Machtverhältnisse, durch die ahnungslosen und ohnmächtigen Individuen eine Wissens- und Entscheidungsmacht unterstellt wird, über die sie in Wirklichkeit gar nicht verfügen.
Aus diesen Zweifeln an der metaphysischen oder sozialen Freiheit und Handlungsfähigkeit von Personen folgt jedoch sehr viel weniger bezüglich der Praxis moralischer Verantwortung, als oft angenommen wird. Wie wir Verantwortung wirklich praktizieren, ist nämlich nicht abhängig von den ethischen Ideen der modernen Philosophie, sondern folgt eigenen Regeln, Traditionen und Erfahrungswerten. Und schon gar nicht ist unsere Praxis nach dem Muster wissenschaftlicher Theorien zu verstehen als eine angewandte Theorie, die auf gewissen Grundprämissen gründet (und mit ihnen wegfallen würde) wie dem modernen Konstrukt des autonomen Subjekts.
Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Diskussion um Für und Wider der Verantwortlichkeit setzt Verantwortung quasi mit Täterschaft gleich. Würden wir jedoch die damit verbundene Überzeugung, dass man nur für das verantwortlich ist, das man vorsätzlich oder fahrlässig begangen hat, in die Praxis umsetzen, dann wäre der Ärger, den wir anderen unbeabsichtigt zufügen, ohne dass man uns Fahrlässigkeit vorwerfen könnte, ihr Pech, mit dem sie sich abzufinden haben. So kann nirgendwo ein Zusammenleben funktionieren, denn Menschen begegnen sich im Alltagsleben nicht wie selbsttransparente Subjekte, die sich der Auswirkungen ihres Tuns und Lassens auf andere stets bewusst sind. Wenn sie sich gegenseitig Schwierigkeiten bereiten, dann gerade oft durch Vergesslichkeit, Ungeschicklichkeit, Unwissen oder Unüberlegtheit. Nehmen wir an, dass der Einzug Ihres neuen Nachbarn unglückseligerweise auf den Morgen fällt, als Sie Sperrmüll abtransportieren lassen. Sie können nicht ahnen, dass der in Ihrem Auftrag handelnde Sperrmülltransporter auch die alten, aber geliebten Möbel Ihres neuen Nachbarn mitnimmt, die dessen Umzugswagen auf dem Bürgersteig abgestellt hatte. Ihnen ist weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Gleichwohl wäre es inakzeptabel, den Vorfall als „sein Problem“ zu betrachten. Die Antwort auf die Frage, „wer ist wie für den (nicht nur materiellen) Schaden verantwortlich“ lautet hier nicht: derjenige, der aus freiem Willen etwas Vorwerfbares getan hat, sondern: derjenige, der aufgrund seiner sozialen Zuständigkeit und/oder seiner kausalen Rolle die Instanz ist, an die sich berechtigte Fragen und Wiedergutmachungserwartungen richten. Dabei geht es weniger um die eigene Schuld, als um die Klärung von Missverständnissen und Irritationen, die Wiederherstellung der sozialen Beziehungen und die Heilung von sozialen Verletzungen. Das gilt nicht weniger für die zwischenmenschlichen Beziehungen im Alltagsleben als die Beziehungen zwischen sozialen Gruppen, Völkern und Staaten: auch die Verpflichtungen, die sich beispielsweise aus den Verbrechen des Naziregimes für nachfolgende Generationen ergeben, stellen Formen moralischer Haftung, nicht moralischer Schuld dar.
Literatur: Maria-Sibylla Lotter, Scham, Schuld, Verantwortung. Über die kulturellen Grundlagen der Moral, Berlin 2012.
(c) Maria-Sibylla Lotter
Maria-Sibylla Lotter ist Professorin für Ethik und Ästhetik mit besonderer Berücksichtigung der Philosophie der Neuzeit am Institut für Philosophie 1 der Ruhr-Universität Bochum.
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