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Das große Leugnen. Skepsis und Gewissheitssuche in Zeiten der Pandemie

Veröffentlicht am 28. April 2020

Es ist Woche vier des Lockdowns in Deutschland. Ein Frühlingssamstag, wie er schöner kaum sein könnte. Auf dem Markt haben sich die meisten Menschen mit den Hygieneregelungen arrangiert, erstaunlich schnell hat sich eine neue Normalität eingestellt. Viele tragen Masken, man hält den empfohlenen Abstand, sodass sich lange Schlangen bilden. Auch das ein Bild, an das man sich gewöhnt. Der innerlich anschlagende Alarm, es werde ewig dauern, bis man an der Reihe sei, wird leiser und leiser. Die Wahrnehmung adjustiert sich – damit nimmt auch das sensuelle Dauerfeuer ab, das permanent Gefahr signalisiert und bei so manchem (so auch bei mir) einen Fluchtinstinkt auslöst, dem unter den jetzigen Bedingungen nicht nachzukommen ist, sofern man nicht über einen Privatjet und ein entsprechendes Refugium verfügt.

Und so bieten „die da oben“ gerade eine willkommene Zielscheibe, zumal Privilegien in der Krise noch deutlicher sichtbar werden (oder überhaupt erst als Privilegien ins Bewusstsein treten: gedecktes Bankkonto, Haus mit Garten, gesicherte Zukunft…) und zu Recht gefragt werden muss, ob es nicht langsam an der Zeit wäre, sich von den eingeübten und perpetuierten quasi-feudalistischen Rollen zu verabschieden.[1] Auch der junge Mann vor mir in der Schlange hat sich festgelegt und tut dies lautstark kund: Es seien „die“, die an unserer Lage Schuld seien. Man müsse als denkender Mensch doch immer fragen: Wem nützt es? In Wirklichkeit wollten „die“ uns nämlich kontrollieren und unterdrücken. Um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen, werde eine Krise heraufbeschworen und herbeigeredet. Wir sollten doch nicht so naiv sein, das zu glauben und uns „wie Schafe zur Schlachtbank führen lassen.“

Nun ist mir eine skeptische Haltung als Philosophin alles andere als fremd. Mehr noch: Ich halte sie nicht nur für eine Voraussetzung guter wissenschaftlicher Arbeit, sondern auch für eine Haltung, die bei der alltäglichen Meinungsbildung angeraten ist. Ich wünsche mir also grundsätzlich eher mehr als weniger Skepsis in der Welt. Und trotzdem wuchs mein Unbehagen von Moment zu Moment. Um ein Haar hätte ich das philosophische Gespräch in sokratischer Manier zurück auf den Marktplatz getragen. Ein Dreiklang aus Müdigkeit, Selbstschutz und Resignation hat mich jedoch stumm bleiben lassen. Ich bezweifle, dass ich zum „Skeptiker“ vor mir mit meinen Bedenken und Einwänden durchgedrungen wäre: Die Krise ist nicht die Zeit der Skepsis, sondern der Gewissheitssuche. Wo die Verunsicherung ohnehin groß ist (Wie bleibe ich gesund? Wann kann ich wieder arbeiten? Was passiert als Nächstes?), sind Zweifel nichts Erstrebenswertes.

Diese aber komplett zu ersticken und auszublenden führt zu Gewissheiten, mit denen wir alles andere als gut beraten sind. Wir bekommen es dann nämlich sehr leicht mit einem überbordenden will to believe (W. James) zu tun, der seine epistemische Demut abgelegt hat. Unser Set an reality checks, dem Abgleich mit anderen – eigenen und fremden – Wissensbeständen, wird eng und büßt entsprechend seine Filterfunktion gegenüber unplausiblen Hypothesen ein. Das wiederum begünstigt und verstärkt den confirmation bias, also die Tendenz dazu, eher solchen Informationen zu glauben, die unsere bestehende Überzeugung bestätigen.Flankiert und eingefärbt vom Bedürfnis nach Sicherheit und hoffnungsvollen Botschaften schließlich gerät unsere Suche nach Gewissheit zu einem Gewissheitswillen (J. Dewey)[2], der diese, wenn nötig, eben selbst herstellt. Ein solcher, seiner Kontrollmechanismen verlustig gegangener Wille zu glauben führt dann zu einem verzerrten Verhältnis zur Realität und passt sie den eigenen Wünschen an – er wird ein will to deceive.[3] Der Akt des Betrügens ist dabei in erster Linie ein reflexiver: Man (be-)trügt sich selbst.

Dabei ist der Übergang vom Klammern an Strohhalmen („Aber die Schweden!“)[4], über Beschwichtigung und Verharmlosung („Nur eine Grippe!“) bis hin zu handfesten Verschwörungstheorien fließend. Ganz analog zum öffentlichen Diskurs über die Klimakrise[5] hat sich im Zuge der Konfrontation mit Corona eine ganz besondere Variante des wishful thinking ausgebildet. Der Wunsch, es möge doch alles nicht so schlimm sein, wie es den Anschein hat, kippt in die Annahme, dass es schlicht nicht so sei, wie es „uns verkauft wird“. In einer Art säkularer Theodizee wird Realitätsverweigerung zur Coping-Strategie: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Das große Leugnen beginnt.[6]

Seit Beginn der Krise ist ein regelrechter Boom an Falschmeldungen und Verschwörungstheorien zu verzeichnen.[7] Selbst die absurdesten Behauptungen finden Gehör und Verbreitung.[8] Sie fallen auf den fruchtbaren Boden des Glaubenwollens. Zusätzlich und gleichsam im Windschatten der Coronapandemie haben wir es mit einer Desinformationspandemie zu tun. Interviews, Artikel und Videos, die exponentielle Verbreitung über Messengerdienste, Online-Plattformen und insbesondere sogenannte „alternative Medien“[9] finden und so „viral gehen“ (nie war der Ausdruck sprechender), geben vor, exklusiven Zugang zu Informationen zu haben, die die „Mainstreammedien“ zurückhielten. Damit machen sie ein attraktives Lockangebot an die Gewissheitssuchenden: in die kleine Gemeinschaft der wahrhaft Wissenden aufgenommen zu werden.

Hier kommt ein weiterer Aspekt ins Spiel. Verschwörungstheorien bedienen nicht nur das Bedürfnis nach der Beseitigung von Zweifeln und dem Wunsch nach einer anderen Wirklichkeit, sondern geben dem Gewissheitswillen nochmal einen neuen Dreh, indem nicht nur eine sichere Wahrheit präsentiert wird, sondern der Anspruch, diese vor allen anderen aufgedeckt zu haben. So wird die Anhängerschaft in eine vermeintlich privilegierte epistemische Position gebracht, die einen wesentlichen Anteil zur Zersetzungskraft von Verschwörungstheorien beisteuert.

Ganz unmittelbar wirken Verschwörungstheorien wie informationelle Nebelbomben: Sie lenken ab von den eigentlichen Fragen, die wir uns stellen müssen. Das gilt zunächst für die akut dringlichen nach den geeigneten Maßnahmen: Was ist jetzt angemessen, sinnvoll, zielführend? Ebenso verstellen sie aber auch die Sicht auf mittel- und langfristige Analysen, die wichtig sind, um diese Pandemie zu verstehen und zukünftige sowohl weniger wahrscheinlich zu machen als auch einen besseren Umgang mit ihnen zu finden. Auch das muss nämlich Teil der Reflektion auf Corona werden: dass die Menschheit keine Kontrolle über das Naturgeschehen hat, dass sie diesem immer ein Stück weit ausgesetzt sein wird, dass es daher auch keine „Lösung“ (und schon gar keine einfache) geben kann, die ein für alle Mal Sicherheit garantieren wird. Genau das aber suggerieren Verschwörungstheorien, wenn sie Bill Gates[10] oder George Soros als die Schuldigen identifizieren. „Die“ haben sich gegen uns verschworen und Übel xy verursacht. Das wird nicht zuletzt deswegen so bereitwillig geglaubt, weil es a) eine Erklärung liefert (also epistemische Unsicherheit und Komplexität reduziert), b) diese Erklärung auf verquere Weise Trost spendet (zumindest die ursprüngliche Bedrohung ist als Fake entlarvt) und c) das Präsentieren von Sündenböcken praktischerweise davon entlastet, die eigene Rolle im Geschehen zu betrachten.[11] Ansonsten müsste man sich eingestehen, dass wir tatsächlich mitten in einer globalen Pandemie stecken, von der nicht klar ist, wie lang sie dauern wird und wie viele Opfer sie direkt und indirekt fordern wird, und dass sie in einen Zusammenhang zu stellen ist mit einer ressourcenintensiven, wachstumsorientierten Lebensweise. Es sind die ökonomischen, ökologischen und sozialen Rahmenbedingungen, die wir zwar als Einzelne nicht geschaffen haben (und an denen auch bei Weitem nicht alle Menschen in gleichem Maße teilhaben), die es treffender scheinen lassen, von der aktuellen Pandemie nicht als Natur-, sondern als Kulturkatastrophe zu sprechen.[12]

Der Schaden, den Verschwörungstheorien anrichten, geht aber noch in anderer Weise deutlich über den einfach nur falscher Information oder fehlerhafter Theorie hinaus. Zum einen, weil sie in der großen Mehrheit in Verbindung mit populistischem, antisemitischem und anderem menschenfeindlichen Denken stehen und dieses oft gezielt fördern[13] – ein Muster, das sich bis zur Pest und die durch die damals kursierenden Beschuldigungen angefachten Pogrome zurückverfolgen lässt. Aktuell lässt sich diese Überschneidung exemplarisch an der Querfrontbewegung „Demokratischer Widerstand“ studieren, die sich als liberaler Zusammenschluss für den Schutz der Grundrechte in der Coronakrise geriert, jedoch Verbindungen ins verschwörungstheoretische und extremistische Milieu aufweist.[14] Die verbale Aufrüstung gegen den imaginierten Feind führt die Anhängerschaft in einen inneren Kampfmodus, der mehr und mehr enthemmend wirkt und somit zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führt, die sich irgendwann entlädt. Verschwörungstheorien sind also nicht nur wirr, sondern auch gefährlich.

Zum anderen untergraben Verschwörungstheorien unter dem Deckmantel einer „kritischen Haltung“ langfristig das Vertrauen in Wissenschaft, Medien und Politik.[15] Die bereits beschriebene epistemische Sonderposition, in der sich Verschwörungstheoretiker*innen wähnen, führt geradezu in eine Überheblichkeit, wenn nicht gar Verachtung gegenüber Wissenschaftler*innen. Diese äußert sich nicht zuletzt in der Arroganz, es besser wissen zu meinen als jene, die sich zum Teil seit Jahrzehnten mit einem Fachgebiet beschäftigen. Bei aller gebotenen Skepsis gegenüber als alternativlos und „neutral“ oder „objektiv“ verlautbarten wissenschaftlichen Erkenntnissen steht es eben nicht im persönlichen Belieben, wie gefährlich Covid-19 ist oder wie die Übertragungswege funktionieren. „Alternative Meinungen“ sind hier keine pluralistisch-liberale bürgerliche Tugend, oder gar ein Akt des zivilen Widerstands gegen einen vermeintlichen Mainstream, sondern eine völlige Selbstüberschätzung.

Was nun könnte dazu beitragen, einem verschwörungstheoretischen Mindset vorzubeugen? Ganz grundsätzlich braucht es sowohl ein Mindestmaß an scientific literacy, also die Fähigkeit, seriöse Wissenschaft von Pseudowissenschaft zu unterscheiden, als auch an Medienkompetenz: Welchen Quellen kann ich trauen? Wo bekomme ich verlässliche Informationen? Die Frage cui bono? ist ja in der Tat alles andere als unwichtig, sollte aber eben auf alle Quellen angewendet werden. Die (nicht nur) in verschwörungstheoretischen Kreisen gängige Medienschelte dient schließlich nicht zuletzt dazu, sich ein eigenes, nicht mehr hinterfragbares Wahrheitsmonopol aufzubauen. Gefragt ist also eine Einübung in tatsächlicher Skepsis, die davor bewahrt, eine epistemische arrogante Haltung einzunehmen, weil sie das eigene Nichtwissen – und nebenbei bemerkt, das Nichtwissen auch der Wissenschaft, das die gegenwärtige Lage so schwierig macht – stets mitreflektiert. In Anbetracht dieses Nichtwissens wäre zudem eine „Heuristik der Furcht“ (H. Jonas) eine wesentlich verantwortlichere Richtschnur für Handlungsempfehlungen als Annahmen, die das Nichtwissen entweder gleich als Versagen wissenschaftlicher Expertise deuten oder von einem glimpflichen Verlauf der Pandemie ausgehen – und sei es aus Hoffnung.

Ebenso ist es eine permanente Aufgabe, die „Übersetzung“ von wissenschaftlichen Befunden in politische Maßnahmen kritisch zu begleiten. Denn obwohl die Analysen und Prognosen der Epidemiologie und der Virologie von politischen Entscheidungsträger*innen zu Rate gezogen werden sollten, diktieren sie eben noch keine bestimmte Politik, und das gilt gerade dann, wenn die Forschung, so wie im Fall von Covid-19, noch ganz am Anfang steht. Selbst wenn es jedoch einen wissenschaftlichen Konsens über Ansteckungswege, Letalität und Folgeschäden gäbe, so würden auch diese Befunde gewissermaßen nur einen Möglichkeitsraum für politisches Handeln abstecken – der freilich genauso wenig verhandelbar wäre wie der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur durch den Ausstoß von Treibhausgasen. Wissenschaftler*innen wie Politiker*innen sollten den Radius ihrer jeweiligen Kompetenzen klar benennen, um dem Vorwurf der Expertokratie einerseits, dem Verdacht der Instrumentalisierung der Krise für die eigenen politischen Interessen andererseits zu begegnen.[16] Beides würde die Demokratie untergraben – und schon der Anschein dieser Tendenzen reicht, um das notwendige Vertrauen der Bürger*innen zu schwächen. Auch deswegen sind die Unkenrufe, Deutschland würde nun von Virologen (auf Forscherinnen wird kaum Bezug genommen) regiert oder „die da oben“ nutzten die Krise, um endlich die sehnsüchtig erwartete totalitäre Wende herbeizuführen, so brisant.

Ohne jeden Zweifel ist es geboten, freiheitseinschränkende Maßnahmen auf ihre demokratische Legitimität hin zu prüfen. Hier ist es Aufgabe der Politik, Transparenz und Akzeptanz zu schaffen und Lernbereitschaft zu signalisieren. Dass zur Zeit kreative Protestformen wie etwa die „politischen Warteschlangen“, bei denen der gebotene Mindestabstand gewahrt bleibt, von der Polizei vielerorts aufgelöst werden,[17] schwächt das Vertrauen darauf, dass Grundrechte wie das Demonstrationsrecht nicht willkürlich eingeschränkt werden, und ist Wasser auf die Mühlen jener, die einen autoritären Staatsstreich im Hintergrund der Krise wittern. Während es nachvollziehbar ist, dass zunächst nach dem Gießkannenprinzip gehandelt wurde, um die Reproduktionsrate und damit die Ansteckungen und Erkrankungen auf einem für das Gesundheitssystem verkraftbaren Niveau zu halten, wächst nun das Unverständnis gegenüber weitreichenden, unspezifischen und zunehmend als unverhältnismäßig empfundenen Regelungen, insbesondere der Kontaktsperre (als drastischer Eingriff in individuelle Freiheitsrechte) und der Ladenschließungen (als mit zu hohen wirtschaftlichen Folgekosten verbunden, die natürlich weit über den Bereich des Monetären hinausragen würden).[18]

Ganz wie im Klimaschutz wird es aber nicht ohne die Unterstützung der Bevölkerung (und schon gar nicht gegen sie) gelingen, eine Politik zu verfolgen, die notwendigerweise eine Unterbrechung des business as usual anzielt, und zwar ohne dabei angeben zu können, wie die „neue Normalität“ aussehen wird. Ein solcher Transformationsprozess ist wesentlich darauf angewiesen, dass wir einander Kredit geben können, uns Vertrauen schenken: dass die gewählten Repräsentant*innen im Interesse des Gemeinwohls agieren, dass Wissenschaftler*innen uns etwas über die Beschaffenheit der Welt offenlegen und dass wir eben nicht davon ausgehen, „die da oben“ hätten sich gegen uns verschworen.

Ein (zumal unaufgeforderter) Einspruch in der Warteschlange mag eher kontraproduktiv für dieses Anliegen wirken. Den öffentlichen Austausch und auch Streit darüber, inwiefern Politik, Wissenschaft und Medien ihrer Verantwortung nachkommen, braucht es allerdings – in Bildungseinrichtungen, im Freundes- und Familienkreis und durchaus auch auf dem Marktplatz. Denn eine kritisch reflektierende und zum Umdenken bereite Haltung lässt sich nicht verordnen. Sie muss nachvollzogen und eingeübt, kultiviert werden.

Vermutlich ist es also die größte Herausforderung, einen guten Umgang mit Nichtwissen und Unsicherheit zu finden und Menschen dazu zu befähigen, diese auszuhalten. Das Abdriften in Verschwörungstheorien lässt sich gewissermaßen als Symptom des Scheiterns daran verstehen. Dann könnte es gelingen, nicht nur die unmittelbar angesagte Krisenbewältigung ohne größere Erschütterungen des demokratischen Miteinanders zu überstehen, sondern vielleicht sogar über sie hinauszugehen und zu fragen, wie wir in Zukunft leben wollen. Möglicherweise kann dann die Offenheit des „Wie es sein wird“ weniger beängstigend denn als einladend empfunden werden. Und das mag schließlich dazu beitragen, das „Wie es ist“, die Maßgaben und Regeln, nach denen wir unsere gemeinsame Wirklichkeit bislang gestaltet haben, die Normalität, die nun geradezu hyperrealistisch hervortritt, auf den Prüfstand zu stellen – und tatsächlich skeptisch zu werden.[19]

© Ana Honnacker


[1] Vor dem Virus sind eben nicht „alle gleich“, wie gerade vielfach geäußert wird. Vielmehr tritt die Kluft zwischen Arm und Reich noch deutlicher hervor. Sozial Schwächere tragen sowohl schwerer an den ergriffenen Maßnahmen und haben zudem weniger Ressourcen, um eine Ansteckung zu vermeiden. Sie sind, wie auch in früheren Pandemien, systematisch in Kauf genommene Opfer: https://jezebel.com/rich-people-have-always-been-assholes-during-plagues-1842126456
[2] Zur Kritik des Gewissheitswillens, der auch politisch zu problematisieren ist, siehe die Arbeiten von Heidi Salaverría, einführend z.B. „Im Zweifel unfertig denken: Gegen den Willen zur Gewissheit“ (https://www.theorieblog.de/index.php/2016/04/john-dewey-zweifel-wille-gewissheit/) und ausführlicher „Schuldwut, Distinktionsgewissheit und imaginative Zweifel“ (weiter denken. Journal für Philosophie 1/2019 https://weiter-denken-journal.de/fruehjahr_2019_plurale_identitaet/Schuldwut.php).
[3] Ein Vorwurf, dem sich William James, der den Begriff des will to believe prägte, von Anfang an ausgesetzt sah.
[4] Der „schwedische Sonderweg“ mit seinen relativ milden Einschränkungen des öffentlichen Lebens wird von Kritiker*innen der Lockdown-Politik häufig als wesentlich erfolgreicher in der Bekämpfung der Pandemie eingeordnet. Zum einen werden dabei häufig die Folgekosten des liberalen Umgangs unterschlagen (https://www.tagesspiegel.de/kultur/schweden-in-der-corona-krise-der-zu-hohe-preis-des-sonderwegs/25759290.html), zum anderen ist es noch zu früh, um zu einer abschließenden Bewertung zu kommen (https://www.deutschlandfunk.de/covid-19-verwirrung-um-schwedischen-weg.1939.de.html?drn:news_id=1122989&fbclid=IwAR2KnpSjdpnATwvE9OUc_sT9pwlapePpWsrdoy3vj-9xn27T7_Q1gqcNbD4).
[5] Der wissenschaftliche Diskurs ist sich hier, im Unterschied zur Corona-Forschung, mittlerweile überwältigend einig. Trotzdem wenig überraschend gibt es eine große Überschneidung von Klimawandel- und Corona-Leugner*innen, siehe https://www.theguardian.com/world/2020/apr/25/climate-science-deniers-downplaying-coronavirus-pandemic.
[6] Dass der „Klimanegationismus“ auch eine Bewältigungsstrategie ist und nicht etwa reiner Mangel an Information, wird von der Soziologin Kari Norgaard in ihrer Studie Living in Denial. Climate Change, Emotions, and Everyday Life (Cambridge – London: MIT Press 2011) überzeugend gezeigt.
[7] https://www.deutschlandfunk.de/falschmeldungen-zu-covid-19-der-boom-der-corona.724.de.html?dram:article_id=474810
[8] Von einer direkten Verlinkung sehe ich hier bewusst ab. Eine – freilich bei Weitem nicht erschöpfende – mehrteilige Zusammenstellung, die auch den Zusammenhang zu rassistischem und antisemitischem Gedankengut thematisiert, findet sich unter https://www.ruhrbarone.de/covid-19-desinformation-propaganda-und-hetze-waehrend-der-corona-pandemie-teil-4/182609. Der Einbezug dieses Materials in eine eigenständige philosophische Analyse ist sicherlich ein Forschungsdesiderat und steht, ebenso wie eine Einordnung in den wissenschaftlichen Diskurs, noch aus. Zum jetzigen Zeitpunkt geht es mir vornehmlich um einen Debattenbeitrag.
[9] Zur Rolle „alternativer Medien“ zur Verbreitung von Corona-Verschwörungstheorien, insbesondere via YouTube, siehe https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2020/04/09/coronavirus-die-stunde-der-fragwuerdigen-youtube-doktoren und https://correctiv.org/faktencheck/hintergrund/2018/12/14/falsch-verschwoert-verwirrt-eine-reise-durch-dunkel-youtube
[10] Zu den Hintergründen der Fokussierung auf Bill Gates siehe https://www.mimikama.at/allgemein/feindbild-bill-gates-warum-ist-er-nun-zielscheibe-vieler-kampagnen/
[11] Eine ausführliche erkenntnistheoretische und argumentationslogische Analyse bietet Karl Hepfer: Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld: Transcript 2016. Den Aspekt der Bewältigung von Unsicherheit und Sinnverlust macht auch der Literaturwissenschaftler Michael Butter (Nichts ist, wie es scheint. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp 2018) stark.
[12] So gibt es z.B. einen Zusammenhang zwischen der Zerstörung von Lebensräumen von Wildtieren und der Übertragung von Viren auf Menschen: https://monde-diplomatique.de/!5668094. Ebenso stellt die industrielle Massentierhaltung einen erheblichen Risikofaktor für die Überschreitung der Artengrenze dar. Zoonotische Erreger sind für einige der größeren Pandemien der jüngeren Gegenwart (z.B. spanische Grippe, Vogelgrippe, Schweinegrippe) verantwortlich, sodass der nächste Ausbruch eine Frage des „Wann“, nicht des „Ob“ gewesen ist, siehe Jonathan Safran Foer: Tiere essen, Köln: Kiepenheuer&Witsch, 6. Auflage 2010, 146-151.
[13] So sind die verschwörungstheoretischen Narrative, die sich wohl mit am wirkmächtigsten erwiesen haben, die von einer „jüdische(n) Weltverschwörung“, wie sie angeblich in den „Protokollen der Weisen von Zion“, einem rein fiktiven Pamphlet, dokumentiert sein soll, und das eines staatlich geplanten „Großen Austauschs“. Zum historischen Hintergrund siehe Butter (2018), Kap. 4. Inwiefern rassistische und antisemitische Motive auch im verschwörungstheoretischen Diskurs um Corona eine Rolle spielen, wird noch genauer zu erforschen sein.
[14] https://www.tagesspiegel.de/berlin/kritik-an-corona-massnahmen-das-steckt-hinter-der-querfrontdemonstration-in-berlin/25752958.html. Sichtbar waren dort zum Beispiel Anhänger*innen der „QAnon“-Verschwörungstheorie, die nun auch in Deutschland zusehends eine Anhängerschaft gewinnt (https://www.rnd.de/politik/qanon-der-aufstieg-einer-gefahrlichen-verschworungstheorie-ORTPE4D5YRFRZKVTMJBTFADJTY.html).
[15] Bruno Latour hat diese Form der relativistischen Skepsis und ihre verschwörungstheoretische Tendenz gegenüber einer der Wirklichkeit verpflichteten, produktiven Kritik deutlich abgegrenzt, siehe Das Elend der Kritik. Vom Krieg um Fakten zu Dingen von Belang, Zürich – Berlin: diaphanes 2007.
[16] Zur Herausforderung guter Wissenschaftskommunikation und wissenschaftlicher Politikberatung in der Coronakrise hat die Wissenschaftsjournalistin Mao Thi Nguyen-Kim einen hilfreichen und allgemeinverständlichen Überblick erstellt: https://www.youtube.com/watch?v=u439pm8uYSk
[17] So geschehen u.a. in Potsdam (https://www.neues-deutschland.de/artikel/1135415.coronakrise-politische-schlange-beim-baecker-bleibt-ohne-strafe.html), Frankfurt (https://www.hessenschau.de/politik/protest-und-pandemie-streit-um-vorgehen-der-polizei-gegen-seebruecke-demo,diskussion-demo-aufloesung-100.html) und Hannover.
[18] Die gesellschaftliche Einschätzung der „Corona-Politik“ wird zunehmend selbst Gegenstand wissenschaftlicher Studien und geht als Faktor in die Entscheidungsprozesse ein. Der Großteil der Bevölkerung ist bislang zufrieden mit dem Krisenmanagement der Bundesregierung, die Zustimmungswerte sind auf Rekordhoch: https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-03/freiheit-einschraenkungen-bevoelkerung-zustimmung-coronavirus-meinungsforschung. Allerdings gibt es eine wachsende Ungeduld den Maßnahmen gegenüber.
[19] Siehe dazu das Diskussionspapier „Rethinking the Rules of Reality“ des Potsdamer Institute for Advanced Sustainability Studies: https://www.iass-potsdam.de/sites/default/files/2020-04/Corona%20Discussion%20Paper.pdf

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4 Kommentare

  1. Hallo Frau Dr. Honnacker,

    ein schöner Beitrag, der mir zu wertvollen Anregungen verholfen hat.

    Mir scheint es die richtige Entscheidung gewesen zu sein, auf das philosophische Gespräch mit dem jungen Mann vor Ihnen in der Schlange verzichtet zu haben.
    Bei dem Versuch dazu tritt nach meiner Erfahrung häufig das in Erscheinung,
    was der Schotte David Hume im Hinblick auf den menschlichen Geist einmal
    so beschrieben hat, dass er „ …has a great propensity to spreed itself on external
    objects“ also in etwa der Fehler gemacht wird ,die eigenen Aktivitäten und Gefühlslagen für Ereignisse der äußeren Realität zu halten.
    Leider macht das den Austausch über Meinungen zur Corona Pandemie und andere bedeutsame Themen wie den Klimawandel so herausfordernd.
    Das gilt besonders im öffentlichen Raum.
    Häufig wird etwas gesagt und dabei doch das wichtigste,
    das worum es eigentlich geht, verschwiegen.
    Darum bin ich zuweilen skeptisch gegenüber Erfolgsaussichten
    von Gesprächen dieser Art, so notwendig sie wären.

    Doch wie soll es anders gehen?
    Einen Weg hatten Sie am Ende Ihres wunderbaren Textes kurz angedeutet,
    das Nachdenken darüber,
    wie wir in Zukunft leben wollen.
    Das halte ich für entscheidend, jedoch im Artikel für zu kurz besprochen, Sorry.

    Beim Reden darüber spielen Werte eine Rolle, also das was Ihnen und mir wichtig ist.
    Mir scheint, in einem Austausch der darauf einginge, gäbe es weniger Missverständnisse selbst im politischen Diskurs.
    Das Nachsinnen über die Frage: „Wie soll es sein?“ böte Chancen,
    ein farbenfrohes und zugleich realistisches Bild des Lebens im Morgen zu entwerfen, welches ohne Angst auskommt ( also anders als Politik) , das zum Handeln
    motiviert.
    Welchen Beitrag könnte eine im guten Sinne skeptische und pragmatische Philosophie wohl dazu leisten?
    Was meinen Sie?

    Herzliche Grüße Arno Ladewig

    • Lieber Herr Ladewig,

      schön, dass Sie Anregungen erhalten haben – genau darauf ist ein solcher, auf Kürze angelegter Text ja aus.
      Den möglichen Beitrag einer kritisch-pragmatistischen Philosophie für gelinge Verständigung über zu gehende Wege sehe ich zum einen, wie im Beitrag erwähnt, in einer Hilfestellung zur Selbstbefragung- und verständigung („Welchen Status haben meine Überzeugungen?“, „Wie verhält sich das zu anderen Überzeugungen?“), zum anderen in einer Haltung der Zukunft gegenüber, die mit James und Dewey als „Meliorismus“ bezeichnet werden könnte: Die Zukunft ist offen. Damit ist sowohl ein Ungewissheitsfaktor verbunden, aber eben auch die Idee der Gestaltbarkeit. Jedenfalls kommt es auf menschliches Handeln an, und zwar immer auch auf das eigene. Diese Sichtweise wehrt also Defätismus ab und verlangt verantwortliches Engagement.

      Herzliche Grüße!
      Ana Honnacker

  2. Liebe Frau Slemeyer, liebe Frau Szulc!

    Vielen Dank für Ihre Rückmeldung – dass es sich bei meinem Text in macher Hinsichten um einen „Brocken“ handelt, gestehe ich gern zu. Zu meiner Verteidigung ließe sich vielleicht anführen, dass er zum einen als Beitrag für einen wissenschaftlichen Philosophieblog geschrieben ist – und damit in einem Kontext, der tatsächlich ziemlich voraussetzungsreich und nicht ohne Weiteres zu verstehen ist.
    Ich sehe also durchaus die Zumutung. Allerdings glaube ich auch, dass Philosophie verdächtig wird, wo sie uns einfache Antworten anbietet und nicht etwas, an dem wir uns abarbeiten können. Die Zumutung – oder besser: die Herausforderung – ist damit gewissermaßen ins Philosophieren eingebaut. Ich hätte die Hoffnung, dass das Nicht-Verstehen auch eine Einladung sein kann. Und wo ließe sich dem besser nachgehen als gemeinsam im Garten? Herzliche Grüße!

  3. Hallo, ich sitze gerade mit meiner Freundin im Garten und wir finden es schade, das dieser Beitrag nur einer intellektuellen Oberschicht zugänglich ist, denn der Text ist voller Fremdwörter und manch einer müsste ein Wörterbuch zur Hand nehmen, um ihn zu verstehen.. Mit freundlichen Grüßen! Ulla Slemeyer und Rita Szulc.

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