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Die Endlagersuche und das Gemeinwohl. Eine politikethische Erörterung

Veröffentlicht am 5. Oktober 2015

Kurzvortrag auf der Anhörung „Rückholung/Rückholbarkeit hoch radioaktiver Abfälle aus einem Endlager, Reversibilität von Entscheidungen“; Berlin, 02.10.2015 (Kommission Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe gemäß § 3 Standortauswahlgesetz)

 

Ausgangsfrage: Welche Gründe sprechen aus Ihrer Sicht für Elemente der Rückholbarkeit und Reversibilität, welche sprechen dagegen? Wie sehen Sie die Priorisierung hinsichtlich Sicherheit bzw. Rückholbarkeit?

Das spezifische Problem der Endlagerfrage besteht in der Langfristigkeit der Zeithorizonte. Sie überfordert unser Vorstellungsvermögen. Mit dieser Langfristigkeit haben weder Politik noch Ethik bisher umgehen müssen. Man erinnere sich nur daran, dass der Homo sapiens sich erst vor ca. 200 000 Jahren entwickelte und dass der homo sapiens sapiens erst seit ca. 100 000 Jahren existiert. Zu den ältesten Bauwerken gehören die Pyramiden von Gizeh. Sie wurden vor 4500 Jahren gebaut.

Auf der anderen Seite wissen wir von den Geologen, dass es Wirtsgesteine gibt, die Millionen Jahre älter sind als menschliche Bauwerke und eine ganz andere Stabilität aufweisen. Ohne das Vorhandensein dieser Gesteine ließe sich die Frage nach einer Endlagerung überhaupt nicht sinnvoll stellen. Aber die einzelnen Wirtsgesteine sind keineswegs die Lösung, da sie in ein spezifisches geologisches Umfeld eingebettet sind, das wiederum jeweils anderen Veränderungsprozessen unterliegt. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass die Menschheit selbst mehr und mehr zu einer geologischen Kraft mit noch nicht prognostizierbaren Folgen zu avancieren scheint.[1] Des Weiteren wird die Fertigstellung eines Endlagers immer auch ein technisches Problem bleiben, da zusätzlich zu den natürlichen Barrieren künstliche geschaffen werden müssen. Bereits diese Hinweise zeigen, dass es nicht einfach einen Standort als Lager gibt, in das hinein man lediglich etwas legen müsste. Wenn vom Standort gesprochen wird, dann geht es immer auch um die Frage, wie der Standort gestaltet werden kann. Aus diesen Gründen muss die Suche nach dem Standort als ein Prozess der Standortgestaltung verstanden werden.

Ein Prozess der Standortgestaltung ist ein Lernprozess.[2] Lernprozesse gründen in Reflexivität. Reflexivität heißt hier zum einen, dass das eigene Handeln immer wieder aufs Neue zu bedenken ist. Nur so wird neues Wissen akkumuliert. Zum anderen bezieht sich Reflexivität immer auch auf reflexhaftes Handeln, das auf nicht vorhersehbare Nebenfolgen reagiert. Reflexivwerden beinhaltet somit die Einsicht, dass die Gestaltung des Standortes vor Ort immer auch auf die ideale Vorstellung der Standortgestaltung selbst verändernd zurückwirkt.[3] Standortgestaltung als Lernprozess garantiert Reflexivität, die Voraussetzung von Wissenschaft ist. Reflexivität gibt es aber nicht ohne Veränderungsbereitschaft und ohne die Offenheit für Reversibilität  – in welchem Umfang auch immer.

Wenn von Technologien und geologischen Formationen und deren Möglichkeiten gesprochen wird, dann dürfen diese Zukunftsmöglichkeiten nicht als Zukunftswirklichkeiten ausgegeben werden. Zukunftswirklichkeit lässt sich nicht einfach herstellen. Sie wird nicht nur durch geologische Kräfte beeinflusst, auch nicht nur durch die Anwendung von Technologien. Eine wichtige Rolle spielen politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen, die wiederum ihrerseits Zukunftsvisionen erzeugen, welche die Vorstellungen von Technologieentwicklungsmöglichkeiten und Zukunftsmöglichkeiten maßgeblich beeinflussen.

Die Frage nach dem Standort und nach geeigneten Technologien ist also immer auch mit Visionen behaftet und diese müssen wiederum auf ihren Wertegehalt hin befragt werden. Deshalb ist es nur konsequent, wenn im Standortauswahlgesetz die Beteiligung der Öffentlichkeit gefordert wird. Und folgerichtig ist es auch, dass in diesem Gesetz eine „gemeinwohlorientierte(n) Begleitung des Prozesses der Standortauswahl“ (§ 8) festgelegt wird.[4] Das Standortauswahlgesetz hat damit ein Prinzip benannt, das für die Suche den Kompass bereitstellen soll.

Was kann Gemeinwohlorientierung bezogen auf die Frage nach der Rückholbarkeit heißen?

Gemeinwohlorientierung heißt zunächst: Die Endlagerproblematik ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.[5] Für die damit verbundene komplexe Gemengelage soll nun, wie das Gesetz formuliert, eine Lösung gefunden werden, die „bestmögliche Sicherheit“ (§ 1) gewährleistet. Aber „was sollen wir tun, wenn etwas uns alle Betreffendes geschehen muss, wir vernünftig handeln wollen, doch weder hinsichtlich der Mittel, noch der Zwecke übereinstimmen und keine unabhängigen Gründe für unsere Entscheidung haben“[6]?

Eine politikphilosophische Reflexion kann hier eine Hilfestellung bieten. Das erste, was wir benötigen, sind Kriterien, um Entscheidungen beurteilen zu können. Eine gemeinwohlorientierte Entscheidung basiert

  1. auf Expertenwissen (hier finden zumeist Kriterien wie Machbarkeit, genauer: aktuelle Realisierbarkeit, Sicherheit, Risikoabwägung etc. Anwendung),
  2. auf der Sicherstellung der Legalität (Verursacherprinzip, Verfassungsmäßigkeit)

und 3. auf der Sicherstellung der Legitimität (Gemeinwohlorientierung).

Um Legitimität zu generieren, bedarf es einer Legitimitätsüberzeugung. Diese basiert zum einen auf der Legalität, zum anderen auf verbindlichen Prinzipien und Kriterien. Kriterien der Legitimität im politikphilosophischen Sinne sind Effizienz, Transparenz und Partizipation.[7] Diese Kriterien stehen wiederum zueinander in einem Spannungsverhältnis. Hinzuweisen ist hier nur auf die Spannung zwischen Effizienz und Partizipation. Das leitende Prinzip ist das des Gemeinwohls.

Das Gemeinwohl ist ein dynamischer Zustand. Was man darunter versteht, ist der Veränderung unterworfen, weil es Ergebnis eines unabschließbaren Prozesses ist. Die Pointe der Rede vom Gemeinwohl besteht darin, dass sie sich nicht nur auf das Wohl aller bezieht. Der Zustand, um den es geht, muss auch das Individuum in die Lage versetzen, Grundfähigkeiten zu erwerben, die es benötigt, um sich sowohl aktiv an Staatsangelegenheiten zu beteiligen als auch seine eigene Vision eines guten Lebens mit eigenen Bedürfnissen zu erstreben. Die Prozessualität, die dem Verständnis vom Gemeinwohl zugrundliegt, darf nicht verwechselt werden mit Beliebigkeit. Es gibt einen „nicht-kontroversen Sektor“ (E. Fraenkel), zu dem u.a. basale Gemeinwohlgüter gehören, beispielsweise lebenszuträgliche und zukunftsfähige Umweltbedingungen – und es gilt, diese sowohl für die gegenwärtigen als auch zukünftigen Generationen bereitzustellen. Aus einer gemeinwohlorientierten Perspektive ergeht die Forderung, den zukünftigen Generationen eine Welt zu hinterlassen, die ihnen die Güter bereitstellt, die sie benötigen, um zu überleben, und die es ihnen erlaubt, Grundfähigkeiten für ein Zusammenleben zu entwickeln. Die befähigungsbasierte Dimension des Gemeinwohlprinzips verlangt, Zukunft als Handlungs- und Ermöglichungsraum zu betrachten. Und genau an dieser Stelle wird das Gemeinwohlschädigende und Gemeinwohlgefährdende gegenwärtigen Handelns offenbar. Der zukünftige Handlungsraum, der benötigt wird, um Grundfähigkeiten zu erwerben und eigene Bedürfnisse zu befriedigen, wie es der im Prinzip des Gemeinwohls implementierte Gedanke der Nachhaltigkeit verlangt, wird immer mehr eingeschränkt. Zukünftige Gegenwart wird nur dann als Möglichkeitsraum existieren, wenn vergangene Gegenwart Unabgeschlossenes enthält. Eine abgeschlossene Vergangenheit ist per definitionem nicht mehr veränderbar.

In der Endlagerfrage sind wir mit Folgen gegenwärtigen Handelns konfrontiert, die, gemessen an heutigen Kenntnissen, irreversibel sind. Eine doppelte Irreversibilität entsteht, wenn die gegenwärtige Generation auch den Umgang mit dem Irreversiblen als irreversibel zementiert. Dann werden den nachfolgenden Generationen die Hände gebunden sein.

Aus Sicht der Gemeinwohlorientierung kommt deshalb dem Kriterium der Rückholbarkeit in mehrfacher Hinsicht besondere Bedeutung zu:

Eine Langzeitlagerung mit der Möglichkeit der Rückholung ist die Voraussetzung dafür, Grundfähigkeiten zu entwickeln, mit dem Problem umzugehen. Mit der Rückholbarkeit bleibt auch Fachkenntnis erhalten. Rückholbarkeit verpflichtet auf eine Tradierung des Wissens über Orte, die Art der Abfälle und Überwachungstechniken. Damit ist Rückholbarkeit Garant gegen das Vergessen. Eine Endlagerung könnte demgegenüber früh dazu verleiten, dass der Ort des Endlagers in Vergessenheit gerät. Um das zu verhindern, wäre der Pfad der Irreversibilität mit komplizierten atomsemiotischen Überlegungen zu befrachten.

Die Rückholbarkeit garantiert Kontroll- und Eingriffsmöglichkeiten. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse können umgesetzt, neue (heute noch unbekannte) Verfahren nutzbar gemacht und Baufehler korrigiert werden. Rückholbarkeit ermöglicht es, auf klimatische oder tektonische Veränderungen zu reagieren.

Ethische Kriterien, die gegen eine Rückholbarkeit angeführt werden, sind zumeist die Nachsorgefreiheit und die passive Sicherheit. Beide Kriterien überzeugen im Blick auf die Endlagerproblematik nur auf den ersten Blick. Nachsorgefreiheit und passive Sicherheit sind verführerisch, aber sie beinhalten die Gefahr, sich in falscher Sicherheit zu wiegen. Die Idee der garantierten passiven Sicherheit basiert auf der Vorstellung einer Machbarkeit, die m.E. auf der Vermengung von Zukunftsmöglichkeiten und Zukunftswirklichkeiten beruht. Sollte die zukünftige Wirklichkeit aber den aktuellen Vorstellungen der Möglichkeit nicht entsprechen, dann kippt, was als passive Sicherheit gedacht war, ins Unkontrollierbare um.

Die Aufgabe des Prinzips der Nachsorgefreiheit bedeutet in der Konsequenz für die nachfolgenden Generationen allerdings Nachfolgekosten und aktive Sicherheit – aber auch die Freiheit, eigene Entscheidungen treffen zu können.

Mit der Rückholbarkeit, sei es in Form einer langfristigen Zwischenlagerung, einer rückholbaren Endlagerung oder einer möglichen Bergbarkeit nach einem Verschluss, bürden wir den nachfolgenden Generationen eine sehr große Last auf, von der wir sie aber aus den hier dargelegten gemeinwohlorientierten Erwägungen nicht dispensieren dürfen, so sehr wir uns das auch wünschen. Rückholbarkeit garantiert keine allumfassende Handlungsfreiheit künftiger Generationen, aber der endgültige Verschluss schließt diese von vornherein aus. Wir können die zukünftigen Generationen nicht aus der Verantwortung entlassen, an der Lagerung und deren Sicherheit mitzuwirken. Aber wir sollten sie, wenn die Möglichkeit besteht, allen Unwägbarkeiten zum Trotz, über ihre Zukunft mitentscheiden lassen. Darin stecken viele Gefahren, aber vielleicht auch Chancen.

[1] Vgl. dazu: J. Manemann, Kritik des Anthropozäns. Plädoyer für eine neue Humanökologie, Bielefeld 2014.
[2] Vgl. zum Problemkontext „Technikgestaltung“: A. Grunwald, Technik und Politikberatung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt 2008, 41-75.
[3] Vgl. U. Beck, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt 1993.
[4] Vgl. Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für Wärme entwickelnde radioaktive Abfälle (Standortauswahlgesetz – StandAG), in: https://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/standag/gesamt.pdf
[5] Vgl. dazu: E. Bohlken, Die Verantwortung der Eliten. Eine Theorie der Gemeinwohlpflichten, Frankfurt/New York 2011; P. Schmitt-Egner, Gemeinwohl. Konzeptionelle Grundlinien zur Legitimität und Zielsetzung von Politik im 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2015; J. Manemann, Wie wir gut zusammen leben. 11 Thesen für eine Rückkehr zur Politik, Ostfildern 2013; ders., Liquid democracy? – Ein kritischer Diskussionsbeitrag, in: https://philosophie-indebate.de/1000/indebate/; E. Bohlken/V. Drell/M. Dröscher/T. Hoffmann/A. Holzknecht/ J. Manemann, Kirche – Kernenergie – Klimawandel,   Münster 22011.
[6] B. Barber, Starke Demokratie, Hamburg 1994, 104.
[7] Vgl. dazu: W. Steffani, Parlamentarische Demokratie – Zur Problematik von Effizienz, Transparenz und Partizipation, in: ders. (Hg.), Parlamentarismus ohne Transparenz, Opladen 1971, 17-47.

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1 Kommentar

  1. Die Entscheidung für die Rückholbarkeit wäre auch diejenige, die den Grundwerten und Grundideen der Demokratie am meisten Rechnung trägt. Gesetzgebung und Regieren in der Demokratie bedeutet, Kompromisse über politische Fragen zu erzielen. Die Ergebnisse dieser Kompromisse sind weder endgültig, noch werden sie als unfehlbar angesehen. Das Ziel des demokratischen Prozesses sind nicht ewige Wahrheiten, sondern tragbare, vorläufige Lösungen, die abgeändert werden können, sofern dies die Sachlage erfordert, oder sofern sich Mehrheiten ändern. Anders könnte Politik in einer freiheitlichen Gesellschaft auch kaum gestaltet werden. Eine nicht antastbare, überzeitlich bindende Regelung bedarf in einer Demokratie einer besonderen Begründung, so wie beispielsweise der Wert der Menschenwürde, auf dessen Festschreibung im Grundgesetz der gesamte Staatsaufbau der Bundesrepublik gründet. Das Festschreiben von Grundwerten, die quasi den „Um-Willen“ (Ernst-Wolfgang Böckenförde) eines Staates zum Ausdruck bringen und die überzeitlich gelten sollen, ist legitim. Denn die unabänderlichen in Artikel 1 und Artikel 20 des Grundgesetzes sind nicht nur einschränkend und beschränkend, sie spannen Möglichkeitshorizonte auf. Im Hinblick auf eine politische Sachfrage wie die Lagerung von Atommüll lässt sich eine überzeitliche Bestimmung, wie die Lagerung ohne eine Option der Rückholbarkeit schwerlich legitimieren. Denn wer künftige Generationen bindet, darf ihnen damit nicht nur Möglichkeitsräume verschließen, er muss zugleich Möglichkeitsräume eröffnen.

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