Peter Kainz
Im deutschen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs wird die amerikanische politische Theoretikerin Ayn Rand (1905-1982; geb. Alissa Sinowjewna Rosenbaum in St. Petersburg) bislang weitestgehend ignoriert. Nicht einmal in Henning Ottmanns beeindruckender und umfassender Geschichte des politischen Denkens findet sich im Band zum 20. Jahrhundert die Darstellung einer Autorin, deren Werke in den USA millionenfach verbreitet sind, deren Denken von eigenen Think Tanks (z. B. Atlas Society oder Ayn Rand Institute) propagiert wird und deren Theorie des „Objektivismus“ zeitweise an Instituten renommierter amerikanischer Universitäten diskutiert wurde. Diverse Mitglieder der amerikanischen Elite bekennen sich zu den Ideen Rands, exemplarisch genannt seien Ex-Notenbankchef Alan Greenspan, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales oder auch der republikanische Kandidat für das Amt des US-Vizepräsidenten bei den Wahlen 2012, Paul Ryan, der freilich einen formvollendeten „flip-flop“ hinlegte, als ihm bewusst wurde, dass sich Rands Vorstellungen so gar nicht mit einer religiösen Wählerschaft vertragen können.[1]
Es gibt also einige gute Gründe, warum man sich gegenüber einer philosophisch geführten Auseinandersetzung mit Rands Denken nicht verschließen sollte: Sei es, um unsere amerikanischen Bündnispartner – nicht: Freunde, wie uns vor einigen Wochen an dieser Stelle Bernhard Schreyer erläutert hat – besser zu verstehen, sei es um sich intellektuell mit einer Variante des Liberalismus auseinanderzusetzen, die einerseits eine pointierte Kritik eines im Totalitären mündenden Gleichheitsstrebens enthält, die andererseits jedoch ein liberales Gegenmodell anbietet, in welchem der Liberalismus selbst zu einem totalitären und pseudo-religiösen Dogma erhoben wird. Der vorliegende Beitrag soll diese Auseinandersetzung zumindest ansatzweise versuchen.
Rand hat ihren wesentlichen politischen, wirtschaftlichen und ethischen Ideen in literarischer Form Ausdruck gegeben, was ein möglicher Grund dafür sein mag, dass sie in Deutschland wissenschaftlich bislang als nicht satisfaktionsfähig erachtet wurde. Es existieren zwar auch mehrere Werke und Sammelbände, in denen sie ihre Ideen (populär-)wissenschaftlich aufbereitet; die eigentliche Theorie respektive Ideologie wird jedoch in den literarischen Werken entwickelt und massentauglich vermittelt. Die Romane We the Living (1936), Anthem (1938), The Fountainhead(1943) und schließlich das opus magnum, Atlas Shrugged (1957), stehen dabei in einer logischen Abfolge: In We the Living verarbeitet Rand die autobiographische Erfahrung totaler Herrschaft nach der Machtübernahme der Bolschewiki in Russland. Ihr Grundmotiv ist bereits in diesem Roman erkennbar – die „wahren“ Menschen, die Schaffenden, diejenigen also, die das Lebensprinzip des Fortschritts durch eigene Leistung bejahen, werden durch die marxistische Gleichheitsideologie in die Vernichtung gezwungen: Am Ende bleibt für die Protagonisten nur der Tod oder die Verleugnung der eigenen Prinzipien – sprich der metaphorische Tod im Verzicht auf das „wahre“ Leben. Der Roman Anthem baut darauf auf und erschafft eine Dystopie: Die Gleichheitsideologie hat gesiegt und Jahrhunderte vor dem Zeitpunkt der fiktionalen Handlung die alte industrielle und fortschrittliche Gesellschaft in den Untergang geführt. Das menschliche Los ist von Kollektivismus (- die Wiederentdeckung des Wortes „Ich“ kennzeichnet den Höhepunkt des Romans -), Unfreiheit und Unterentwicklung geprägt. Gleichzeitig wird der Ausweg angekündigt: Anders als in We the Living entflieht der Protagonist, Equality 7-2521, seiner Gesellschaft, gibt sich den Namen „Prometheus“ – bezeichnenderweise eine auch bei Marx und Nietzsche prominente Figur – und setzt sich am Ende des Romans zum Ziel, mit seiner Gaea „getauften“ Geliebten, also niemandem geringeren als der mythischen Urmutter, eine neue Weltordnung zu errichten.
Mit den Romanen The Fountainhead und Atlas Shrugged verlagert Rand die Handlung in den Kulturkampf ihrer amerikanischen Gegenwart: Während in The Fountainhead das eher individuelle Ringen zwischen „prime movers“ – der aristotelischen Anleihe entsprechend verkörpert im über-menschlich gezeichneten Architekten Howard Roark – und „second handers“ im Mittelpunkt steht, aus dem in diesem Fall der Protagonist siegreich hervorgeht, weitet Atlas Shrugged den Blick auf das gesamtgesellschaftliche Ringen. In diesem Hauptwerk Rands rückt die Erkenntnis in den Vordergrund, dass die „prime movers“ aufgrund ihrer natürlichen Überlegenheit viele Schlachten gewinnen können, den Krieg gegen die Gleichheitsideologie jedoch langfristig verlieren müssen. In Atlas Shrugged kommt diese Erkenntnis dem Ingenieur John Galt zu, der daraufhin die schaffenden Individuen sukzessive in ein geheimes Tal lockt, in dem sie gemeinsamen die Grundlagen für eine neue Gesellschaft legen. Die Folge dieser „Entrückung“ aus der Welt ist konsequent: Wenn sich das Göttliche – und für Rand verkörpern die „wahren“ Menschen das Göttliche – aus der Welt zurückzieht, steht das Ende aller Tage bevor. So steht am Ende des Romans eine verwüstete Zivilisation, in der sich die „second handers“ aufgrund ihrer eigenen Inkompetenz in die Selbstvernichtung manövriert haben und auf deren Trümmern sich die „prime movers“ anschicken, eine neue Weltordnung zu errichten: „‘The road is cleared,‘ said Galt. ‘We are going back to the world.’ He raised his hand and over the desolate earth he traced in space the sign of the dollar.”[2]
Spätestens hier wird erkennbar, dass Rands Anliegen kein geringes ist: Sie will nur noch kurz die Welt retten. In ihrer Perspektive steht die Menschheit an einem Scheidepunkt: Anders als in den feuchten Träumen marxistischer Weltbeglücker marschiert die Geschichte nicht naturgemäß – vorwärts immer, rückwärts nimmer – auf ihr weltimmanentes Paradies zu. Letzteres wird nur dann erreicht werden können, wenn es den „prime movers“ gelingt, die kulturelle Hegemonie der Gleichheitsideologie von Marxismus und Christentum – Rand hält beide für widernatürlich – zu zerstören und diese durch eine neue, eigene kulturelle Hegemonie zu ersetzen. In den Worten eines der Protagonisten aus Atlas Shrugged:
Our age is the climax of centuries of evil. We must put an end to it, once and for all, or perish – we, the men of the mind. It was our own guilt. We produced the wealth of the world – but we let our enemies write its moral code.[3]
Kurz: Rand argumentiert eigentlich wie Antonio Gramsci, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Wahl der literarischen Form, die ein viel breiteres Publikum und dieses darüber hinaus auf einer affektiven Ebene anzusprechen vermag, verdeutlicht also die Einheit von Theorie und Praxis im Rand’schen Ansatz.
Letztlich ist Rands Denken durch ein manichäisches Weltbild und ein weltimmanentes Heilsdenken geprägt – am Ende kann nur eine Seite bestehen. Die menschliche Natur ist durch eine fundamentale Ungleichheit von Starken und Schwachen gekennzeichnet, hier ist sich Rand einig mit Positionen, die sich epochenübergreifend beim platonischen Kallikles, bei Machiavelli, Nietzsche und nicht zuletzt bei Hitler finden. Der Wille, die Welt nach seinem Bilde zu verändern, ist es, wodurch die starken Individuen angetrieben werden. Ganz plastisch wird diese – wiederum prometheische – Schaffenskraft im Roman The Fountainhead in der Figur des Protagonisten Howard Roark, zum Ausdruck gebracht:
He [Roark, P.K.] looked at the granite. To be cut, he thought, and made into walls. He looked at a tree. To be split and made into rafters. He looked at a streak of rust on the stone and thought of iron ore under the ground. To be melted and to emerge as girders against the sky.
These rocks, he thought, are here for me; waiting for the drill, the dynamite and my voice; waiting to be split, ripped, pounded, reborn; waiting for the shape my hands will give them.[4]
Aus dieser Schaffenskraft der starken Individuen entsteht gesamtgesellschaftlicher Fortschritt, da die „prime movers“ die Geschichte vorantreiben, wovon sie selbst am meisten, schlussendlich jedoch alle Menschen profitieren. Die Ungleichheit zu verleugnen und sie systematisch zu unterdrücken muss folglich für Rand in den Untergang der Menschheit führen. Die Etablierung des Gleichheitsdenkens des Marxismus und des Christentums verkehrt die Weltordnung, schnürt die „prime movers“ ein und macht sie zum Knecht der „second handers“, die jedoch qua Natur nicht dazu in der Lage sind, zum Fortschritt der Menschheit beizutragen. Mit diesem Gedanken steht Rand schnell an einem Punkt, an welchem sie sich von anderen totalitären Ideologen nicht mehr unterscheidet: Das Schicksal der Menschheit entscheidet sich in der Gegenwart; die Kräfte des Guten befindet sich in einer Notwehrsituation, in der letztlich jedes Mittel gerechtfertigt erscheint, um den drohenden Untergang abzukehren. Rand hat dabei in Atlas Shrugged eine faszinierende Lösung gefunden, um die ihrem Denken entspringende Notwendigkeit der Feindesvernichtung in einen Automatismus umzumünzen. Die „prime movers“ müssen sich nicht die Hände schmutzig machen, sondern brauchen sich nur lange genug zurückzuziehen und nichts mehr zu tun – der Rest der Menschheit erledigt sich dann schon von selbst.
Bizarr an Rands Denken ist es, dass sie eigentlich eine besonders radikale Variante des Liberalismus zu vertreten scheint: Freiheit und Individualismus sind für sie die höchsten Werte. Doch denkt man ihren Liberalismus zu Ende, so kann man sich nur eine Gesellschaft vorstellen, die in allen Lebensbereichen lediglich eine theoretische Grundlage kennen kann: nämlich das Ideal des absoluten Egoismus. Die Frage ist nur: Was passiert mit den Andersdenkenden bzw. ist ein Andersdenken überhaupt noch möglich? Würde ein Bürger hinterfragen, ob eine solche Gesellschaft auch gerecht sei, müsste er entweder von seinem „Irrtum“ überzeugt oder aber zum Schweigen gebracht werden, weil der Zweifel den Bestand des gesamten Systems infrage stellt. „Wer das Leben beleidigt ist dumm oder schlecht“, so heißt es im Lied der Partei – und in Rands idealer Welt trifft diese Formel genauso zu.
Dabei übersieht Rand, dass die marxistische Gleichheitsideologie zunächst eine Reaktion auf den Liberalismus selbst war – nämlich auf dessen Versprechen der individuellen Befreiung des Menschen aus autoritären oder kulturellen Herrschaftsstrukturen. Die marxistische Ideologie stellt dieses Ziel des Liberalismus schließlich nicht in Frage, sie ist nur der Auffassung, dass lediglich ein Teil der Gesellschaft die Segnungen individueller Freiheit genießen kann, solange die Besitzverhältnisse ungleich sind. Die kommunistische Forderung nach radikaler Gleichheit ist insofern die letzte Konsequenz aus dem Freiheitsversprechen des Liberalismus selbst. Ayn Rands Abgleiten in eine Form totalitären Denkens verweist folglich zurück auf das Gerechtigkeitsverständnis im Liberalismus: Wenn Gerechtigkeit vorwiegend als Vertragstreue verstanden wird, so kann man durchaus auf den Gedanken kommen, dass Vertragsgerechtigkeit vor allem denjenigen zugutekommt, welche die Möglichkeit haben, die Spielregeln des Vertrages zu diktieren. Die Kritik an einem solchen Gerechtigkeitsverständnis (z. B. von Rousseau oder Marx) ist also nicht kategorisch von der Hand zu weisen.
Dieser ursächliche Zusammenhang zwischen Liberalismus und Marxismus hat Folgen für die geistige Freiheit, die von Rand als höchster Wert hochgehalten wird. Eine Gesellschaft, die Rands Konzeption umsetzen wollte, müsste verhindern, dass sich dieser Kreislauf der kritischen Reflexion der liberalen Prämissen wieder von vorne entwickelt – und das kann nur funktionieren, solange die Ideologie des radikalen Egoismus als umfassendes Prinzip in der Gesellschaft gelehrt und gelebt wird. Der hohe Wert der geistigen Freiheit kann für Rand folglich paradoxerweise nur erhalten werden, wenn man die geistige Freiheit selbst beschränkt, indem man den „moral code“ neu schreibt und ihn gegebenenfalls auch gegen Kritiker verteidigt. Rands Eintreten für Freiheit gilt nur dann, wenn es die – aus ihrer Perspektive – richtige Freiheit ist.
Was bleibt also? Rands Beobachtungen zur Gefahr eines verabsolutierten Gleichheitsstrebens sind an vielen Stellen messerscharf, zutreffend und entlarvend. Die Vorstellung, der liberalen Gesellschaft Geschichten zur Verfügung zu stellen, in der die Widersprüche und Denkfehler ihrer kollektivistischen Gegner vorgeführt werden, ist zunächst – ausgehend von der Prämisse, dass eine freiheitliche Gesellschaft wünschenswert ist – als positiv zu bewerten. Normalerweise haben gerade die Gegner der liberalen Ordnung den Vorteil, auf Affekte bauen zu können, um die liberale Ordnung zu diskreditieren (z. B. im Zugang zu Jugendlichen über Musik und neue Medien – sowohl im Rechts- und Linksextremismus als auch im radikalen Islamismus). Doch Rand schadet dem Liberalismus, wenn erkennbar wird, dass ihr eigener Ansatz nicht weniger geistes- und menschenfeindlich ist als der ihrer Gegner.
Rands Romane sind eigentlich keine Werke, die jemand, der sich auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung wohl fühlt, als lebensbereichernde Lektüre propagieren kann. Insofern ist es geradezu naiv, wenn eine Zeitung wie die Welt am Sonntag, Auszüge aus der deutschen Neuübersetzung von Atlas Shrugged unkommentiert und unkritisiert nachdruckt, selbst wenn es sich dabei um eine Schlüsselszene handelt, die eine harte Kritik linker Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik enthält. Es ist jedoch genauso verfehlt, wenn man die intellektuelle Auseinandersetzung mit Rands Position verweigert oder ihr Denken als eine amerikanische Absonderlichkeit abtut. Eine ernsthafte Beschäftigung mit Rand ist nötig, weil nur so die Selbstwidersprüche einer Autorin aufgezeigt werden können, die selbst den größten Wert auf logische Stringenz legt. Ferner kann die Diskussion der Rand‘schen Ideen dazu beitragen, zu einem besseren Verständnis der kulturellen Voraussetzungen des Liberalismus zu gelangen sowie gemeinschaftlich auf der Grundlage eines verfehlten Freiheitsverständnisses die Frage zu diskutieren, was Freiheit eigentlich sein kann und sollte.
(c) Peter Kainz
Dr. Peter Kainz studierte Politikwissenschaft und Amerikanistik in München, Passau und den USA. Er promovierte im Bereich der Politischen Theorie mit einem Beitrag über die Frage nach den Grenzen des Individualismus und findet Vergnügen daran, sich darüber Gedanken zu machen, wie und mit welchen Folgen politisches Denken literarisch vermittelt wird. Beruflich ist er als wissenschaftlicher Referent in Bonn tätig.
[1] Paul Ryan: https://www.atlassociety.org/ele/blog/2012/04/30/paul-ryan-and-ayn-rands-ideas-hot-seat-again
Wallaschek, Stefan (2012): Von Ayn Rand zu Paul Ryan: Kapitalismus als Moral, in: Blätter für deutsche und auswärtige Politik, 10/2012, S. 9-13.
Quack, Gregor: Paul Ryan and Ayn Rand. Gefahr im Buch, in: FAZ, 19.8.2012: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/paul-ryan-und-ayn-rand-gefahr-im-buch-11860256.html
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