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Genealogien als Methoden der Sozialwissenschaften?

Veröffentlicht am 16. Juni 2014

Nicht nur in den Geschichtswissenschaften oder in der Biologie, auch in den Sozialwissenschaften begegnet die aufmerksame Leserin/der aufmerksame Leser immer wieder der Textform der Genealogie. Es seien einige willkürliche Beispiele genannt. Cornel Wests Buch „The American Evasion of Philosophy“ ist, wie der Untertitel verrät, eine „Genealogy of Pragmatism“. Die Politikwissenschaftlerin Nadia Urbinate lieferte in ihrem Buch „Representative Democracy. Principles and Genealogy“ unter anderem eine Genealogie der repräsentativen Demokratie. Und Hans Joas legte mit „Die Sakralität der Person“ eine „neue Genealogie der Menschenrechte“ vor. In Joas Buch findet sich eine ausführliche Reflektion über Genealogie als Methode und die verschiedenen Formen von Genealogien. Joas entwirft, in Abgrenzung zu kritischen Genealogien, eine affirmative Genalogie der Menschenrechte.

Genealogien scheinen durchaus eine vielversprechende sozialwissenschaftliche Herangehensweise zu sein. Gerade zur Analyse der Entstehung und Entwicklung von Weltbildern, Theorien, Mentalitäten und Ideologien, kurz, weite Teile des Spektrums ideengeschichtlicher Forschung. Vor allem kritische Genealogien scheinen hier geeignet, falschen Universalisierungen und Essentialisierungen nachzuspüren und diese zu problematisieren. Dies gilt jedoch nicht uneingeschränkt.

Denn die Wahl eines genealogischen Vorgehens ist mit Problemen verbunden. Dies gilt einerseits hinsichtlich der Implikationen, die mit der Verwendung einer genealogischen Methode einhergehen, da es in der Tradition der Arbeiten von Friedrich Nietzsche und Michel Foucault steht. Die Verwendung eines solchen Verfahrens bedarf dann der Rechtfertigung sofern andere theoretische und epistemologische Grundannahmen das jeweilige Vorhaben leiten.
Ebenfalls laufen kritische Genealogien Gefahr, dem „genealogischen Fehlschluss“ aufzusitzen, also allein von der Entstehung oder dem Entstehungskontext einer Sache oder einer Idee auf ihre Validität oder ihren Wert zu schließen. Und schließlich ist eine genauere Erörterung der Methode notwendig, denn:

„Genealogy is a vague and general concept, and a theory of genealogy should recognize this generality by leaving room for debate about the themes it highlights.”[1]

Diese Unterbestimmtheit des Konzepts hat laut Martin Saar auch mit der genealogischen Textform selbst zu tun:

„Genealogie als kritisches Verfahren ist aber nicht ablösbar von ihren spezifischen formalen und textuellen Eigenschaften. […] In diesem Sinne hat die Genealogie keine Methode im Sinne einer klar definierten Methodologie, die sich beliebig anwenden und darstellen ließe. […] Da aber die Form ihrer Darstellung, eine bestimmte Ästhetik der Kritik, irreduzibles Element genealogischer Kritik ist, ist es unmöglich, diese in eine formalisierbare Detailwissenschaft zu überführen.“[2]

Nach Saar zeichnen sich kritische Genealogien durch drei bestimmende Elemente aus: „Subjekttheorie, Machanalytik, Darstellungsform“[3]. Im Unterschied zur schlichten Nacherzählung von Geschichte ist es nach Saar Ziel kritischer Genealogien, durch eine kritische Darstellung von Geschichte und eine Analyse der jeweiligen Machtverhältnisse die herrschenden Selbstverständnisse und Selbstverhältnisse infrage zu stellen und durch die Betonung von Geschichtlichkeit und Kontingenz andere Wege der Subjektivierung aufzuzeigen. Indem gezeigt wird, wie sehr die Herkunft einer Idee, die universelle, überzeitliche Geltung beansprucht, von deren historischen Umständen abhängig ist, soll dieser Anspruch in Frage gestellt werden.

Kritische Genealogien sind laut Ulf Bohmann

„als Tätigkeit selbst ein normatives Unterfangen, das auf legitimationsbezogene Effekte zielt. […] Bei Nietzsche und Foucault heißt das: subversiv, delegitimierend, auflösend durch das Aufzeigen fundamentaler Kontingenz scheinbar fragloser Gegenstände, bis hin zur Herausarbeitung ihrer dunklen, schmutzigen oder blutigen Herkunft“[4].

Sie werden als radikal historistisch charakterisiert, das heißt, sie tendieren zu einer Gegenposition in Anbetracht universalistischer Konzepte. Zudem zeichnet sie eine Ablehnung teleologischer Erklärungen und ein kontingentes Verständnis von Geschichte aus. Damit einher geht die Einschätzung von Wissen und Erkenntnissen als stets anfechtbar und unvollständig[5]. Sofern Genealogien radikal historistisch orientiert sind, bleibt ihnen der Bezug zu überhistorischen Wahrheiten verwehrt. Trotzdem können solche Arbeiten Wahrheitsansprüche stellen, sofern sie sich der Geschichtlichkeit ihres Anspruchs bewusst sind[6]. Radikal historistische Ansätze laufen dennoch Gefahr, einen monokausal argumentierenden Kulturalismus zu befördern, der reduktionistisch strukturiert ist.

Wenn Genealogien nicht nur als Methoden der Sozialkritik oder der Sozialphilosophie fruchtbar gemacht werden soll, sondern auch im Rahmen sozialwissenschaftlicher Forschung genutzt werden sollen, bedarf es daher einer Operationalisierung, die sie für eine solche Forschung fruchtbar macht. Zu leisten wäre, was Saar ausschließt, nämlich das Entwerfen einer klar definierten Methodologie genealogischen Vorgehens.

 (c) Dominik Hammer

Literatur

Bevir, Mark (2008): What is Genealogy?. In: Journal of the Philosophy of History, 2:2008, S.263 – 275

Bohmann, Ulf (2013): Charles Taylors Mentalitätsgeschichte als kritische Genealogie. In: Andreas Busen/Alexander Weiß (Hrsg.): Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens. Baden-Baden. Nomos. 1. Auflage 2013. Schriftenreihe der Sektion Politische Theorie und Ideengeschichte in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, Band 27.  S. 185-214

Saar, Martin (2007): Genealogie als Kritik Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a.M. und New York: Campus Verlag.

Saar, Martin (2013): Genealogische Kritik. In: Jaeggi, Rahel und Wesche, Tilo (2013):Was ist Kritik?. Berlin. Suhrkamp Verlag. Dritte Auflage 2013. S.247 – 265.


[1] Bevir, 2008: 264

[2] Saar, 2007: 16

[3] Saar, 2013: 252

[4] Bohmannn, : 186

[5] Vgl. Bevir, 2008: 265-268

[6] Vgl. Bevir, 2008: 268-269

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2 Kommentare

  1. Hallo Herr Hammer,
    eine kurze Frage: Ist nicht zwischen einer kritischen Genealogie und einer genealogischen Kritik zu differenzieren? Ihre Forderung nach einer Methodologie macht m.E. Sinn im Kontext des Entwurfs einer kritischen Genealogie, aber nicht im Zusammenhang einer genealogischen Kritik.
    Jürgen Manemann

    • Hallo Herr Manemann,
      vielen Dank für Ihre Frage. In der Tat ist zwischen genealogischer Kritik und kritischer Genealogie zu unterscheiden. Erstere umfasst ein tatsächlich methodisch schwer einzuhegendes Spektrum verschiedenster Kritiken, die in genealogischer Form geäußert werden. Zweitere ist die Bezeichnung für eine spezifische Art von Genealogie, die sich beispielsweise von affirmativen Genealogien oder klassischen Genealogien im Sinne historischer Hilfswissenschaften abgrenzt. Für diese kritischen Genealogien halte ich eine Methodologie durchaus für möglich. Eine solche Methodologie mag nicht für sämtliche kritischen Genealogien anwendbar sein. Sie kann aber dazu beitragen, einen auf die Mehrheit der untersuchten Phänomene anwendbaren Analyserahmen zu schaffen.
      Dominik Hammer

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