Katrin Wille
Ich schreibe diesen Beitrag mit dem Ziel, auf die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille aufmerksam zu machen, die aus meiner Sicht eine große Kraft hat, um sich und die Welt besser verstehen, aber auch kritisieren und verändern zu können. Die Unterscheidung ist wichtig für das Verhältnis von uns als handelnden Subjekten zu uns selbst, für die konkreten Beziehungen zwischen uns und anderen und für den Umgang mit gesellschaftlichen Herausforderungen. Ich will die Unterscheidung zuerst im Selbstverhältnis einführen und dann im zweiten Schritt Konsequenzen für ein aktuelles Thema unserer Zeit aus der Medizinethik aufzeigen. Vor allem daran zeigt sich drittens die radikale Konsequenz dieser Unterscheidung, die ich hiermit zur Diskussion stellen möchte.
I
Wie oft kann man bei sich selbst und anderen erleben, wie Absichten, Vorhaben oder Pläne, die man fasst, und unser Handeln auseinanderfallen. Wir nehmen uns vor, gesünder zu leben und tun es nicht. Wir beabsichtigen, den unangenehmen Anruf morgen zu tätigen, und tun es nicht. Wir planen zusammen mit Freunden einen Ausflug und halten den Plan nicht ein. In diesen und ähnlichen Situationen kann es natürlich verschiedenste Gründe dafür geben, dass wir von unseren Absichten, Vorhaben und Plänen abweichen. Der Ausflug zum Beispiel könnte wegen unerwarteter Krankheit abgesagt werden müssen oder der Anlass für den unangenehmen Anruf hätte sich inzwischen aufgelöst haben können. Dann erleben wir das Abweichen zwischen Absicht, Vorhaben oder Plan und unserem Handeln aber nicht als Auseinanderfallen, sondern als angemessene Anpassung an veränderte Bedingungen. Absichten, Vorhaben oder Pläne auf der einen und Handeln oder Tun auf der anderen Seite fallen dann auseinander, wenn sie einen Zusammenhang bilden sollen, also wenn der Anspruch erhoben wird, Absichten, Vorhaben oder Pläne durch Handeln oder Tun zu erfüllen. Nur dann, wenn ein solcher Anspruch besteht, reden wir eigentlich auch erst von Absichten, Vorhaben oder Plänen und nicht von Vorstellungen, wie etwas sein könnte, oder von Phantasien über Zustände, denen kein Anspruch auf Verwirklichung eigen ist. Erfahren wird das Auseinanderfallen von Vorhaben, Plänen, Absichten auf der einen und dem Handeln, Tun auf der anderen Seite dann, wenn der Anspruch einer Erfüllung oder Verwirklichung besteht, dem Anspruch aber nicht Genüge getan wird. Solche Situationen sind Anlässe dafür, die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille zu verwenden.
II
Im Zuge der neuen medizinischen Möglichkeiten tauchen Felder auf, in denen die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille auch institutionell wichtig wird und in denen Gestaltungsbedarf besteht. Das Beispiel, das ich hier aufnehme, ist das relativ junge Instrument der Patientenverfügung in der medizinischen Praxis unserer Gegenwart. In Patientenverfügungen wird oft ein Wunsch und nicht der Wille niedergelegt, und es ist in der konkreten Situation noch einmal neu zu sehen, ob sich der Wille des Patienten möglicherweise in sprachlichen und nicht-sprachlichen Vollzügen abweichend von den früheren Wünschen äußert. Ein instruktives Beispiel dafür, dass diese Unterscheidung die Praxis der Patientenverfügung gut erschließt, zeigt zum Beispiel die literarische Verarbeitung von Erfahrungen, die der Pfarrer und Schriftsteller Ulrich Knellwolf als Seelsorger in einem Altenheim gemacht hat. In seiner kleinen Geschichte „Patientenverfügung“[1], die Knellwolf mit Nachdruck als Geschichte und nicht als Fallbeispiel verstanden wissen will, weil Geschichten sich an alle wenden und auf das charakteristische Detail zielen, schildert er die Situation eines alten Mannes. Dieser legt nach dem Eintritt ins Altenheim mit aller Bestimmtheit in einer Patientenverfügung fest, dass keine lebensverlängernden Maßnahmen vorgenommen werden sollen. Im Heim geht es ihm gesundheitlich schlecht und er hadert mit seiner Umgebung und sich selbst. Dann trifft er Emma, eine andere Bewohnerin des Heims, und innerhalb kurzer Zeit wandelt sich sein Lebensgefühl vollständig. Deutlich sichtbar für alle ist, dass er und Emma sich des Lebens freuen. Plötzlich erkrankt er ernstlich und es stellt sich die Frage, was sein „mutmaßlicher Wille“ ist, wie es im Fachjargon heißt. Die Tochter klagt die Einhaltung der Patientenverfügung ein, die Heimleitung zögert, Emma ist verzweifelt.
III
Was ist richtig, was ist falsch? Die Geschichte von Knellwolf zeigt in aller Deutlichkeit die Problematik des Instrumentes der Patientenverfügung. Man soll entscheiden für eine Situation, die man nicht voraussehen kann und deren Rahmenbedingungen womöglich enorm differieren von all dem, was man in seinem Leben bis dahin kennengelernt hatte. Nun will man sich nicht in die Willkür anderer hineinbegeben, andere mit sich machen lassen und abhängig sein von deren Interessen und Wohl- oder Übelwollen. Man will selbst entscheiden, selbst bestimmen, was mit einem geschehen soll. Kann es dabei aber nicht sein, dass sich plötzlich einstellt, was man vermeiden wollte, dass die frühere eigene Entscheidung so fremd und abstrakt gegenüber der Situation wirkt, um die es geht, dass es fast so ist, als würde jemand anders mit anderen Interessen entscheiden?
Die Unwägbarkeiten der Zukunft und die Änderungen der eigenen Vorstellungen und Bewertungen werden dabei eingeklammert. Dies ist charakteristisch für Wünsche, denen genau deswegen eine Art Vorläufigkeit zukommt. Wie die Personen nun in den Situationen handeln, über die entschieden werden soll, gibt uns dagegen die Hinweise darauf, was sie in der Situation wollen.
Es ist sicher eine schöne und wichtige Gabe, Wünsche für sich selbst, für andere und für den Lauf der Welt haben zu können. Aber es ist misslich und manchmal sogar dramatisch, sich in den eigenen und den Wünschen anderer zu verstricken und den Blick von dem, was wir und andere tagtäglich tun, abzulenken. Entscheidend ist, was wir tun, und das muss immer neu erschlossen werden und ändert sich in lebendigem Austausch mit veränderten Bedingungen. Die Fixierung auf Wünsche ist abstrakt und entspringt einem falschen Bedürfnis nach Kontrolle und situationsunabhängiger Konstanz. Die Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille kann dabei helfen, uns und andere bei der verfehlten Suche danach neu zu orientieren.
(c) Katrin Wille
Dr. Katrin Wille ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie in Hildesheim. Sie hat gerade die Arbeit an ihrer Habilitationsschrift mit dem Titel: „Die Praxis des Unterscheidens. Beschreibung, Analyse, Kritik und Konstruktion philosophischer Unterscheidungen am Beispiel von Wunsch und Wille“ abgeschlossen. In ihrer früheren Tätigkeit als systemische Therapeutin und Beraterin hat sie viel Erfahrung mit der transformativen Kraft der Unterscheidung zwischen Wunsch und Wille sammeln können.
[1] Vgl. die Kurzgeschichte „Patientenverfügung“, in: Ulrich Knellwolf/ Heinz Rüegger, In Leiden und Sterben begleiten. Kleine Geschichten. Ethische Impulse, Zürich 2005, S. 51-52.
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