Liebe Blogger-Freundinnen und -Freunde, im Juli möchten wir mit Euch ein Experiment wagen. Wir möchten herausfinden, welches philosophische Potenzial in der kollektiven Intelligenz (Schwarmintelligenz) steckt. Jede Woche wird es eine Frage geben. Bitte schreibt zu dieser Frage ein eigenes Statement und versucht, dieses Statement mit anderen Statements zu verbinden, zu korrigieren, zu überarbeiten, weiterzuschreiben etc. Vielleicht entsteht am Ende ein einziges Statement, verfasst von einem AutorInnen-Kollektiv. Die Frage für diese Woche lautet:
Ist das Wahre auch das Nützliche?
Zunächst will ich erstmal auf meine Vorgänger eingehen. Dass das Wahre uns nur insofern interessiert, als es uns nützt, glaube ich ehrlich gesagt nicht; es sei denn wir gehen bereits von einem sehr sehr weiten Nützlichkeitsbegriff aus. Ich würde, was unser wesentliches Interesse bezüglich Wahrheit betrifft, mich eher auf den Relevanzbegriff berufen, etwa nach der Regel: „Sein heißt einen (signifikanten) Unterschied machen“. Ob interessierte Fragen und Wahrheiten bezüglich eines solchen relevanten, d.h. zunächst einmal bloß „(epistemologisch) zugänglichen“ Unterschieds irgendwie „nützlich“ sind, ist dann eine ganz andere Frage. Zudem ist auch keineswegs ausgeschlossen, dass uns ontologische Unterschiede interessieren, die aber keinerlei epistemologischen Unterschied nach sich ziehen etc. Allerdings wäre es hier in meinen Augen zweifelhaft, von irgendeinem näherliegenden praktischen „Nutzen“ zu sprechen.
Ich glaube aber nicht, wie mein Vorgänger (-> Fellmann), dass der Pragmatismus mit seiner Wahrheitsdefinition bloß sagen will, dass uns „unnütze Wahrheiten“ (und dann schließlich auch um der Definition willen „nützliche Falschheiten/Lügen“) nicht interessieren, sondern, dass der Pragmatismus durchaus sich darauf festlegt, dass es keine „unnützen Wahrheiten“ gibt, wie immer er auch das Nützlichkeitsprädikat genau verwendet.
Ein weiterer gängiger Einwand gegen die pragmatische Wahrheitstheorie ist, dass es auch „unnütze/unangenehme Wahrheiten“ gibt, oder, wie mein anderer Vorgänger (-> Hammer) mit Leo Strauss sagt, dass ein „heilsamer Mythos“ noch keine Wahrheit sein muss. Gegen diese Kritik kann man sich jedoch auf leichte Weise verwehren, indem man bspw. den Streit auf die Ebene des Nützlichkeitsbegriffes selbst verlegt und damit die Differenz zur „Wahrheit“ (in Bezug auf vermeintlich „unnütze Wahrheiten“) entsprechend tilgt. Es handelt sich hierbei außerdem lediglich um ein Plausibilitätsargument. Nun will ich im Folgenden meine eigenen Bedenken (u.a. auch einige weitere Plausibilitätsargumente, aber auch direkte Argumente) bezüglich der Identifikation von Wahrheit und Nützlichkeit, d.h. der pragmatischen Wahrheitstheorie, kundtun.
Das erste Problem, das mir bei der Identifikation von „wahr“ und „nützlich“ auffällt, ist, dass sich Nützlichkeit auf Gegenstände oder Zustände bezieht, Wahrheit dagegen eine Eigenschaft von Sätzen ist. Weiterhin ist der Nützlichkeitsbegriff graduell und relativ (in Bezug auf ein Subjekt und seine Präferenzen), der Wahrheitsbegriff bezeichnet dagegen eine objektive Eigenschaft.
Zudem ergibt sich noch eine Schwierigkeit bezüglich einer Eigenschaft des Wahrheitsprädikates. Die Aussage „Es ist wahr, dass S“ ist gleichbedeutend damit, einfach nur S zu behaupten. D.h. das Prädikat „ist wahr“ ist, zumindest im Wesentlichen, redundant. Dies trifft jedoch auf den Nützlichkeitsbegriff nicht zu. „Es ist nützlich anzunehmen, dass S nützlich ist“ ist keinesfalls gleichbedeutend mit „S ist nützlich“ oder einfach nur „S“.
Wir können auch eine Diskrepanz bei Anwendung von „wahr“ auf Gegenstände oder Individuen feststellen. So ist ein „wahrer Freund“ nicht unbedingt ein „nützlicher Freund“ und genauso wenig ist „falsches Gold“ „unnützes Gold“, sondern vielmehr überhaupt gar kein Gold.
Nehmen wir die Schwierigkeiten, die bei selbstreferentiellen Aussagen beim Wahrheitsprädikat auftauchen: „Dieser Satz ist falsch“ oder auch „Kein Satz ist wahr“ sind selbstwidersprüchliche Aussagen. Dagegen kann es durchaus sein, dass „Alles ist nutzlos“, „Etwas anzunehmen ist immer nutzlos“ usw. wahr ist. Hier liegt kein logischer Widerspruch vor. Darum kann „wahr“ und „nützlich“ nicht dasselbe sein.
Wir können außerdem bezüglich mancher Aussagen die Frage nach der Wahrheit aufwerfen, wo die Frage nach dem Nutzen sinnlos oder inhaltsleer erscheint. Zum Beispiel bei Aussagen wie „Dieser Satz ist wahr“ (= A). Ist es nützlicher anzunehmen, dass A wahr ist, oder ist es nützlicher anzunehmen, dass A unwahr ist? Hier würde ich meinen, dass der Nutzen indifferent ist. Dennoch muss/kann der Satz entweder wahr oder falsch sein.
Außerdem ließe sich prinzipiell denken, dass die Annahme einer Aussage oder die ihrer Negation beide gleichermaßen keinen Nutzen haben. Sind sie dann aber wahr oder nicht?
Betrachten wir modale Aussagen, so würde ich stark bezweifeln, dass wir hier sinnvollerweise mit einem Nützlichkeitsbegriff operieren könnten. Bspw.: „Es ist möglich, dass Platon kein Philosoph geworden wäre, wenn …“ Aber ist es nützlich anzunehmen, dass eine solche Möglichkeit bestünde? Oder hat das vielmehr überhaupt nichts mit Fragen der Nützlichkeit zu tun? Anzunehmen, dass bspw. die Naturgesetze kontingente Tatsachen sind, ist nicht diejenige Annahme, von der ich glauben würde, dass sie diesbezüglich die nützlichste wäre, die wir haben könnten. Dennoch würde ich nicht an der Wahrheit dieser Aussage zweifeln.
Zudem legt einen die Identifikation von „wahr“ und „nützlich“, wie ich glaube, auf eine bestimmte Ontologie fest. Wenn „es ist wahr, dass p“ soviel bedeutet wie, „es ist nützlich anzunehmen, dass p“, dann setzt dies gewisse Existenzpräsuppositionen voraus, etwa, dass Subjekte existieren, die etwas annehmen (für-wahr-halten) können usw.
Ich würde jedoch nicht sagen, dass wir uns mit dem Wahrheitsprädikat bereits eine solche Ontologie einhandeln oder überhaupt irgendeine bestimmte Ontologie; dies zeigt etwa das Beispiel (ontologie-)freier Logiken, in denen das Wahrheitsprädikat ebenso (semantisch) interpretierbar ist.
Nimmt man bspw. die pragmatische Wahrheitsdefinition zur Hand:
„Eine Aussage/Theorie ist wahr genau dann, wenn unser Verhalten, basierend auf dem Aussageinhalt, nützliche Ergebnisse bringt.“
Mein Einwand wäre hier, dass die Relation „ein Verhalten V basiert auf einer Aussage A“ nicht genau geklärt ist. Denn wann ist dies der Fall? Es handelt sich dabei um eine versteckte Korrespondenzbeziehung, auf die wiederum rekurriert werden muss. Und es wird vorausgesetzt, dass eine Theorie überhaupt genau bestimmbare empirische Konsequenzen bezüglich unseres Verhaltens hat. Was eine Theorie für pragmatische Konsequenzen hat, hängt aber nicht allein von dieser Theorie selbst ab. Wahrheit ist aber bloß eine Eigenschaft der Theorie selbst. Viele zusätzliche, theorieexterne (z.B. handlungsmotivierende) Faktoren würden einen Ausschlag dafür geben, welches Verhalten aus einer Theorie „ableitbar“ wäre. Daher können wir das auf einer Theorie basierende Verhalten nicht klar bestimmen – und somit wird die pragmatische Wahrheitsdefinition hinfällig.
Das Wahre ist nicht das Nützliche, aber es kann nützlich sein. Und nur soweit es uns nützt, interessiert es uns, der Rest geht uns nichts an. Das ist gemeint, wenn der Pragmatismus sagt: Wahr ist, was nützt. Der gängige Vorwurf gegen den Pragmatismus, er reduziere alles auf die Erwartungen des Menschen, beruht auf einem Mißverständnis. Auch unangenehme Wahrheiten können uns nützlich sein, indem sie uns davor bewahren, die Welt mit dem Paradies zu verwechseln. Ein Beispiel: Ich hatte einen Freund, dessen Bauchspeichelkrebs ihm definitiv nur noch ein paar Monate Lebenszeit gewährte. Sollte ich ihm das sagen? Es hätte ihm doch nichts genützt, es hätte ihm nur die Illusion zerstört. Ich hab’s ihm trotzdem gesagt, und er ist mit dieser Wahrheit mit sich und seinem Gott ins Reine gekommen. Er ist ohne Angst gestorben.
„Selbst wenn man aufzeigt, daß eine bestimmte Überzeugung zum guten Leben unentbehrlich ist, so beweist man damit lediglich, daß die betreffende Überzeugung ein heilsamer Mythos ist; man beweist nicht, daß sie wahr ist.“ (Leo Strauss, Naturrecht und Geschichte, S.6)