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InDebate: Jenseits der Selbstentfremdung

Veröffentlicht am 2. Dezember 2020

in memoriam Johann Baptist Metz (1928 – 2019)

Was Philosophische Praxis von der Psychotherapie allemal unterscheidet, ist, dass erstere auch „die Not der Notlosigkeit“[1] in den Blick bekommt, die für meine Wahrnehmung als Philosophischer Praktiker ein unsichtbarer Grundzug unserer späten Moderne ist. Von dieser Not soll hier die Rede sein.

Der französische Soziologe Alain Ehrenberg hat in der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert vom „Niedergang der Neurose“[2] gesprochen. An die Stelle der Neurose ist die Verzweiflung getreten, von der Kierkegaard sagt, dass sie „die verzweifelte Unwissenheit darüber [sei], dass man ein Selbst“[3] hat. Denn diese Unwissenheit ist das primäre Kennzeichen des postneurotischen Egos aus dem Jahr 2020. Der „klassische“ „Neurotiker“ litt an der Erfahrung seines widersprüchlichen Selbst. (Ort für seine Selbsterfahrung waren in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts oft die sog. „Selbsterfahrungsgruppen“.) Nicht so beim postneurotischen Ego: Dieses Ego kennt nicht (mehr) das widersprüchliche Selbst, das das Selbst der Selbsterfahrung ist. Sein Thema ist nicht die Selbstentfremdung, derer sich das spätmoderne Ego in den Selbsterfahrungsgruppen bewusst wurde, sein Thema ist vielmehr der Verlust eben des Selbst, das darunter leidet, sich nicht in Verhältnis zu sich selbst setzen zu können. Wenn Hans Magnus Enzensberger schon vor langen Jahren von dem „sekundären Analphabeten“ sprach, dessen Not es ist, „nicht unter dem Gedächtnisschwund“ zu leiden, an dem er leidet, dann erkenne ich darin das postneurotische Ego wieder, dessen Thema der Selbstverlust ist.[4] Denn dieses Ego leidet an dem Verlust des leidensfähigen Selbst. Der „klassische“ „Neurotiker“ litt unter seiner unterdrückten Emotionalität. Ein wichtiges Kennzeichen für den Verlust des Selbst ist die gelähmte Emotionalität.

Der sog. „Neurotiker“ scheiterte an seiner Alltags- und Wirklichkeitstauglichkeit. Nicht so das postneurotische Ego. Es ist (oft sehr anpassungsschlau!) alltags- und wirklichkeitstauglich. Damit hat es kein Problem. Sein Problem ist, dass es in seinem eigenen Leben gar nicht vorkommt. „Nicht wahr, Didi, wir reden uns immer ein, dass wir existieren“, sagt Becketts „Estragon“ zu „Wladimir“ in „Warten auf Godot“ und Wladimir antwortet (ungeduldig): „Ja, ja, wir sind Zauberer“.[5] Der Neurotiker litt unter seinem beschädigten Selbstausdruck. Das postneurotische Ego ist – von ihm zumeist nicht durchschaut – ein Opfer der gesellschaftlich erzwungenen Selbstinszenierung. Das „neoliberale Selbst“[6] und das postneurotische Ego haben viel gemeinsam, z. B. die Subjektmüdigkeit[7]! Dessen „Lebenskönnerschaft“[8] „verschwindet“ in der eigenen Leistungsfähigkeit. Deshalb setzt dieses Ego, wenn und wo es an der Steigerung seiner Leistungsfähigkeit interessiert ist, auf seine Selbstoptimierung. (Wobei es beim postneurotischen Ego gar nicht um die Optimierung des Selbst geht, sondern um die „Verbesserung“ des Egos, das von sich selbst keinerlei Kenntnis hat.)

Das Kennzeichen des postneurotischen Egos ist auch die mehr oder minder starke Unbeweglichkeit seines Seelenlebens und deshalb die verloren gegangene „Freiheit der Ansprechbarkeit“[9] oder der Verlust der „hörfähigen“ Vernunft. Sein unbewegliches Seelenleben macht es traurig, aber es ist unfähig zu trauern. Dies galt nicht für den sog. „Neurotiker“. Er konnte weinen, wenn er etwas zu betrauern hatte. „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, in der Melancholie ist es das Ich selbst“[10], schreibt Freud in seinem berühmten Aufsatz über Trauer und Melancholie aus dem Jahr 1917. Freuds melancholischem Ich entspricht bei Kierkegaard die verzweifelte Unwissenheit, ein Selbst zu haben. Für diesen Menschen findet er ein plastisches Bild. Es ist der Mensch, der es bevorzugt, im „Keller“[11] seines eigenen Hauses zu wohnen. Um im Bild zu bleiben: Der „klassische“ Neurotiker hat sich irgendwann (ängstlich) in diesen Keller zurückgezogen und deshalb litt er unter seiner blockierten Selbstausdehnung. Nicht so das postneurotische Ego. Hier stimmt, was Kierkegaard so sagt: Dieses Ego „zieht es nicht nur vor, im Keller“ zu wohnen, sondern es wehrt sich sogar dagegen, „die Beletage zu beziehen, die frei ist und zu seiner Verfügung steht – denn [es] wohnt ja in seinem eigenen Haus“.[12] Erinnert dieses postneurotische Ego nicht auch an Nietzsches „letzten Menschen“, der „das Glück erfunden“ hat?[13] Dieses Ego ist der letzte Mensch Nietzsches, der in seinem leeren Keller sitzt und dennoch nichts vermisst. „Hans im Glück“ lässt grüßen!

Man könnte es auch mit Augustinus sagen: Dem Ego vor dem Verschwinden der Neurose stand die Möglichkeit zur „memoria sui“[14], zur Erinnerung an sich selbst, zur Verfügung. Eben diese Möglichkeit hat das postneurotische Ego nicht, weil der Verlust seines Selbst dies nicht möglich macht. Am Verlust des Selbst leidet, wer sich nicht an sich selbst erinnern kann, weil – anders als bei der Selbstentfremdung[15]! – jenseits der Selbstentfremdung der „Draht“ vollständig zu dem Selbst „gekappt“ ist, das dem Ego eine Erinnerung an sich selbst möglich machen könnte. Deshalb leidet das postneurotische Ego auch nicht mehr unter seiner verdrängten Erinnerung, denn diese setzt die tendenzielle und prinzipielle Bezüglichkeit zu dem Selbst voraus, das sich an sich selbst erinnern kann, wenn es sich an sich selbst erinnern will. Dieses Ego leidet darunter, dass es mit seinem schon längst reflexiv gewordenen Unbewussten keine Wahrheit mehr kennt, die ein subjektkonstitutives und identitätsstiftendes Ereignis ist. Philosophische Praxis setzt am Anfang des 21. Jahrhunderts bei ihren Gästen für deren Selbstentdeckung auf die Wahrheit, die dort zum Ereignis wird,[16] wo sie mit ihrem „erinnerungsgeleiteten und […] ideengeleiteten Logos“[17] den erwarteten Plausibilitäten und Evidenzen ihrer Gäste widerspricht. Philosophieren heißt anders denken.

Der Religionsphilosoph Johann Baptist Metz sieht, was Jürgen Habermas in seinem opus magnum „Auch eine Geschichte der Philosophie“[18] nicht in den Blick bekommt: dass die Religion von der Vernunft vor allem da und dort auf eine zukunftsfähige Weise beerbt wird, wo der unveräußerliche Zusammenhang zwischen Erinnerung und Freiheit nicht in Vergessenheit gerät. „Erinnerung als Medium des Praktischwerdens von Vernunft als Freiheit“.[19] Mit Metz setzt auch Philosophische Praxis, wie ich sie vertrete, auf die „erinnerungsbegabte Vernunft“[20], d. h. beim postneurotischen Ego auf die ihm verloren gegangene Möglichkeit und Fähigkeit, sich wieder an sich selbst zu erinnern. Ich könnte auch sagen: Dieses Ego bekommt mühsam – und oft über einen längeren Zeitraum – wieder einen „Draht“ zu sich selbst. Die Wiedererinnerung im dialogischen Denken zwischen dem Praktiker und dem Gast ist für dieses Ego, das ein Gefangener seiner – unsichtbaren – Verzweiflung ist, der „Seelenschlüssel“ zu seiner Freiheit. „Seelen-Werkzeug“[21] auf Seiten des Praktikers ist das Denken als Wahrnehmungsorgan[22]. Das Dialogische im Denken ist in Philosophischer Praxis die Alternative zu der diskursiven Vernunft des spätmodernen Rationalismus, der keine „Antenne“ für die „die Verzweiflung [hat], die unwissend darüber ist, daß sie Verzweiflung ist“[23] oder eben für die „Not der Notlosigkeit“ kein Wahrnehmungsorgan besitzt.

Michel Foucault hat in seinem Werk „Die Ordnung der Dinge“ schon Anfang der 70er Jahre die Ahnung ausgesprochen, „daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand“.[24] Er hat sich nicht geirrt.

© Thomas Polednitschek


[1] Heidegger, Martin: „Anklang“, in: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis; Bd. 65); Gesamtausgabe, III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen. Vorträge – Gedachtes, Frankfurt a. M.: Klostermann 2003, S. 107.
[2] Ehrenberg, Alain: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart, New York/Frankfurt: Campus 2004, S. 117.
[3] Kierkegaard, Sören: Die Krankheit zum Tode, Hamburg: Meiner 1995, S. 41, Einfügung T. P.
[4] Enzensberger, Hans Magnus: Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1988, S. 67.
[5] Beckett, Samuel: Warten auf Godot, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1971, S. 171.
[6] Mason, Paul: Klare, lichte Zukunft. Eine radikale Verteidigung des Humanismus, Berlin: Suhrkamp 2019, S. 59.
[7] Vgl. Polednitschek, Thomas: Der politische Sokrates. Was will Philosophische Praxis?, Münster: LIT Verlag 2014.
[8] Vgl. Achenbach, Gerd B.: Lebenskönnerschaft, Freiburg u.a.: Herder 2001.
[9] Jüngel, Eberhard: Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen: Mohr 1992, 208.
[10] Freud, Sigmund: Trauer und Melancholie, in: Psychologie des Unbewußten, Studienaus­gabe Bd. II, Frankfurt a. M.: Fischer 1975, S. 200.
[11] Kierkegaard 1995, S. 42.
[12] Kierkegaard 1995, S. 42, Einfügung T. P.
[13] Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. KSA 4, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999, S. 19.
[14] Augustinus: De trinitate, Hamburg: Meiner 2001, S. 196 (dt. 197).
[15] Vgl. Jaeggi, Rahel: Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems, Frankfurt a. M./New York: Campus 2005.
[16] Vgl. Badiou, Alain: Paulus. Die Begründung des Universalismus, München: sequenzia 2002.
[17] Metz, Johann Baptist: Memoria passionis. Ein provozierendes Gedächtnis in pluralistischer Gesellschaft, Freiburg [u. a.]: Herder 2006, S. 239.
[18] Vgl. Habermas, Jürgen: Auch eine Geschichte der Philosophie, Berlin: Suhrkamp 2019.
[19] Metz, Johann Baptist: Im dialektischen Prozess der Aufklärung, GS Bd. 3/1. Freiburg i. Br. 2016, S. 207.
[20] Metz 2006, S. 140, Fn. 217.
[21] Vgl. Stüttgen, Johannes: Zeitstau: Im Kraftfeld des erweiterten Kunstbegriffs von Joseph Beuys. Sieben Vorträge im Todesjahr von Joseph Beuys, Stuttgart: Verlag Urachhaus 1988, S. 83.
[22] Vgl. Heidegger, Martin: Was heißt denken?, Tübingen: Niemeyer 1984. Vgl. auch: Poled­nitschek, Thomas: Macht Philosophie das Leben schöner?, in: weiter denken. Journal für Philosophie, Nr. 2/20. Online unter: https://weiter-denken-journal.de/herbst_2020_endzeit/pro_und_contra.php, letzter Zugriff: 20.11.2020, 11:06 Uhr.
[23] Kierkegaard 1995, S. 41, Einfügung T. P.
[24] Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980, S. 462.

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