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InDebate: Nach der „Krise der Wissenschaften“

Veröffentlicht am 26. Januar 2015

Hijikata

Toru Hijikata 

Frei von den traditionellen ontologischen Belastungen waren selbst die Denkansätze nicht, die im 20. Jahrhundert jeweils eine markante Wende vollzogen hatten. Dazu gehören beispielsweise die Webersche Reflexion über die Objektivität in den Naturwissenschaften (wie Max Planck, Albert Einstein, Werner Heisenberg usw.), die Husserlsche Krise der Wissenschaften, die Mannheimsche Ideologiekritik, die kulturanthropologische Entdeckung der Struktur und die postmodernistische Diskussion über das Ende der großen Rede (Jean-François Lyotard, Francis Fukuyama). Symptomatisch ist dabei, dass alle wissenschaftlichen Äußerungen oder theoretischen Schlussfolgerungen relativiert werden können und somit kontingent bleiben müssen. So ist es inzwischen fast unmöglich geworden, der Gesellschaft gegenüber bestimmte allgemeingültige Werturteile aufzuzeigen und als Orientierungshilfe anzubieten. Diese Schwierigkeit ist darin begründet, dass jedes Werturteil durch ein anderes relativiert wird und dass diese Relativierung wiederum durch ein weiteres Werturteil relativiert werden kann.

Paradoxie: Interreligiöse oder interkulturelle Dialoge in pluralistischen Gesellschaften

Angesichts der multi-religiösen und -kulturellen Situation wird ein einheitliches, exklusives Argument zurückgewiesen. Stattdessen werden Pluralität, Relativität und Toleranz bejubelt und diverse Diskussionen hinsichtlich der Möglichkeit des „Dialogs“ und des „gegenseitigen Verständnisses“ entfaltet. Man setzt dabei die Existenz von mehreren Polen voraus und sucht ihre Pluralität und Andersartigkeit zu verdeutlichen. Oder es wird im Prozess der Diskussion die Wichtigkeit des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses hervorgehoben, so dass ein Ausschluss des einen durch den anderen zurechtgewiesen wird.

Diese Art der Diskussionen erscheint auf den ersten Blick vernünftig, erweist jedoch ihre Aporie, sobald sie einer kritischen Analyse wie der folgenden unterzogen wird. Diese scheinbar vielfältigen Sichtweisen, die das herkömmliche Einheitsverständnis überwinden sollen, werden zwar unter den Begriff der „Pluralitat“ gefasst. Doch erhebt sich ein Bedenken, ob es sich dabei doch nicht um eine Art des Einheitsverständnisses handle. Mit anderen Worten: Muss man mit dem scheinbar toleranten Argument, den Ausschluss als intolerant zu kritisieren, sich gegen jede Exklusivität doch nicht exklusiv verhalten, um sich gegen die ausschließende Kraft zu wehren? Es geht also um ein Bedenken, ob es sich beim pluralistischen Argument für Toleranz und gegen Ausschließlichkeit um eine selbst exklusive Behauptung zur Aufrechterhaltung der Toleranz oder auch um eine absolute Forderung für die Durchsetzung des „Relativen“ handelt.

In gleicher Weise verzichtet man in der Gesellschaft auf die Existenz eines Gottes oder einer Religion und diskutiert stattdessen nur über den pluralistisch gemeinten „Gott“ oder Monotheismus. Die Orthodoxie lässt sich meist als eine von mehreren (möglichen) betrachten. Und wenn man eine plurale Orthodoxie anerkennt, so muss man sofort von einer pluralen Heterodoxie sprechen. Das bedeutet, dass der Anzahl der Orthodoxien die Zahl der Heterodoxien entspricht. Es gibt viele „einzige und einmalige Götter“ und daher ebenso viele Monotheismen. Dieser Sachverhalt ist durchaus als religiöse Pluralität bekannt, und viele religiöse Autoren diskutieren über die religiöse Pluralität oder über plurale Religionen in der Gesellschaft als soziale Phänomene, wobei die These eines religiösen Pluralismus aufgestellt wird. Doch hierbei müssen wir ein Paradox beobachten.

Was bedeutet religiöse oder kulturelle Pluralität? Pluralismus ist in diesem Kontext:

  1. a) Koexistenz einheitlicher -Ismen:
    Kann Pluralismus zusammen mit einem -Ismus einheitlichen Anspruchs existieren? Kann der Pluralismus einen -Ismus akzeptieren, der den Pluralismus ausschließt, gewissermaßen als eine Möglichkeit von pluralen Möglichkeiten? Oder:
  1. b) ein -Ismus (-Ismen) über die Pluralität gegenüber einem einheitlichen -Ismus: Schließt der Pluralismus einen -Ismus, der, um andere Religionen zu respektieren, Pluralität ausschließt, aus? In diesem Fall finden wir eine einschließende Pluralität mit dem Anspruch „Jeder (nur nicht ich) muss plural sein!“ vor, d.h. hier handelt es sich um ein a priori des Plural-Ismus. (Mit anderen Worten: es darf sich nicht um Pluralität ohne Einheitlichkeit handeln, nicht um Differenz ohne Identität, sondern um Differenz zwischen Identität und Differenz.)

Wie kann man das entparodoxieren?

Unter diesem Gesichtspunkt erscheinen viele der neueren „pluralistischen“ Argumente im interreligiösen Dialog und „multikulturalistischen“ Argumente in der Politologie und Politikphilosophie als ein Versuch, auf der Grundlage eines neuen Prinzips bzw. einer neuen Regel Konflikte zwischen Religionen oder Kulturen, d.h. die Vielfältigkeit und Pluralität zu erklären oder gar in eine Einheit zu absorbieren. Es fragt sich daher, ob diese Vielfältigkeit und Pluralität verschwinden wird, sobald sie erklärt und absorbiert wird, oder wo sie konkret realisiert wird. Oder aber: Wird erneut eine hierarchische Struktur mit einem Pol an ihrer Spitze herbeigeholt? Neuere Konferenzen zum Thema „Dialog der Zivilisationen“ machen erneut Appelle für menschliche Gemeinsamkeiten, moralische Verpflichtungen, Einhaltung der Menschenrechte, Förderung der ökologischen Maßnahmen und die Fortsetzung der Dialoge für gegenseitiges Verstehen. Dialoge sind jedoch offen und bleiben es, ohne einen Endpunkt zu erreichen. Jede Form der exklusiven Religion soll ausgeschlossen werden, so dass dieser eigene Standpunkt selbst exklusivisch verankert ist. Diese Art von Diskussionen scheinen im bekannten „Münchhausen Trilemma“ von H. Albert zu enden:

Die Behauptung einer Vielfältigkeit und Pluralität gegen eine Einheit muss in sich über die Möglichkeit verfügen, vielfältig und pluralisch zu sein. Ein Argument, das gegenüber der Ausschließlichkeit die Toleranz behauptet, muss auch ihr gegenüber tolerant sein.

Dabei handelt es sich nämlich um das Problem mit der Singuralität, die unter dem Titel „Pluralität“ versteckt wird, oder mit der Absolutheit unter der „Relativität“. Ebenfalls problematisch erscheint die Toleranz, die die Intoleranz ermöglicht, oder die Verstehbarkeit der Nichtverstehbarkeit, und schließlich die Dialogmöglichkeit der Dialognichtmöglichkeiten.

Aber wie ist es möglich?

© Toru Hijikata

Prof. Dr. Toru Hijikata ist seit 1988 Professor für Soziologie an der Seigakuin Universität Saitama, Japan. Seine jüngste Publikation in deutscher Sprache ist Das positive Recht als soziales Phänomen, Berlin (Duncker & Humblot) 2013.

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Beitragsthemen: Wissenschaft

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