Ryosuke Ohashi
(1) Die Natur hat das Leben hervorgebracht, das in seiner langen Evolutionsgeschichte auch die Menschengestalt angenommen hat. Der Mensch besitzt die Technik, so glaubt er zumindest, mit der er als „Herr und Besitzer der Natur“ (Descartes) diese zu beherrschen, zu ändern und auch zu zerstören imstande ist. Allerdings ist die heutige Lage der Technikwelt auch so zu bezeichnen, dass eher der Mensch vom sich selbst vorantreibenden Mechanismus der Technik wie z.B. des Aktien- und Kapitalmarktes besessen wird. Wenn eine neue Ware durch die moderne Technik hergestellt wird, wird sie im Vergleich mit der älteren Version in vielen Hinsichten verbessert. Zugleich wird aber noch ausdrücklicher, dass sie nicht zum Zweck der Erfüllung der Bedürfnisse der besseren Qualität, sondern zum Zweck der Erweckung dieser Bedürfnisse produziert wird. Als Folge kommt es vor, dass, wenn ein neues Computer-Modell auf dem Markt erscheint, der Benutzer von dieser Modellerneuerung verfolgt und aufgefordert wird, sich an die mit dieser neuen Ware verbundene technische Ausrüstung anzupassen.
Es scheint weiterhin, dass die Naturzerstörung durch die Technik trotz der Versuche des Naturschutzes durch den Menschen immer weiter in Gang ist. Dabei ist zu bemerken, dass die Technik nicht etwas von einem anderen Planet Hergekommenes, sondern in unserem Planet Entstandenes ist, und in diesem Sinne nichts anderes sein kann als ein Produkt der Natur, wenn unter der Natur die Totalität all dessen verstanden wird, was mit und auf diesem Planet gegeben ist. Die Technik, die sich gegen die Natur wendet, entstand aus der Natur selbst. Es scheint, dass die Natur in sich selbst den Charakter der Anti-Natur birgt.
(2) Jedoch ist andererseits festzustellen, dass die Technik nie die Naturgesetzmäßigkeit überspringt. Wenn ein Technikprodukt in irgendeinem kleinen Detail der Naturgesetzmäßigkeit widerspricht, muss es zugrunde gehen, was bei der Abschießung einer Rakete oder bei einem Bauwerk sofort zu sehen ist. Dasselbe gilt für ein technisch manipuliertes Gesellschafts- und Staatssystem. Wenn dieses System die naturgemäße Gerechtigkeit vergewaltigt, was beispielsweise bei einem Diktaturstaat zu sehen ist, verwandelt es sich in ein System, das sich selbst unterdrückt und gegen sich selbst wendet.
Wann schlägt die Naturgesetzmäßigkeit der Technik als Folge ihrer Wesenstruktur in die Anti-Natur um? Zu dieser Frage sind zunächst zwei Denkmodelle der Betrachtung dieses Problems vorzustellen. Das eine ist die physikalische Untersuchung zur Natur, und das zweite ist die theologische Frage nach der Herkunft des Bösen, in der vom Gott als summum bonum erschaffenen Welt.
Was das erstere Denkmodell betrifft: Neuerdings haben die Physiker die theoretisch längst angenommene „Antimaterie“ in physikalischen Experimenten festgestellt und bewiesen, dass jedes Elementarteilchen ein diesem entsprechendes Antiteilchen hat. Ein Wasserstoffatom z.B. hat ein Antiwasserstoffatom. Allerdings ist die Antimaterie durch und durch ein Naturphänomen, das sich dem Naturgesetz unterwirft, und nicht das, was Anti-Natugesetzliches herbeiführt. Es sollte jedoch weiter nachgedacht werden, „dass naturwissenschaftliche Theorien nicht die Lebenswelt beschreiben, sondern sie konstruieren eine Wirklichkeit, die experimenteller Überprüfung zugänglich ist.“ (Herbert Pietzschmann, Das Ganze und seine Teile, S. 22). Wo das naturwissenschaftliche Weltbild zum Vorbild der Lebenswelt gemacht wird und in dieser Perspektive die Technik sich weiter betreibt, ist ein Element der Anti-Natur schon da.
Das zweite Denkmodell, die theologische Frage nach der Herkunft des Bösen, lässt sich wohl von der Theosophie J. Böhmes und der Spekulation F.W.J. Schellings vertreten. Die beiden Denker legten den Gedanken des „Ungrundes“, wodurch das Denkparadigma des „Grundes” überhaupt, somit des „begründend-ergründenden rationalen Denkens“, in dessen Macht und Tragweite gründlich in Betrachtung gezogen wird. Aber dieser Denkversuch bleibt in der Philosophiegeschichte, teilweise sogar bei Schelling selbst, zurückgelassen. Er könnte in der Frage nach der Anti-Natur in der Natur selbst in ganz anderem Problemkontext erneut berücksichtigt und beleuchtet werden.
(3) Die genannten zwei Denkmodelle deuten eine entscheidende Einsicht an: In der Wesensnatur des Menschen selbst, die, um es mit dem Terminus der deutschen Philosophie zu sagen, als „Geist“, somit als das innere Wesen der Natur selbst aufzufassen ist, liegt das Geheimnis des Umschlags der Natur in die Anti-Natur. Damit wird keineswegs die anthropo-zentrisch orientierte Sicht gemeint. Umgekehrt soll eben die Frage nach dem Wesen und Selbst dieses Menschen selbst als die Kernfrage im vorliegenden Problemzusammenhang grundsätzlich gestellt und entfaltet werden.
Dazu bräuchte man kein neues Denkexperiment ab ovo zu machen. Denn das Problem ist, wie angedeutet, in dessen wesentlichen Zügen ein alt-überliefertes, das dementsprechend auch in verschiedenen Denkansätzen der Geistestradition sowohl im Westen wie auch im Osten gefunden werden kann. Da die Entwicklungsphase dieses Problems heute durchaus global ist, und unser geistiges Leben nicht mehr bloß als westlich oder als östlich zu bezeichnen ist, gilt es, die Schnittpunkte der im Osten und Westen altüberlieferten Denktraditionen als beleuchtendes Hilfsmittel zu suchen. Ein Beispiel für einen solchen Schnittpunkt wäre der Begriff der „Compassion“, die auf der einen Seite in der theosophisch-spekulativen Spekulation die „Liebe“ genannt wird, die als ein anderer Name des „Ungrundes“ gilt, und seit Paulus als „Alles in Allem“ aufgefasst wird. Auf der anderen Seite bildet der Begriff der „Compassion“ im Mahayana-Buddhismus mit dem anderen Begriff „Weisheit“ das fundamentalste Begriffspaar des Mahayana-Buddhismus.
Am Schnittpunkt des Gedankens der Compassion im Osten und im Westen wird sich, was ich hier nicht weiter ausführen kann, eine Einsicht ergeben: Der Mensch ist zuallererst das der Natur zugehörige Wesen, zugleich aber auch das der Natur widersprechende Wesen. Die „Zugehörigkeit zur Natur“ bedeutet in der konkreten Seinsweise des Menschen das „der Natur Zuhören“. Indem der Mensch der Natur zuhört und in diesem Zuhören die Natur sprechen lässt, öffnet sich der Horizont des hörenden Denkens, in dem die Frage nach dem Wesen der Natur neu entfaltet werden kann. Aber dieses Offene wird meistens verdeckt mit der anderen gleichursprünglichen Wesensnatur des Menschen, der Natur sowie sich selbst zu widersprechen. Diese andere Wesensnatur kann als die Anti-Natur in der Natur selbst bezeichnet werden. Die Wesenstendenz der Technik als Anti-Natur wird mutmaßlich mit dieser widersprüchlichen Selbstidentität der Natur selbst verbunden. Dies heißt, dass die Frage nach dem Wesen der Technik und die Frage nach der Wesensnatur des Menschen im Grunde die gleiche Frage ist, und der Gedanke der Compassion öffnet sich als ein Ort der Entfaltung dieser Frage.
Prof. Dr. Ryosuke Ohashi ist Fellow am Forschungsinstitut für Philosophie Hannover.
Mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen wir nachfolgend einen Kommentar von Herrn Prof. Dr. Ram Adhar Mall:
Nach der ersten Lektüre sind einige beipflichtende Kommentare und Fragen:
1. Dein Versuch die Anti-Natur in der Natur zu verankern sagt mir sehr zu. M.a.W. ist ‚Bewusst-sein‘ eine Unterkategorie der umfassenderen Kategorie ‚Natur-sein.
2. Wenn unsere menschliche Natur, unsere menschliche Gattung in dem großen Haushalt der kosmischen Natur fast gleichrangig eingebettet ist, stellt sich die Frage nach der besonderen Art und Weise dieser Verankerung. Auch wenn die menschliche Natur einen Riss in die große Natur hineinbringt, so ist nach Deiner These auch dieser Riss ein Teil der großen Natur.
3.In Berufung auch auf das technologische Wissen deutest Du auf einige Erscheinungen in der heutigen globalisierten Welt hin, die Probleme haben, den Geist loszuwerden, den sie riefen. Kann sein, dass dies dem Wahn einer anthropologischen Sonderstellungsgier verschuldet ist. Denn wie sonst sollte man erklären, dass der Menschen alles instrumentaliser bis auf die Menschen selbst. Kritiker sagen und dies nicht zu Unrecht, dass der Mensch seit Menschengedenken auch Menschen instrumentalisiert.
4.Der menschliche ‚Wissensvorsprung‘ ist unbestreitbar. Die Frage stellt sich jedoch, ob dieser Wissensvorsprung der Menschen die Menschen zu etwas verpflichtet. Ich meine ja, denn der Weg zwischen den Menschen und der Natur ist keine Einbahnstrasse. Wissen ist nicht nur Tugend, auch nicht nur Macht, auch nicht bloß Ohnmacht, sondern in einem eminenten Sinne Verantwortung.
5. Es zeugt von einem Hochmut des menschlichen Geistes, wenn er stets den Weg von Menschen zur Natur thematisiert und nicht den von der Natur zu dem Menschen. Du stellt sehr zu Recht fest, dass auch die Natur anwesend ist.
6. Dein Ausdruck „naturgemäße Gerechtigkeit“ ist noch für mich schillernd. Meinst Du dies in irgend einem ontologisierten, metaphysischen Sinne? Bei Lao Tzu liest man, dass Himmel weder weinst noch lacht, im Hinblick auf alles, was passiert. Kann diese ‚Unparteeilichkeit‘ der Natur die gesuchte Gerechtigkeit darstellen.
7.Eine Deiner zentralen Fragen scheint mir die nach der ‚Menschennatur‘ zu sein. Ich frage mich, ob eine gut begründete und auf irgend eine Art der Realisation angelegte Anthropologie bloß apriorisch verfahren kann und darf. Denn eine bloß apriorische Wesenslehre vernachlässigt sträflich die Macht des Empirischen. Ich rechne selbst die Realisation des Nirvana zu dem Empirischen im weitesten und tiefsten Sinne .
8. Sehr zu Recht erwähnst Du die beiden Wichtigsten Säulen des Mahajana – Buddhismus: Weisheit (Pranjna) und Comassion (Mahakaruna). Mich fasziniert immer wieder das Verhältnis der beiden. Belegt wird stets darauf hingewiesen, dass beide Wege : der Weg von Pranjna zur Karuna und der von Karuna zu Pranjna begehbar sind. Es hängt von der Fähigkeit und den Präferenzen der Rezipienten ab.
9. Du hast auf das Problem des Bösen mit den zwei Erklärungsversuchen hingewiesen. Zur Zeit lese ich ein Buch von dem Philosophen und Sanskritisten, B.K. Matilal über die Gestalt einer ‚indischen Religionsphilosophie‘, die eigentlich durch die Abwesenheit der Theodizee sich bemerkbar macht.
10. Die erste Wahrheit vom Leid (Eliade spricht von einem indischen Credo‘ Leid-Existenz Gleichung‘) ist erstens eine deskriptive, zweitens eine evaluative, weil allem die Unbeständigkeit innewohnt und drittens das Walten des Bedingtheitsnexus für alles, was entsteht, besteht und vergeht.(Pratitysamutapada). Die erste Wahrheit macht Sinn in Kombination mit der dritten. Die Frage nach der Entstehung des Bösen, der Sünde erübrigt sich im indischen Denken, weil ein Schöpfrtgott ausgestattet mit omipotenz, Omnipräsenz, Bahrhezigkeit niemals das Böse verantworten kann. Dies lese ich auch in Deinem Entwurf, der in einer Hinsicht zu Ende gedacht auf eine „So-Heit“ (Tathata) hinausläuft.
Dies sind einige noch unausgegorene, tentative Gedanken und Fragen.
Danke lieber Ram für Deine Bemerkungen zu den Punkten, an denen Du weiter als ich gedacht hast und denkst, wie immer. Deine Bemerkung 6 und 7 lassen mich besonders weiter nachdenken. Die erstere ist die Frage, ob die „naturgemäße Gerechtigkeit“ in meinem Sinne die „Unparteiligkeit der Natur“ bedeute, und die letztere ist der Hinweis darauf, dass die Realisation des „Nirvana“ zu dem Empirischen im weitesten und tiefsten Sinne gehört.
Wir sprechen auch darüber beim nächsten Treffen!
Danke!
Für den „sauberen, gelungenen Gedankengang“, den Hr. Ohashi uns präsentiert.
Auf brillante Art, wie man es schon von ihm kennt,
schafft er den früheren Denkversuch -schon beim Jakob Böhme in seinem „De tribus principiis“ gut gezeichnet (Die untrennbare Verbindung des Widerspruchsprinzips, das in der Natur wirkt)-, erneut zu berücksichtigen und zu beleuchten, sowie auch die Kernfrage der Wesensnatur des Menschen, mit allen Zusammenhängen zu entfalten.
Frage: Wo kann man mehr über „Die Antinatur in der Natur selbst“ lesen?
Kann man eventuell einen Vortrag auch in Österreich hören?
Sehr geehrte Frau Maria Rossana Honig-Erlenburg,
Vielen Dank für Ihre Meldung. Über den Gedanken der „Anti-Natur“ habe ich bisher nur einmal in einer japanischen Zeitschrift in noch unreiferen Form publiziert. Da der Gedanke auch jetzt im Gärungsprozess befindet, muss ich ihn einfach weiter pflegen. Vor jeder Gärung scheint mir allerdings eines von vorn herein evident zu sein: Wie die Anti-Natur in der Natur selbst liegt, so ist auch in jeder Anti-Natur die Natur zu finden. Selbst in der äußersten Misere muss das Rettende wachsen können. Im Tod das Leben, und im Leben der Tod. Dies ist der Gedanke der „Compassion“ in meinem und vielleicht auch im buddhistischen Sinne, de aber weiter gären gelassen werden muss, damit er kein bloßer Aphorismus bleibt.