Seit dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag hat hierzulande eine neue Diskussion über die Zukunft des Liberalismus begonnen. Es ist nicht die erste Diskussion in den letzten Jahren, die sich mit einer konstatierten Krise des Liberalismus beschäftigt. Schon im Gefolge der Finanzkrise gerieten vor allem wirtschaftsliberale Ideen in die Kritik. Auffällig an der aktuellen Diskussion ist, dass Liberalismus als politische Idee vor allem mit der FDP als Partei verbunden wird. Dabei werden politisch liberale Positionen auch jenseits dieser Partei vertreten, und von verschiedenen Parteien für sich in Anspruch genommen. Die Einflüsse liberaler Ideen sind darüber hinaus prägend für moderne Demokratien. In der Staatsform der „liberalen Demokratie“ sind zwei Ideenstränge, die freilich gewisse Reibeflächen haben, zusammengewachsen. Die „liberale Demokratie“ ist mittlerweile zum Idealtypus der Demokratie schlechthin geworden. Kernbestände liberalen Denkens wie die Abwehrrechte der einzelnen Bürger*innen gegen den Staat sind konstitutive Bestandteile demokratischer Ordnungen. In Anbetracht dieser Tatsache scheint es falsch, eine Krise des Liberalismus am Ausscheiden einer Partei aus dem Bundestag festzumachen. Dies gilt in besonderem Maße, da für das Wahldebakel der FDP auch mehrere Faktoren verantwortlich sind, von denen keiner mit der Popularität liberaler Einstellungen in Deutschland zu tun hat. Dennoch könnte ein solches Ausscheiden, wenn schon nicht Ursache, so doch Indikator für eine Krise liberaler Positionen sein.
Für die Entstehung einer solchen Krise gibt es mehrere Erklärungsansätze. So beispielsweise die kulturalistische Erklärung, der mit einer dezidiert westlichen Einstellung verbundene Liberalismus hätte sich in Deutschland nie wirklich durchgesetzt, Obrigkeitshörigkeit und Etatismus würden die politische Kultur noch immer beeinflussen, Sicherheit würde schlicht höher gewichtet als Freiheit. Eine andere Erklärung könnte mit der bereits in den 1950er getroffenen Feststellung Ernst Fraenkels zu tun haben, der sein Konzept des Neopluralismus auch vom Liberalismus abgrenzte, da dieser den einzelnen Menschen dem Staat gegenüberstelle, sich jedoch der Wichtigkeit gesellschaftlicher Gruppen nicht bewusst sei. Eine solche Grundausrichtung ist in der modernen Massendemokratie schlicht nicht mehr zeitgemäß und schafft es nicht, gesellschaftliche Probleme in vollem Umfang zu erfassen. Und schließlich gibt es die Ansicht, der Liberalismus hätte sich schlicht totgesiegt, seine Anhänger*innen hätten ohne die Bedrohung durch einen antiliberalen Gegner schlicht ihre Wachsamkeit aufgegeben. Die Wichtigkeit liberaler Grundprinzipien sei so schlicht nicht mehr zu vermitteln. Letztere Erklärung scheint plausibel in Anbetracht der Tatsache, dass der Missbrauch persönlicher Daten, Geheimdienst- und Überwachungsskandale im letzten Wahlkampf kaum eine Rolle spielten, die Diskussion um die Speisekarte in Kantinen jedoch zum vieldiskutierten Aufreger wurden. In einem Land, in dem die Bedrohung persönlicher Freiheit nach solchen oder vergleichbaren Kriterien priorisiert wird, scheinen die größeren Probleme individueller Freiheit gelöst oder das Problemempfinden dahin. Aber auch die anderen beiden Ansätze mögen ein Stück weit erklären, warum es um politisch liberale Positionen in Deutschland nicht zum Besten bestellt ist.
Fraglich bleibt trotzdem, ob diese Feststellung bedeutet, dass sich ein zuvor in Deutschland starker politischer Liberalismus in der Krise befindet. Oder ob die liberale Situation besser durch Erklärungsansätze erfasst wird, die davon ausgehen, dass politischer Liberalismus generell nie eine dominante Strömung war. Eine solche Position wird in dem kürzlich erschienenen Buch „Der Liberalismus der Furcht“ von Judith. N. Shklar eingenommen. Shklar geht in ihrem Buch entgegen der vorherrschenden Deutung davon aus, dass der politische Liberalismus in den letzten zweihundert Jahren sehr selten anzutreffen gewesen sei, und dass keinesfalls von einer „liberalen Moderne“ gesprochen werden könne. Ihr Liberalismusverständnis hat vollkommen andere Quellen und impliziert andere politische Handlungsnotwendigkeiten denn die bisher verbreiteten Ideen von politischem Liberalismus. Shklar stellt heraus, das Ziel des Liberalismus sei „diejenigen politischen Bedingungen zu sichern, die für die Ausübung persönlicher Freiheit notwendig sind“ (26). Während die theoretische Begründung eines politischen Liberalismus traditionell über den Verweis auf die Naturrechte oder den Potentiale der Bildung erfolgt, lehnt Shklar eine solche Legitimation als ahistorisch ab. Ihr Liberalismuskonzept leitet sich aus der Furcht ab, genauer von der Vermeidung der Unterdrückung der Schwachen durch die Starken. Die Furcht vor Folter, Verfolgung und Gewalt sei es, die, historisch aus der Erfahrung von Religionskriegen entstanden, solche liberalen Ansätze antreiben würde. Shklars politischer Liberalismus wird nicht von einem summum bonum definiert, er leitet sich ex-negativo von einem zu vermeidenden summum malum ab.
Ihr Verständnis von Liberalismus, dem sie selbst eine „intellektuelle Bescheidenheit“ unterstellt, ist keineswegs intellektuell schwach oder minimalistisch. Seine Herleitung erlaubt eine breite Adaption jenseits religiöser oder parteipolitischer Grenzen. Ein wichtiger Bestandteil in Shklars Konzept, das ihn in die Nähe sozialdemokratischer Ansätze rückt, ist die sozialstaatliche Absicherung der Bürger, die diesen die Teilnahme am politischen Leben ermöglichen soll.
Judith N. Shklars vergleichsweise kurze Schrift (in der deutschen Ausgabe umfasst der Kerntext des gleichnamigen Sammelbandes nur 40 Seiten) könnte mit seiner Besinnung auf das Wesentliche des Liberalismus, seine Kernelemente und historischen Motivationen, dazu beitragen, dem Liberalismus in Deutschland Aufwind zu verschaffen. Gleichsam wird wohl ein Teil des Konzepts selbst dazu führen, dass das Werk wohl nicht auf den Schreibtischen und Nachttischen allzu vieler Liberaler Parteigänger landen wird. Shklars Konzept wirf die Frage auf, ob ein politischer Liberalismus, der diesen Namen verdienen würde deswegen in der Krise ist, weil er erst noch zu entdecken wäre. Vielleicht könnte hier, analog zu Derridas „Demokratie im Kommen“, die Bezeichnung eines „Liberalismus im Kommen“ Verwendung finden?
Literatur:
Judith N. Shklar: Der Liberalismus der Furcht. Matthes und Seitz, Berlin, 2013
Meine Rezension des Buches im aktuellen FIPH-Journal finden Sie hier.
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