Britta Saal
Was sollte heute Moderne heißen?
Dieser Frage möchte ich im Folgenden aus einem interkulturell und postkolonial geprägten philosophischen Blickwinkel nachgehen. Vorausgeschickt sei ein Zitat Stuart Halls, dem jüngst verstorbenen jamaikanischen Begründer der Cultural Studies, das als Sinnbild für die modernen Machtverhältnisse sehr deutlich die interkulturelle und koloniale Dimension der Moderne gleichermaßen zum Ausdruck bringt:
Ich bin der Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse. […]
Dann gibt es neben mir Tausende andere, die der Tee in der Tasse selbst sind. […]
Und doch steht die Tasse Tee symbolisch für die englische Identität.[1]
Die Moderne, das haben vor allem die mittlerweile vielfältigen kritischen Auseinandersetzungen aus außereuropäischen kulturellen Kontexten deutlich gemacht, ist kein vorzugsweise europäisches Phänomen, und die weltweiten modernen Entwicklungen sind auch nicht lediglich Ableitungen der europäischen Moderne und ihrer Errungenschaften. Vielmehr betrifft die Moderne alle gegenwärtigen Menschen, Gesellschaften und Kulturen weltweit, und es gibt vielfältige moderne Entwicklungswege. Der Diskurs der Moderne ist de facto multiperspektivisch, in sich hybride, ambivalent und kann nur in dieser Mannigfaltigkeit angemessen erfasst werden.
Dass außereuropäische, vor allem aus den ehemals kolonisierten Regionen stammende Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit der Moderne in den euro-amerikanischen Modernediskussionen nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhalten oder sogar als irrelevant für den Diskurs erachtet werden, werte ich als Symptom der Furcht vor der Aufdeckung einer tief verankerten (neo-)kolonialen Haltung der westlichen Industrienationen im globalen Kontext. Tatsache ist, dass es unterschiedliche Erfahrungen bzw. verschiedene Arten der Begegnung mit der Moderne gibt. Und insofern die Erfahrung der Moderne seitens der Kolonisierten nicht eine des Fortschritts und der Progression, sondern eine der Ausbeutung, Beherrschung, Unterdrückung und Repression ist, kann man nicht sagen, die kolonisierten Regionen Lateinamerikas oder Afrikas seien nicht modern. Vielmehr zeigen gerade sie auf, was es heißt, durch Repression modern zu sein. Um also der Thematik der Moderne, als globales Phänomen, die aufgrund des Zusammenhangs von Moderne, Expansion und Kolonialismus grundsätzlich interkulturell verfasst ist, gerecht zu werden, muss die Erörterung global und interkulturell erfolgen und neben der progressiven auch die repressive Seite der Moderne berücksichtigen und thematisieren.
Aufgrund der unterschiedlichen Erfahrungshorizonte der Moderne ist gerade die Dekonstruktion und Revision moderner (europäischer) Konzepte und Begriffe notwendig, was ebenfalls nur interkulturell und unter Einbeziehung postkolonialer Perspektiven möglich ist. Vor allem der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu hat die Notwendigkeit einer „konzeptuellen Dekolonisierung“ philosophischer Begriffe betont und sich im Kontext der afrikanischen Philosophie dieser Aufgabe gestellt.[2] Auch Stuart Hall geht es darum, moderne (philosophische) Begriffe vom eurozentrisch dominierten Diskurs loszulösen bzw. zu „desartikulieren“ und „umzucodieren“, da diese Begriffe nicht „auf Dauer kolonisiert“ bleiben dürfen.[3] Für europäische PhilosophInnen heißt dies, im Rahmen ihrer Reflexionen den einschlägigen europäischen Kanon aufzubrechen und sich mit philosophischen Reflexionen afrikanischer, lateinamerikanischer, indigener, asiatischer etc. Autoren auseinanderzusetzen. Niemand kommt um die von Wiredu so genannte „due reflection“ – die gebührende Reflexion – herum.
Vor dem Hintergrund des zuvor Gesagten möchte ich hier nun vorschlagen, die Moderne heute als einen Verhandlungsraum aufzufassen, in dem (moderne) philosophische Konzepte polylogisch dekolonisiert und neu reflektiert werden. Insofern es hier um eine Blickverschiebung und um eine alternative Sichtweise der Moderne geht, in der die bisher ausgeschlossenen ‚anderen‘ Perspektiven auf die Moderne ausdrücklich einbezogen werden, und insofern damit eine alternative Position zur konflikt- und gewalthaften Moderne beansprucht wird, wähle ich den Ausdruck ‚Altermoderne‘ zur Bezeichnung einer solchen dekolonisierten Moderne im Sinne eines Verhandlungsraums. Dieser Vorschlag sowie der im Folgenden nur im Ergebnis vorgestellte Versuch einer Dekolonisierung dreier philosophischer Konzepte stehen hier zur Diskussion.
Zum Ersten möchte ich die moderne Rationalität auffassen als ‚altermoderne relationale Reflexivität‘. Relationalität bedeutet dabei, sich sowohl der eigenen (kulturellen) Partikularität als auch der interkulturellen Verbundenheit bzw. Verwobenheit bewusst zu sein, so dass im Denken eine grenzüberschreitende Verbindlichkeit möglich ist. Bedient man sich einer in diesem Sinne relationalen Vernunft, gelangt man schließlich zu einer relationalen Reflexivität, die geprägt ist durch den Willen zur Begegnung, durch Zuhören, durch Kritik und durch Selbstkritik. Eine solche spiegelnde Betrachtungsweise bedeutet grundsätzlich, von vielzähligen und verschiedenartigen Rationalitätsformen und Wissenskulturen auszugehen und mit diesen zusammen zu denken.
Zum Zweiten schlage ich vor, die moderne Subjektivität als ‚altermoderne dialogische Handlungs- und Verhandlungsmacht‘ aufzufassen. Ein dialogisches Subjekt stellt dabei eine dynamische Einheit dar, die im Rahmen von Kommunikationszusammenhängen kreiert wird. Auch wenn ein solcher Prozess krisenhaft sein und scheitern kann, so besitzt er dennoch ein ausgesprochen kreatives und produktives Potential. Insofern dialogische Subjekte keine idealen oder transzendenten Subjekte, sondern solche der Lebenspraxis sind, sind sie Handelnde und Verhandelnde, die ihren Subjektstatus durch Selbst(er)findung (Bhabha) und Positionierung (Hall) in Kontakt- und Verhandlungsräumen zwischen Kulturen immer wieder neu herausbilden.
Da es schließlich in globalen Verhandlungsprozessen darum geht, gültige Verbindlichkeiten unter besonderer Berücksichtigung der gegenseitigen Mitmenschlichkeit auszuhandeln, schlage ich zum Dritten vor, die moderne Humanität als ‚altermoderne verantwortliche Mitmenschlichkeit‘ aufzufassen. Der Bezugspunkt ist hier nicht mehr ein ‚idealer‘ Mensch, dessen Definitionen stets Ausschließungen beinhaltet haben, sondern sie bezieht sich auf alle Menschen weltweit. Eine solche inklusive (Mit-)Menschlichkeit hat sowohl Wohl, Würde und Rechte von Individuen im Blick, weitet den Blick jedoch gleichzeitig aus auf das Ziel eines friedlichen globalen Zusammenlebens.
Britta Saal promovierte 2012 an der Universität Bremen in Philosophie und ist derzeit freie Autorin und Redaktionsmitglied bei polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren. Ihre Forschungsinteressen sind unter anderem Interkulturelle Philosophie, moderne Philosophie und Ideenproduktion in Afrika und Japan, Postkoloniale Theorie, Gender Studies und Philosophieren mit Kindern.
Ausführlich bearbeitet wurde die Thematik des Beitrags in Britta Saals Dissertation, die unter dem Titel „Kultur, Tradition, Moderne im Spiegel postkolonialer Differenzbewegungen: Eine interkulturelle Kritik der Moderne“ 2013 im Mainz Verlag (Aachen) erschienen ist.
[1] Stuart Hall, ‘Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten’, in ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2 (Hamburg: Argument Verlag, 1994), S. 66-88, hier S. 74. Das englische Original erschien 1991.
[2] Kwasi Wiredu, Conceptual Decolonization in African Philosophy. Four Essays (Ibadan: Hope Publications, 1995).
[3] Stuart Hall, ‘Neue Ethnizitäten’, in ders., Rassismus und kulturelle Identität, a.a.O., S. 15-25, hier S. 22. Das englische Original erschien 1988.
(c) Britta Saal
Liebe Frau Dr. Saal,
haben Sie vielen Dank für Ihren Artikel. Ich habe eine Frage im Bezug auf folgende Textstelle:
„Dass außereuropäische, vor allem aus den ehemals kolonisierten Regionen stammende Verhandlungen und Auseinandersetzungen mit der Moderne in den euro-amerikanischen Modernediskussionen nicht die gebührende Aufmerksamkeit erhalten oder sogar als irrelevant für den Diskurs erachtet werden, werte ich als Symptom der Furcht vor der Aufdeckung einer tief verankerten (neo-)kolonialen Haltung der westlichen Industrienationen im globalen Kontext.“
Ich persönlich würde die Ausblendung postkolonialer Perspektiven aus der Modernediskussion eher auf Ignoranz denn auf Furcht zurückführen. Weshalb kommen Sie zu der Bewertung, dass das Ignorieren etwa außereuropäischer Perspektiven durch Furcht motiviert ist?
Herzliche Grüße
Dominik Hammer
Lieber Herr Hammer,
vielen Dank für Ihre Frage, die ich gerne beantworten möchte.
Selbstverständlich ist es zunächst einmal ganz offensichtlich Ignoranz, weshalb Positionen zur Moderne aus außereuropäischen und vor allem postkolonialen Perspektiven ausgeblendet oder nur marginal behandelt werden. Das sehe ich auch so. Ich denke jedoch, dass sich dahinter noch die Furcht befindet, angesichts der kritischen Aufdeckungen eingestehen und zugeben zu müssen, auf welchen Gewaltakten die ‚großartigen modernen Errungenschaften‘ beruhen. Zumindest müsste man sich der Diskussion aktiv stellen. Auch müsste die Kolonialherrenmentalität von Grund auf hinterfragt werden und man müsste eingestehen, dass sie immer noch den Antriebsmotor sehr vieler gegenwärtiger westlicher Strategien im globalen Geschehen darstellt.
Damit man sich nun einer solchen grundlegenden Selbstkritik nicht stellen muss, vor der man sich letztlich fürchtet, weil das Selbstbild dadurch grundsätzlich in Frage gestellt wird, ignoriert man kurzer Hand die kritischen außereuropäischen Modernereflexionen.
Ich hoffe, meine Bewertung wird Ihnen mit dieser Antwort etwas klarer.
Herzliche Grüße,
Britta Saal
Liebe Frau Dr. Saal,
vielen Dank für Ihre Antwort. Ich verstehe diesen Punkt nun besser. Eine solche Form der Schuldabwehr durch Ignorieren halte ich für eine durchaus plausible Erklärung für das angesprochene Phänomen.
Herzliche Grüße
Dominik Hammer